Armut wird im Vereinigten Königreich zur Volkskrankheit

Grossbritannien in der Krise

Heizen oder essen? Immer mehr Menschen müssen sich diese Frage stellen. Das Land rutscht in eine soziale Krise. Oft sind Kirchen und Hilfsorganisationen die letzte Hoffnung.

Im hell beleuchteten Schaufenster der Tottenham Court Road im Zentrum Londons steht ein beigefarbener Komfortledersessel. Für rund 3000 Franken verspricht er Entspan­nung und bequemes Sitzen.

David Fussell steht vor der Fensterscheibe auf dem Trottoir zwischen zwei Säulen, prüft, ob der Boden sauber ist. Mit dem Fuss kickt er eine hölzerne Einweggabel weg. Er schiebt lange schwarze Stangen in ein Zelt. Zehn Minuten braucht er für den Aufbau, dann verstaut er darin seinen Rucksack, die E-Gitarre und zwei grosse Taschen.

«Es ist schon verrückt, dass ich ausgerechnet vor einem Geschäft mit Komfortmöbeln schlafe, die ich mir wohl nie leisten kann», sagt er und schüttelt den Kopf. Aber die Gegend sei sicher, teure Geschäfte würden videoüberwacht und von Randalierern gemieden. Ein Vordach schützt ihn halbwegs vor schlechtem Wetter. An diesem Abend Anfang März regnet und windet es bei drei Grad.

Heizen oder essen

Fussell kennt die Strassen Londons so gut wie nur wenige. Er ist gelernter Automechaniker, seit bald zehn Jahren lebt er ohne Dach über dem Kopf in der Stadt. Derzeit hält sich der 60-Jährige mit Gelegenheitsjobs über Wasser, etwa dem Verkauf von London-Kalendern, deren Motive er und andere Obdachlose fotografieren. Bald will er es auch mit Strassenmusik versuchen.

Die Obdachlosigkeit sieht man ihm nicht an, er trägt feste schwarze Stiefel, Jeans und Winterjacke, seine dunklen Haare sind akkurat geschnitten. Sozialhilfe bezieht er nicht, die damit verbundenen Auflagen zur Jobsuche sind ohne festen Wohnsitz kaum zu stemmen.

Fussell hat schon einige Krisen überstanden, doch in den letzten Jah­ren ist sein Leben noch schwieriger geworden. «Erst die Pandemie und jetzt die hohen Lebenshaltungskosten: Es ist wie ein Orkan.»

Der Winter 2023 wird im kollektiven Gedächtnis der Briten bleiben als eine Zeit, in der sich viele Menschen eine bisher undenkbare Frage stellen mussten: Heat or eat? (Hei­zen oder essen?)

Die Armut ist endemisch ge­wor­den, und der Staat hat seine Hilfsangebote heruntergefahren.
Shirley Grieve, Church of Scotland

In den zwölf Monaten bis Februar stiegen die Lebensmittelpreise laut offiziellen Statistiken um 18 Prozent, der Strompreis um 67 Prozent. Der Preis für Gas hat sich mehr als verdoppelt. Umfragen zeigen, dass jeder zweite Erwachsene Mühe hat, die Energierechnungen zu bezahlen, und auch weniger Lebensmittel ein­kauft als gewohnt.

Die Wirtschaft ist der Rezession knapp entgangen, aber sie stagniert. Andere europäische Staaten haben ebenfalls mit Inflation zu kämpfen. Dass es Gross­britannien erheblich schlechter geht, führen Experten zusätzlich auf den Brexit zurück.

Weniger Anlaufstellen

Die Briten fanden einen Begriff für ihre prekäre Lage: «Cost of living crisis» (Lebenshaltungskostenkrise). Dahinter verbirgt sich eine gesellschaftliche Tragödie: Bereits im Jahr 2021 waren 13,4 Millionen Men­schen von Armut betroffen, etwa ein Fünftel der Bevölkerung. In diesem Winter dürften mindestens 1,3 Millionen Menschen hinzugekommen sein, so die Schätzung der Denk­fabrik Legatum Institute.

Ein Teil der arbeitenden Bevölke­rung, unter anderem Lehrpersonen und Mitarbeitende des Gesundheits- und Transportwesens, geht seit Monaten für Lohnerhöhungen auf die Strasse. Für sie geht es darum, ihren Lebensstandard irgendwie halten zu können. Die Situation von Sozialhilfebezügern oder Menschen ohne jegliches Einkommen wie David Fussell verschlechtert sich dagegen im Stillen.

Denn viele Angebote von Hilfsorganisationen blieben auch nach dem Lockdown geschlossen. «Früher kannte ich in meiner Gegend etwa 30 Anlaufstellen für kostenlose Mahlzeiten», sagt Fussell. «Jetzt sind es nur noch sechs.» Die wenigen Orte werden von mehr Menschen besucht.

