Schwerpunkt 14. April 2021, von Christian Kaiser

«Die geplante Rekonstruktion leuchtet mir nicht ein»

Architektur

Die Zürcher Architektin Pascale Guignard hält wenig von der Idee, dem Brand der Notre-Dame  ein Denkmal zu setzen, und vom Fällen von alten Eichen für das Dach gar nichts.

Notre-Dame wurde in zwei Jahrhunderten erbaut. Präsident Emmanuel Macron hatte versprochen, Notre-Dame innert 5 Jahren wieder aufzubauen. Jetzt sollen es 20 werden. War Macrons Versprechen Grössenwahn oder sind wir heute technisch so viel weiter? 

Pascale Guignard: Natürlich kann man heute mit einem Pneukran ein Dachgestühl einfach hochheben oder mit zwei Helikoptern etwas in der Werkstatt Vorgefertigtes aufsetzen – das Tempo ist heute ein anderes. Sicher hätte es zeitgemässere und noch schneller realisierbare Lösungen gegeben. Auch aus Holz: beispielsweise in der Form verleimter Brettschichtträger statt mit Balken aus ganzen Baumstämmen. Man kann sich bei dieser Restauration schon fragen, ob es wirklich nötig ist, den Dachstock möglichst originalgetreu zu reparieren und dafür 1000 alte Eichen zu fällen. 

Wird hier also an der falschen Stelle denkmalgeschützt? 

Klar muss man das Steingewölbe reparieren, damit es statisch wieder hält. Aber das ergibt ja dann den von innen her einsehbaren Kirchenraum. Darüber braucht es eine Konstruktion für ein Dach mit Ziegeln oder sonst eine Abdeckung, welche die Innenräume vor Wetter und Regen schützt; optisch ist der Dachstock also nicht sichtbar, sondern hat die technische Funktion, das Dach zu halten. So war das von Anfang an gedacht. Die geplante Rekonstruktion leuchtet mir darum nicht ein: Solche Kathedralen sind über die Jahrhunderte immer weitergebaut worden, und immer haben die Baumeister dafür auch die aktuelle Technik angewendet.

Wie soll man überhaupt mit einem solchen Schaden umgehen? 

Für mich gibt es zwei unterschiedliche Arten der Zerstörung. Wenn wie in Paris während einer Renovation der Funke springt, also ein Baustellenunfall der Grund ist. Auch wenn der Brand noch so spektakulär war, ist ein Missgeschick die Ursache, muss man das der Nachwelt architektonisch nicht vermitteln, dafür braucht es kein sichtbares Zeichen.

Am Anfang der architektonischen Lösungssuche sollte das Warum der Zerstörung stehen.

Und für welche Katastrophen brauchen wir sichtbare Zeichen? 

Wenn ein terroristischer Akt oder eine Brandstiftung die Ursache ist wie bei der Kathedrale in Chartres oder die Zerstörung im Krieg wie bei der Gedächtniskirche in Berlin, ist das eine ganz andere Ausgangslage. Am Anfang der architektonischen Lösungssuche sollte folglich das Warum der Zerstörung stehen: Ist das etwas, das man überliefern will oder nicht? Notre-Dame ist für mich nicht der Ort, wo es Sinn macht, die Zerstörung in irgendeiner Form hervorzuheben beziehungsweise zu belassen.

Es gab ja verschiedene Projekte für eine «zeitgenössische architektonische Geste» wie zum Beispiel eine farbige Glaskuppel als Aufsatz.

Das finde ich wenig sinnvoll: Die Grundkonstruktion dieser Kathedrale war ja gegeben und die war so, dass kein Licht von oben kommt. Nur weil es gebrannt hat, das Licht von oben einfliessen zu lassen, finde ich abstrus. Von den Proportionen her war der Bau anders gedacht und stimmte so.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten für den Umgang mit baufälligen historisch gewachsenen Gebäuden: Abbruch und Neubau, das Alte belassen und modern ergänzen oder originalgetreue Restauration – wozu tendieren Sie?

