Schwerpunkt 18. April 2020, von Sabine Schüpbach Ziegler

Brutal ausgebremst, aber auch liebevoll getragen

Neubeginn

Kurz vor Silvester 2018 verunfallte Andreas Cabalzar beim Skifahren schwer. Jetzt kehrt er ins Pfarramt Erlenbach zurück – im Rollstuhl und unterstützt von seiner Kirchgemeinde.

Es ist der 19. Januar 2020, ein Sonntagmorgen in der Kirche in Erlenbach. Andreas Cabalzar sitzt im Chor im Rollstuhl, vor ihm steht ein Notenständer mit dem Predigtmanuskript. Bevor die Orgel einsetzt, zieht der 57-Jährige seinen Bündner Talar, der vorne offen ist, fester um die Schultern, als hülle er sich in ­einen schützenden Mantel ein.

Heute ist Cabalzars erster Gottesdienst nach dem Skiunfall vor einem guten Jahr. Seit dem fatalen Tag ist er vom vierten Brustwirbel an abwärts gelähmt. Er wirkt verletztlich. Dieser Eindruck verfliegt jedoch, als er spricht. Der Pfarrer sagt mit kräftiger Stimme: «Guten Morgen, liebe Gemeinde.» Er klingt präsent und souverän.

In der Predigt spricht er seine Lebenssituation an. Er konzentriere sich auf das, was er als Querschnittgelähmter noch kann, statt auf das, was nicht mehr geht. «Sonst erstarre ich.» In diesem Sinn interpretiert er auch die Geschichte von Soddom und Gomorrah aus der Bibel. Lots Frau wird zur Salzsäule, weil sie zur zerstörten Stadt zurückschaut. «Ein Leben im Rückspiegel führt zu Erstarrung», sagt der Theologe.  

Team Cabalzar in Aktion

Nach dem Ausgangsspiel der Orgel legt Sigrist Rolf Zangger eine Metallrampe über die Stufen zum Chor, Kirchenpfleger Heinrich Zweifel schiebt Cabalzar hinunter, bevor der Pfarrer selber zum Ausgang fährt. Die 70 Gottesdienstteilnehmenden warten in einer Schlange, um ihm die Hand zu schütteln.

Derweil besprechen im Chor der Sigrist, der Kirchenpfleger und Kirchenpflegepräsident Beat Steiner den Gottesdienst. «Wir sind zufrieden, der Start ist geglückt», sagt Steiner. Die Rampe hat der Sigrist beim Schulhausabwart ausgeliehen, nun wird die Kirchgemeinde selbst eine anschaffen. Steiner betont: «Unser Pfarrer kann die Arbeit schrittweise wieder aufnehmen, weil die ganze Kirchgemeinde mithilft. Dafür bin ich sehr dankbar.» Auch Andreas Cabalzar bewegt die Solidarität. «Ich erfahre von der Gemeinde Empathie, Respekt und mir Zugeneigtsein, das berührt mich tief.»

Als alle Leute weg sind, montiert er die motorische Zughilfe an den Rollstuhl, um heimzufahren. Nach ­ihrer Marke nennt er sie «Amigo»: Freund. «Mit meinem Amigo bin ich schnell, das ist cool», sagt der Pfarrer und lässt seine Hand mit einem lauten «Pfff» durch die Luft sausen. Man spürt sofort: Dieser Mann mag die Geschwindigkeit.

Körper ist Nummer eins

Schnelligkeit und Dynamik haben Cabalzars Leben vor dem Skiunfall geprägt. Seit 27 Jahren ist er Pfarrer in Erlenbach. Er initiierte zahlreiche diakonische Projekte wie ein Haus für Männer in Trennung und Wohnformen für depressive Teenager. Er spielte Handball, malte, ging oft auf Reisen. «Ich hatte ständig neue Ideen», erinnert er sich. «Dann kam der Unfall, päng! Er hat mich brutal ausgebremst.»

Der Theologe sitzt nun am grossen Esstisch in seiner neuen Wohnung in Erlenbach, wo er seit September 2019 selbstständig lebt. Es ist Dezember, einen Monat vor seinem ersten Gottesdienst. Alle 20 Minuten stemmt sich Cabalzar im Rollstuhl hoch, um Druckstellen zu vermeiden. Er sieht müde aus.

«Es ist bemühend, dass der Körper so viel Aufmerksamkeit absorbiert», sagt der 57-Jährige. «Früher war mein Körper ein guter Diener, nun ist er der Herr in meinem Lebenshaus. Schaue ich nicht zu ihm, straft er mich.»