Und weil zusätzlich die Kosten für die Nahrungsmittel deutlich ge­stiegen sind, sparten viele Obdach­lo­sen­küchen bei der Grösse der Portionen, sagt er. Auch die Aufmerksamkeit von Sozialarbeitern oder frei­willigen Helfern verschiebe sich. «Sie kümmern sich jetzt mehr um Menschen, die Gefahr laufen, ihr Zuhause zu verlieren, als um diejenigen, die gar keines mehr haben.»

Am frühen Morgen hat Fussell sein Zelt abgebaut, jetzt steht er im Eingang der Swiss Church in London. Es ist kurz nach sieben. Im Theaterviertel Covent Gar­­den warten vor der Kirche bereits vier Obdachlose auf das Frühstück, das hier jeweils dienstags angeboten wird. Fussell arbeitet im Stundenlohn als Türsteher für die Swiss Church, beim Frühstück kennt er die Gäste, vermittelt, wenn es mal Streit gibt.

Fundraising statt Rotstift

Andreas Feller koordiniert das Angebot, ihm stehen an diesem Morgen vier Freiwillige zur Seite. Auf einem langen Buffet haben sie getoastete Sand­wiches, Brot, Butter und Konfitüre ausgelegt, verschiedene Joghurtsorten und Müesli.

Auch Feller engagiert sich unentgeltlich, der 32-jährige Schweizer ar­beitet in London für ein Technologie-Start-up. Gelernt hat er an der Hotelfachschule in Lausanne, die Rol­le des Gastgebers steht ihm noch immer. Auf jedem der elf Tische im Kirchenraum liegt Lesestoff: «The Times», «Metro» und «The Guardian». «Unsere Gäste sollen sich wohlfühlen», sagt Feller und lächelt.

Kirche mit Engagement für Kunst und Kultur

Vor rund 260 Jahren gründeten Westschweizer Expats die Swiss Church in London. Heute leitet Pfarrerin Carla Maurer die Gemeinde mit rund 170 Mitgliedern. Die 42-Jährige sucht nach neuen Ausdrucksformen von Kirche: So engagiert sich die im Theaterviertel Covent Garden gelegene Gemeinde seit einigen Jahren stark für die Kultur­szene, stellt Künstlern Räumlichkeiten für Arbeit und Ausstellungen zur Ver­fügung. Zudem unterstützt sie Bedürftige im Zentrum der britischen Hauptstadt mit dem wöchentlichen Breakfast on the Steps. Die Swiss Church in London ist seit 2018 finan­ziell unabhängig von der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Rund die Hälfte ihrer Einnahmen stammen aus der Vermietung von Räumen. Ansonsten finanziert sie sich durch Spenden und Stiftungsgelder. Die Unterstützung aus der Schweiz ist weiterhin entscheidend, etwa durch ein­zelne Landeskirchen und Ge­meinden. Die EKS unterstützt noch einzelne Projekte.  

Im Vorraum der Kirche können sich die Menschen auf einer Liste spontan für einen Haarschnitt einschreiben. Monatlich kommt der Top­coiffeur Jake Fox mit einem Kol­legen und bietet gratis seine Dienste an. Einmal im Monat ist auch Pfarrerin Carla Maurer vor Ort für Seelsorgegespräche, derzeit weilt sie im Mutterschaftsurlaub. Kaum hat Fussell die Tür geöffnet, füllt sich der Raum, die Gäste setzen sich. Für viele war es eine kalte Nacht, selbst jetzt ziehen sie ihre dicken Winterjacken nicht aus.

Auch die Swiss Church hat mit der Krise zu kämpfen. Die Lebensmittel für das Frühstück kosteten etwa 20 Prozent mehr, sagt Feller. Statt den Rotstift beim Angebot anzusetzen, betreibt er mehr Fundraising. Jüngst hat der britische Lotteriefonds 3500 Pfund gesprochen. «So konnten wir den Standard halten.» Bis zu 15'000 Pfund im Jahr kostet die Kirche das Frühstück.

Die Nachfrage ist stark gestiegen, an diesem Morgen zählt Fussell etwa 60 Menschen. Vor der Pandemie waren es 30 bis 40. Die Kirche bewirbt das Angebot bewusst nicht als Obdachlosen-, sondern als Nachbar­schaftsfrühstück. Und tatsächlich kä­men jetzt viele, die ein Dach über dem Kopf haben, sagt Feller. «Aber eine Wohnung zu haben, bedeutet noch lange nicht, sich auch ernähren zu können.»

Nur Porridge und Bohnen

So ergeht es der 70-jährigen Rentnerin, die in langem Rock und blauer Strickjacke am Tisch sitzt und Zeitung liest. Eigentlich will sie nicht reden, dann tut sie es doch, besteht aber auf Anonymität. Seit sechs Mo­naten kommt sie hierher, es sei ja schliesslich ein Frühstück für alle, rechtfertigt sie sich gleich zu Beginn des Gesprächs.

Der Teuerungsausgleich bei den Renten sei gering ausgefallen. Ihre Wohnung sei klein, das sei praktisch, weil sie wenig heizen müsse. Doch Lebensmittel könne sie sich kaum mehr leisten. «Ich esse jetzt vor allem Porridge und gebackene Bohnen auf Toast.» Kleider kaufen liege nicht mehr drin: «Aber sind wir mal ehrlich, die meisten von uns haben ja genug im Kleiderschrank.» 