Bei der Berliner Gedächtniskirche war der Ansatz: Man belässt die Ruine und baut daneben etwas Neues, Ergänzendes, fügt also ein Ensemble als Mahnmal zusammen. Das halte ich für interessant. Was ich hingegen weniger verstehe ist die Lösung bei der Dresdner Frauenkirche: Man belässt 50 Jahre lang die Trümmer als Mahnmal stehen und bildet sie danach 1:1 zu wieder nach. Natürlich ist das heute technisch möglich, aber es ist schon etwas absurd. Hingegen gibt es auch Lösungen, bei der die Fassade wiederhergestellt wird, in den Proportionen und im Öffnungsverhalten, aber vereinfacht und mit anderen Materialien. Hans Döllgast etwa hat nach dem Krieg bei der Alten Pinakothek in München so gearbeitet: mit Bruchstein zerstörter Häuser und reduziert auf die wesentlichen Elemente. Auf eine purifizierte Art, welche die Würde des Gebäudes belässt, aber die Verletzung in der Aussenhaut noch zeigt. Das ist für mich ein guter Ansatz. Chipperfield hat das beim Neuen Museum in Berlin ähnlich gemacht. So eine «Übersetzungskunst», die auch den gegenwärtigen Zeitgeist abbildet, finde ich spannend.

Und was hiesse das nun in Bezug auf Notre-Dame? 

Notre-Dame ist insofern anders, als – ausser dem Turm von Viollet-le-Duc – nichts Essenzielles kaputt ging.

Dieser erst im 19. Jahrhundert errichtete Spitzturm soll in seiner originalen Konstruktion wieder auferstehen.

Ja. Das Türmchen hätte man als Wettbewerb ausschreiben und noch einmal ganz neu machen können. Weil der ja auch nicht original war, obwohl natürlich auch wertvoll und denkmalgeschützt. Der Spitzturm hätte wohl eine neue Kreation vertragen, sozusagen als kleine Erinnerung an den Brand.

Wie Notre-Dame wieder aufgebaut wird

Domdekan und Baustellenleiter Patrick Chauvet geht von rund 20 Jahren Bauzeit aus. Trotzdem soll am 15. April 2024, genau fünf Jahre nach dem Brand, im Kirchenschiff wieder die erste Messe abgehalten werden. Unklar ist, ob die nach dem Brand eingesammelten 850 Millionen Euro Spendengelder ausreichen werden, um die zerstörten Teile wiederherzustellen: Die Kathedrale hatte im Feuersturm vom 15. April 2019 ihr Dach, den im 19. Jahrhundert nachträglich aufgesetzten Spitzturm (la flèche), einen Teil des Gewölbes und ihre Uhr verloren. 

Bis Anfang April sind in Wäldern in ganz Frankreich bereits über 1000 Eichen gefällt worden. Die Fällaktionen der alten Bäumen führten zu Protesten von Umweltschützern. Die Stämme trocknen derzeit; die aus ihnen gewonnenen Balken sollen später wieder die Überquerung des Querschiffs bilden sowie zur Rekonstruktion des Spitzturms dienen. Bisher mussten die intakten Teile der Kathedrale gesichert und von giftigen Substanzen wie tonnenweise geschmolzenem Blei befreit werden. Diese Arbeiten sind noch immer nicht abgeschlossen: Der Wiederaufbau der Notre-Dame in Paris soll im Winter 2022 starten. 

Unmittelbar nach dem Brand hatte es heftige Debatten darüber gegeben, ob die Kathedrale möglichst originalgetreu restauriert oder modern instandgesetzt werden solle. Der französische Staat ist Eigentümer von Notre-Dame. Präsident Macron hatte zunächst eine «zeitgenössische architektonische Geste» in Aussicht gestellt, und es mangelte in der Folge nicht an spektakulären Vorschlägen: ein Turm aus Kristallglas oder Titan, eine Flamme, die in den Himmel über Paris ragte oder ein Eichenwald, der auf dem Dach wachsen sollte, hatten Architekten u.a. vorgeschlagen. 

Dagegen regte sich Empörung der Öffentlichkeit und Präsident Macron lenkte schliesslich ein: Er versprach innert fünf Jahren eine möglichst originalgetreue Rekonstruktion, wie sie den nationalen Experten für Architektur und Denkmalschutz vorschwebte, inklusive Dach mit Eichengebälk wie im Ursprungszustand. Auch davon ist man im März 2021 jedoch wieder abgekommen: Das Balkenwerk des Kirchenschiffs und des Chors würden nur noch in ähnlicher Form wieder entstehen. Lediglich die für die Struktur und das Erbe des Gebäudes relevanten Elemente würden wiederhergestellt. Der bewilligte Entwurf für die Reproduktion des mittelalterlichen Dachgebälks soll nun aber immer noch dessen «formelle Qualitäten» und seine «historische Tiefe» abbilden.