Im schlimmsten Fall könnte er einen Decubitus bekommen, das ist ein Druckgeschwür. Allgemein sei sein Körper viel empfindlicher, ­eine Schürfwunde wird innert Tagesfrist zur Eiterwunde. Das Aufstehen am Morgen bezeichnet Cabalzar als «Horror». «Daran werde ich mich nie gewöhnen.» Mindestens zwei Stunden braucht er für Körperpflege und Ankleiden.

Das Mühsame an seiner Situa­tion beschönigt er nicht. Trotzdem sieht er mehr Positives als Negatives. Der geschiedene Pfarrer kann selbstständig leben. Vom grossen Pfarrhaus am See zog er in eine Wohnung der Kirchgemeinde, die rollstuhlgängig gemacht wurde. Er kauft selber ein, kocht, besucht mit S-Bahn und Zug Freunde in Zürich und anderen Städten, war alleine in Barcelona. Seine Stimme wird lauter: «Ich will mir die grösstmögliche Autonomie zurückerobern», sagt er ganz dezidiert.  

Eigene Identität neu finden

Viele Medien haben sich für Andreas Cabalzars Schicksal interessiert. Sie beschrieben seine Erfahrungen im Paraplegikerzentrum Nottwil, wo er sich neun Monate zur Erstversorgung und Rehabilitation aufhielt: von den gewaltigen Schmerzen nach dem Unfall, dem Schock, der Wut, der Angst, der Identitätskrise, dem Erlernen eines neuen Umgangs mit dem Körper. Die wichtigsten Bezugspersonen waren eine französische Ärztin und ein walisischer Topmanager, die auch wegen eines Unfalls querschnittgelähmt waren. «Unsere Schicksalsgemeinschaft trug mich», erzählt Cabalzar.

Es ist bemühend, dass der Körper so viel Aufmerksamkeit absorbiert. Früher war er ein guter Diener, heute ist er der Herr in meinem Lebenshaus.
Andreas Cabalzar

Zukunft ist noch unsicher

Sehr wichtig sei auch die «unglaubliche Loyalität» seiner Kirchenpflege gewesen. Direkt nach dem Unfall fuhr Präsident Steiner nach Nottwil. «Du kommst als Pfarrer zurück in deine Gemeinde», sagte er zu Cabalzar, als der noch bewegungsunfähig unter Morphium im Bett lag.

Erzählt Steiner davon, schwingt eine fast väterliche Fürsorge mit. «Ich wollte Andi eine Perspektive geben.» Der ehemalige Banker hielt Wort und organisiert bis heute alles für Cabalzars Rückkehr. Das sei für Kirchenpflege und Mitarbeitende ein grosser Aufwand, räumt er ein. «Aber in der Kirche geht es schliesslich darum, anderen zu helfen.»

Die Gemeinde erlebte nach Cabalzars Ausfall verschiedene Pfarrer, die unkompliziert einsprangen: den ehemaligen Dorfpfarrer Reinhard Egg und die Herrliberger Pfarrer Matthias Dübendorfer und Alexander Heit. Im Frühling 2019 nahm Stina Schwarzenbach als Cabalzars Stellvertreterin ihre Arbeit auf. Sie sagt: «Das gab Stabilität.»

Welches Stellenpensum Cabalzar in Zukunft übernimmt, ist noch offen. Es ist von seinem IV-Status abhängig, der derzeit definiert wird. Der Kirchenpflegepräsident Steiner weiss, dass sich manche Gemeindemitglieder Klarheit wünschen, wie es weitergeht. Er bedauert, dass er sie zurzeit noch enttäuschen muss. «Auch ich empfinde die Situation als Führen in unsicheren Lagen», sagt der ehemalige Oberst in militärischer Sprache.

Bewahrung im Unglück

Der Pfarrer selbst hätte auch gerne Gewissheit. Doch er muss sich gedulden. Während seine Stellvertreterin voll weiterarbeitet, gestaltete er vor der Corona-Krise pro Monat einen Gottesdienst und bei Bedarf eine Abdankung. Und er gab wieder Konfirmationsunterricht, den die Gemeinden Erlenbach und Herrliberg gemeinsam durchführen.

Darum ist er an einem Abend im Februar dabei, als sich dreissig Konfirmandinnen und Konfirmanden auf einen Besuch der Freikirche ICF einstimmen. Mit Jugendarbeiterin Nicole Flückiger, die während Cabalzars Abwesenheit den Unterricht seitens Erlenbach leitete, und den Herrliberger Pfarrern Heit und Dübendorfer. In der Diskussion fordert Cabalzar die Jugendlichen heraus. «Was denkst du?» – «Ich möch­te deine Meinung hören!» Er ist wieder der präsente, wortgewandte Theologe. Und der freiheitsliebende: Mit seinem Amigo saust er anschliessend im Wollpullover durch den Nieselregen nach Hause.

