Recherche 30. Mai 2021, von Marius Schären

Im Kirchgemeindehaus die Vulva mit liebevollem Blick erleben

Sexualität

Ein Workshop in kirchlichen Räumen zum weiblichen Sexual­organ: Dieses Angebot gibt es in Lauterbrunnen. Die Gründe der Organi­satorin für den Anlass sind vielschichtig.

Im Lauterbrunnental grüssen die Eisriesen Eiger, Mönch und Jungfrau von oben herab. Berglandwirtschaft und Tourismus prägen die Landschaft und Gesellschaft. Wundervolle Aussichten von den Gipfeln, und jetzt kommt im Tal eine neue Aussicht hinzu. Mit «BelleVU(e)LVA» will die Pfarrerin Olivia Raval den Blick auf die weibliche Sexualität lenken – und zwar lie­bevoll und explizit auch aufs Geschlechtsorgan, die Vulva.

Denn selbst wenn die meisten nicht mehr von «dem da unten» reden: «Sexualität ist zwar verbreitet ein viel diskutiertes Thema, aber wirklich intim wird nicht darüber gesprochen», sagt Raval. Und sie ortet viel zu wenig auch anatomisches Wissen. Gerade dieses würde aber helfen herauszufinden, was Lust und Spass macht, ist die 32-jährige Pfarrerin überzeugt. Zudem würde es das Selbstbewusstsein stärken – und das erachtet sie als dringend nötig: «Ich höre viele haarsträubende Geschichten von Frauen, die nicht wagen, ihre Bedürfnisse zu äussern, und stattdessen die Strategie ‹Augen zu und durch› wählen.»

Vom Rat durchgewinkt

All das sind Gründe, weshalb die Pfarrerin zusammen mit der Hebamme Dana von Allmen am 19. Juni «BelleVU(e)LVA» organisiert. Der Anlass für Frauen steht ganz im Zeichen der weiblichen Sexualität. Dazu kommen nach Lauterbrunnen die Sexologin und Systemtherapeutin Veronika Schmidt und die Österreicherin Sara Ablinger für den «Vulva Power Workshop» am Nachmittag. Auf die beiden sind Raval und von Allmen bei Recherchen nach spannenden Personen gestossen. An Schmidt beeindruckt die Pfarrerin besonders, dass sie die Themen im freikirchlichen Umfeld anspricht. Und Ablinger sei ihr in einer TV-Dokumentation sofort sym­pathisch gewesen.

Sexualität ist Teil unseres Seins, des Seins aller Geschlechter, die Gott geformt hat.
Olivia Raval, Pfarrerin

Eine verbreitete Scham vor der Teilnahme scheint es nicht zu geben: Der Workshop sei seit Längerem ausgebucht, sagt Raval. Auch beim Kirchgemeinderat stiess sie auf offene Ohren, er habe auf ihre Konzepteingabe unkompliziert reagiert mit «einfach machen». Einzig auf der Suche nach finanzieller Unterstützung stiessen die Organisatorinnen bei regionalen und kantonalen kirchlichen Stellen an. Dafür gabs nun Geld vom Lions Club, von der Bank EKI, der Einwohnergemeinde und dem Frauenverein Lauterbrunnen. «Das brauchte es, weil wir doch den Anlass mit den beiden Profis für breitere Kreise erschwing­lich machen wollten», schätzt sich Olivia Raval glücklich.

Positive Reaktionen

Für einen kirchlichen Anlass überrascht das Thema. Doch habe sie bisher keine negativen Rückmeldungen vernommen, sagt die 32-Jährige: «Häufig sind die Leute vor allem überrascht, oder sie äussern sich positiv.» Raval ist nicht bekannt, dass in anderen Kirchgemeinden bereits ähnlich explizite Veranstaltungen zum Thema weibliche Sexualität stattfanden. Dabei ist es geradezu wörtlich naheliegend, findet die Pfarrerin: «Wir sind vom Anfang bis zum Schluss unseres Lebens als sexuelle Wesen geschaffen. Sexualität ist Teil unseres Seins, des Seins aller Geschlechter, die Gott geformt hat.»

Und es sei ein biblisches Thema. «Wenn man mal einen unverstellten Blick ins Hohelied wirft, finde ich das als Frau durchaus sehr ermutigend und positiv, gerade weil die Frauenfigur sich in dieser Hinsicht von niemandem bevormunden lässt», sagt die junge Pfarrerin. Ausserdem dürfte jetzt innerhalb der Kirche durchaus mal Gegensteuer gegeben werden, wenn man schaue, wie viel Leid deren Umgang mit der Sexualität gebracht habe – und zwar vor allem den Frauen. «Da wurde vieles richtiggehend verchachlet», findet Raval.

Männer bräuchten es auch

Die Veranstaltung «BelleVU(e)LVA» ist nur für Frauen. Auf die Frage, ob Männer denn schon genügend Bescheid wüssten, lacht Olivia Raval zuerst und sagt dann energisch: «Nein, die Männer müssten unbedingt auch mehr erfahren, das ist ganz klar.» Aber sie hätten sich beschränken und einfach etwas von Frauen für Frauen tun wollen. Die Pfarrerin würde es aber begrüssen, wenn sich möglichst viele fürs Thema interessierten und aktiv würden. «Es wäre schön, andere Kirchgemeinden würden nachziehen», sagt sie.