Die Restauration verschlingt Unsummen. Nicht einmal die eingesammelten Spenden von 850 Millionen Euro sollen reichen.

Wenn man alle Sparmöglichkeiten ausschöpfen würde, bliebe sicher etwas übrig: Man könnte den Rest anderweitig verwenden, zum Beispiel für Essensausgaben. Ohne die Eichen käme es wohl einiges günstiger.

Inwiefern spielt das Thema Nachhaltigkeit beim Kirchenbau eine Rolle? 

Möglichst billig ist zum Glück passé. Man baut wieder robuster, haltbarer. Holzbau liegt sicher im Trend. Das ist etwas, das wir uns auch bei unserer aktuellen Wettbewerbseingabe für die Kirche Hirzenbach überlegen müssen: eine moderne Kirche aus Holz. Bis vor kurzem hätte man dazu im Kirchenbau «das war einmal» gesagt, weil eben die Gefahr eines Brandes bestand und man lieber etwas Dauerhaftes baute. Aber heute ist Holz als Baumaterial sicher ein Thema. Und die meisten Bauherren legen heute natürlich Wert auf eine möglichst energieeffiziente Bauweise.

Würden alle Sparmöglichkeiten ausgeschöpft, bliebe Geld übrig, das für Essensausgaben ausgegeben werden könnte.

Sie haben ja schon verschiedene Kirchengebäude gebaut. Wie haben sie sich seit Ihren Anfängen Ende der 90er Jahre entwickelt?

Unser Erstlingswerk, die Autobahnkapelle in Uri, war vom Auftrag her ein reiner Sakralbau. Da ging es darum, einen multikonfessionellen Ort zu bauen für Menschen, die sich besinnen möchten, bevor sie den Gotthard passieren. Der einfache Betonkubus mit den Fenstern aus Scherbenglas sollte diese Stimmung bewirken. Diesen Typus der reinen Sakralität gibt es heute als Bauprojekt fast gar nicht mehr. Die reformierte Kirche in Dornach war dann eine Zwischenstufe: Wenn man auf den Stufen vor dem Eingang steht, dominiert das Kirchengebäude, aber unten ist ein ebenso wichtiger grosser Gemeinschaftsraum. Kirche ist heute ja vielmehr als nur ein Gottesdienst; die Kinder brauchen einen Ort der Betreuung, Jugendliche einen Treffpunkt, Essen, Diskutieren usw. – es gilt immer mehr Bedürfnisse und Funktionen abzudecken.

Neuerdings bauen Sie immer öfter auch Sakralbauten kombiniert mit Wohneinheiten.

Heute treffen wir vielfach folgende Situation an: ein unternutztes grosses Grundstück mit einem Kirchengebäude, das renovationsbedürftig oder baufällig ist und eher zu gross. Dann taucht die Frage auf: Können wir stattdessen eine kleinere Kirche neu bauen und wenn ja, was machen wir mit dem frei gewordenen Raum? Via Wohnungen ist auch eine Quersubvention der Kirchenräume möglich. Wir haben das bisher vor allem bei den Methodisten und Neuapostolen erlebt – bei dem Wettbewerb, mit dem wir uns gerade beschäftigen, geht nun die reformierte Kirche auch in diese Richtung. Zum Beispiel bei der Stefanskirche der Gemeinde Zürich-Hirzenbach.

Die Kirchen scheinen auch verdichten zu müssen. Eine für viele schreckliche Vorstellung: Die grünen stadträumlichen Pausen rund um die Kirchen und Kirchgemeindezentren fallen weg.

Dahinter stecken natürlich auch Überlegungen finanzieller Natur: Die Kirche zu halten statt sie zu schliessen, ist sicher eine Möglichkeit, um an mehr Orten präsent zu bleiben. Und der Bezug zur Kirche in der Nähe ist eben schon wichtig; wenn nur jede dritte bestehen bleiben kann, werden die Wege weit und die Verankerung im Quartier geht verloren. Das wird die künftige Herausforderung sein: In der Dichte des bebauten Raums etwas zu schaffen, was auffällt und einlädt.

Pascale Guignard

Pascale Guignard

Die 1969 in Zürich geborene Architektin gründete 1997 mit dem Architekten Stefan Saner das Architekturbüro Guignard & Saner. Heute ist sie Partnerin und Geschäftsführerin der AG. Zu ihren Bauprojekten gehören die reformierte Kirche in Dornach, die Autobahnkapelle von Uri oder die methodistische Kirche in Oerlikon.