Eingebettet zwischen sanften Hügelketten, die sich ocker- und grünfarben übers Land erstrecken, liegt Georgiens Hauptstadt Tbilissi, zu Deutsch Tiflis. Die fruchtbaren Böden liefern neun Monate im Jahr frisches Gemüse und Obst, aber die Landwirtschaft bräuchte dringend Investitionen.
Von den Krediten über 200 Millionen Dollar, die seit den 90er-Jahren vom IWF und der Weltbank ins Land flossen, sind heute bloss ein paar Prestigebauten wie die Konzerthalle und die Friedensbrücke, von den Einheimischen Always Ultra genannt, sichtbar. Ein paar Strassen weiter halten Blumenverkäuferinnen ihre Sträusse in aufgeschnittenen Petflaschen frisch.
Volk und Glaube. Seit 2004 ist Georgien mit der Nato verbunden, was 2008 den bewaffneten Konflikt mit Russland heraufbeschwor. Streitpunkt sind bis heute die zwei autonomen Republiken Abchasien und Südossetien. Seit 2014 ist Georgien assoziiertes EU-Mitglied. Von Ost und West in die Zange genommen, versucht das Land, seine nationale Identität zu behaupten.
Ein wichtiger Faktor spielt dabei die orthodoxe Apostelkirche. Ihre Wurzeln speisen sich aus dem byzantinischen Reich. Bereits im 4. Jahrhundert erklärte Iberien, das damalige Land im Südosten des heutigen Georgien, das Christentum zur Staatsreligion.
Religion im Alltag. Seit 2004 symbolisiert die Tsminda-Sameba-Kathedrale mit ihrer vergoldeten Kuppel die Einheit von Volk und Christentum. Die Priester mit ihren schwarzen Talaren und langen Bärten sind in der Stadt allgegenwärtig.
Gotteshäuser werden spontan zum Gebet aufgesucht, wobei die Frauen ihr Haupt bedecken und einen Rock tragen. Mütter nehmen die Kleinsten auf dem Arm mit zum Gebet; sie bekreuzigen sich vor den Ikonen und küssen sie als Zeichen des Respektes. An Samstagen wird in der Altstadt im Akkord geheiratet.
Strikter Kurs. Der Einfluss des Westens ist noch wenig sichtbar. Dunkin Donuts ist eine der ersten Fastfoodketten. Ausländische Textilien finden sich hauptsächlich im Luxussegment. Während sich die einen auf der Busfahrt zum Markt beim Anblick einer Kapelle bekreuzigen, feiern andere zu importierter Technomusik. Angeheizt wird der Kulturclash von NGOs, die einen westlichen Lifestyle propagieren, gekoppelt an Anliegen wie Umweltschutz und globale Fairness.
Die Kirche hält aber strikt an ihrem Kurs fest: «Keine Erneuerungen», antwortet Eldar Bubulashvili, Professor für Kirchengeschichte an der theologischen Fakultät in Tbilisi, knapp auf die Frage, wie die Kirche auf westliche Einflüsse reagiert. 2013 führte die Kirche die Gegendemonstration zu einer Kundgebung für die Rechte Homosexueller an; die Folge waren gewalttätige Übergriffe auf die Aktivisten.
Lob des Rebbergs. Die Schriftstellerin Anna Kordzaia-Samadashvili, die in ihren Romanen auf unkonventionelle Weise zwischenmenschliche Beziehungen und Sexualität verhandelt, weiss von keinen Repressionen zu berichten, auch wenn hinter vorgehaltener Hand allerlei gemunkelt wird.
Ihre Vorfahren waren Mönche und Priester, aber sie selbst bezeichnet sich nicht als Gläubige. Der Glaube klingt in ihren Büchern als gesellschaftliche Realität jedoch stets mit, wie im 2016 auf Deutsch erschienenen Roman «Wer hat die Tschaika ermordet?».
Gesang und Trinksprüche. Für den Anthroposophen Giorgi Mamardashvili manifestiert sich die orthodoxe Mentalität im Alltag. Das Keuschheitsgebot und der starke Familienzusammenhalt prägen bis heute die Gesellschaft. Die höchste Maxime sieht er in der goldenen Regel verankert: «Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.»
Mamardashvili geniesst öfters die georgischen Gesänge, die in keinem Gottesdienst fehlen dürfen. «Shen khar Venakhi» beispielsweise ist der heiligen Maria gewidmet und beschreibt die Schönheit eines Rebberges. Dieses Lob findet seine Fortsetzung in Form von hochritualisierten Trinksprüchen an jeder Tafelrunde.
Die Textilkünstlerin Nino Kvrivishvili, die im Rahmen der Stiftung Binz39 einen Künstleraustausch in Zürich absolviert, sieht im Glauben den menschlichsten Ausdruck verwirklicht. In ihren Arbeiten greift sie alte Textilmuster auf und interpretiert diese neu. «Die Tradition», sagt sie, «ist das Gesicht, das wir heute tragen.»