Doch damit ist Pause, seit sich die Lungenerkrankung Covid-19 ausbreitet. Weil seine Lungenfunktion aufgrund der Querschnittlähmung beeinträchtigt ist, zählt Cabalzar zur Risikogruppe. Social Distancing ist für ihn extrem wichtig.

Am Telefon klingt seine Stimme kräftig. Den Glauben hat er durch den Unfall nicht verloren. Zweifel an Gott habe er immer mal wieder, aber nicht wegen des Unfalls, sagt er. Vielmehr fühle er sich bewahrt: «Mein Gott hat mich in der existenziellen Bedrohung geschützt und gehalten, dass ich nicht ganz zerbrochen bin.» Heute verspürt Cabalzar ein «ruhiges, gelassenes Grundgefühl», das er früher nicht gekannt habe. Der Theologe hält jedoch fest: «Wenn ich könnte, würde ich den Unfalltag aus meiner Biografie streichen. Subito!»

Beiträge zur Corona-Krise

Die Kirchgemeinden Erlenbach und Herrliberg gestalten Beiträge in Wort und Musik zur Corona-Krise. Auch Andreas Cabalzar macht mit.

www.rallentando.ch

Paraplegiker kehren oft ins Berufsleben zurück

Rund 300 Personen sind jedes Jahr in der Schweiz neu von einer Querschnittlähmung betroffen. 80 Prozent sind Männer. Hauptursache sind Un­fälle, aber auch Krankheiten. Eine Querschnittlähmung tritt auf, wenn die Nervenbahnen im Rückenmark verletzt wurden. Die unterhalb der Verletzung liegenden Extremitäten werden gelähmt. 160 bis 200 Personen jährlich werden wie Andreas Cabalzar im Paraplegikerzentrum Nottwil erstversorgt. Sie verbringen sechs bis neun Monate dort, bevor sie, so möglich, wieder nach Hause zurückkehren und schrittweise in die Arbeit einsteigen oder eine Umschulung beginnen.

Solidarische Arbeitgeber

Das Beispiel des Erlenbacher Pfarrers sei repräsentativ, sagt Stefan Staubli, Leiter Soziale und Berufliche Integration des Paraplegikerzentrums. 61 Prozent der erwerbstätigen Patientinnen und Patienten kehren ins Erwerbsleben zurück. Ausschlaggebend für eine erfolgreiche Integration sind laut Staubli nebst der Art der Verletzung und den körperlichen Begleitsymptomen das Berufsprofil und die Persönlichkeit der Patienten. «Wer mit Rückschlägen gut umgehen kann, hat bessere Chancen, wiedereinzusteigen», erklärt Staubli. Resilienz lautet der Fach­begriff für diese wichtige Fähigkeit. In Nottwil gleist Staubli die Berufsintegration jeweils unmittelbar nach einem Unfall auf. «Das gibt dem Patienten Zuversicht, aber auch dem Arbeitgeber, der oft viele Fragen hat.» Der Erlenbacher Kirchenpflege und der Landeskirche stellt Staubli ein sehr gutes Zeugnis aus. «Sie haben vorbildlich reagiert und waren hilfsbereit, ohne einen Moment zu zögern.» Das erlebe er jedoch auch sonst, betont er. «Manchen Unkenrufen zum Trotz ist der Solidaritätsgedanke immer noch stark ausgeprägt in der Schweizer Wirtschaft.»

Runder Tisch alle zwei Monate

Auch Rudi Neuberth von der Zürcher Landeskirche lobt die Kirchgemeinde.  Als Leiter der Personalführung muss er immer wieder erkrankte oder verunfallte Pfarrerinnen und Pfarrer wiedereingliedern. «Das gelingt nur, wenn die betroffene Pfarrperson, die Kirchenpflege und die Landeskirche wollen und am gleichen Strick ziehen», weiss er. Alles sei in Erlenbach gegeben. Jeden zweiten Monat findet ein von Neuberth einberufener runder Tisch statt mit Cabalzar und seiner Stellvertreterin, den Verantwortlichen der Kirchenpflege, Stefan Staubli vom Paraplegikerzentrum und dem ­Case-­Manager der Versicherung. Besprochen wird jeweils der Stand der beruflichen Integration. «Ziel ist, den Einstieg so behutsam zu gestalten, damit er langfristig gelingt, und die Bedürfnisse der Gemeinde im Auge zu behalten», erklärt Neuberth.