Die Menschen mit tiefem Einkom­men zehren in diesem Winter von dem, was noch im Haushalt vorhanden ist. Kritisch wird es, wenn Gebrauchsgegenstände den Geist aufgeben, es eine neue Waschmaschine, Küchengeräte, Schuhe braucht. Oder wenn Kinder aus ihren Kleidern herauswachsen.

Gut 600 Kilometer nördlich von London sitzt Leeanne Jackson auf einem Sofa im sonnendurchfluteten Begegnungsraum der Organisation The Cottage Family Centre in der schottischen Kleinstadt Kirkcal­dy. Ein Viertel der Kinder hier lebt unterhalb der Armutsgrenze, die La­­­ge ist schlimmer als im Rest der Region.

«Nach dem letzten Wachstums­schub meiner Enkelin brauchte sie viele neue Kleider, das war ein riesiges Problem», sagt die 42-Jährige. Seit der Geburt ihrer Enkelin vor fünf Jahren zieht sie das Kind allein auf, die Eltern fielen als Erziehungsberechtigte aus. Von jetzt auf gleich musste Jackson ihre Arbeit aufgeben, nun lebt sie von Sozialhilfe. Und spart, wo es nur geht.

Weihnachten ohne Geld

Sie benutze nicht mehr den Herd, sondern einen Schongarer, so dauere das Kochen mehrere Stunden, ver­brauche aber weniger Energie, sagt sie. Auch ihre Freundin Michelle Reekie hat umgestellt: Statt auf den Backofen setzt sie auf die stromsparende Heissluftfritteuse.

Reekie, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern im Primarschulalter, kauft nur noch bei den deutschen Discountern ein. «Mit den Lebensmitteln komme ich so über die Runden, schwierig wird es bei Strom und Gas», sagt sie. Als ihre Sozialleistungen auf ein neues System um­gestellt wurden, musste sie sechs Wochen auf die erste Zahlung warten – und das ausgerechnet über Weihnachten. Das Cottage Family Centre sei eingesprungen, habe mit Rechnungen oder bei notwendigen Anschaffungen geholfen, erzählen die Frauen.

Manche trauen sich kaum, die Tür zu öffnen, aus Angst, es könnten Schulden­eintreiber sein.
Ian MacDonald, Pfarrer Holy Trinity Wester Hailes

Die Hilfsorganisation arbeitet eng mit den Behörden zusammen. Ihre Klientel: benachteiligte Familien. Benachteiligt seien früher oft Allein­erziehende und Familien auf Sozialhilfe gewesen, sagt Leiterin Pauline Buchan. Mittlerweile handle es sich bei der Hälfte der Betreuten um Familien, bei denen die Eltern arbeiteten, zum Teil hätten sie sogar mehrere Jobs.

Gesamtgesellschaftlich sieht Buchan jetzt schon schlimme Konsequenzen: «Die Suizidraten steigen, immer mehr Menschen haben psychische Probleme, häusliche Gewalt und Missbrauch nehmen zu.»

Von der Klientin zur Leiterin

Die Bedürfnisse von Kindern stehen beim Cottage Family Centre im Zentrum, mehrere Kinderpsychologen arbeiten dort, die Wartelisten sind lang. Viele Kinder sähen Dinge, die sie in ihren jungen Jahren nicht sehen dürften, sagt Buchan. «Der Stress und das chaotische Leben der Eltern wirken sich massiv auf den Familienalltag aus.»

Mit prekären Situationen kennt sich Buchan aus, denn in den 90er-Jahren war sie selbst Klientin des Zentrums. Sie skizziert ihr Leben: obdachlos mit 16, in ihren 20ern vier Kinder, alleinerziehend. Mithilfe der Organisation fand sie den Boden, holte Abschlüsse nach, arbeitete sich hoch. «Was mich erschreckt: Ich dachte damals, mir gehe es schlecht. Aber sehe ich die Familien heute, sind sie noch viel übler dran.»

Kein soziales Netz

Spricht Buchan über die Lage der ärmsten Gesellschaftsschichten, offenbart sich die Wut über den stetigen Abbau der Sozialleistungen in ihren Gesten. Ein soziales Netz gebe es nicht mehr, sagt sie und streicht resolut mit der flachen Hand von links nach rechts über den Tisch.

Sechs bis acht Wochen dauere es, bis Arbeitslose erstmals Geld vom Staat erhielten, manche zwinge das in die Obdachlosigkeit. Teilzeitjobs führten schnell zu Leistungskürzungen. «So fehlt der Anreiz, zu arbeiten.» Und Berater beim Arbeitsamt seien kaum persönlich zu sprechen, alles laufe nur online – schwierig für Men­­schen ohne entsprechende Geräte und Internetverbindung.

Staatliche Erleichterungen, etwa einen vorübergehenden Zuschuss an die Strom- und Gasrechnungen, empfindet Buchan – wie viele Briten – als Tropfen auf den heissen Stein. Dass die konservative Regierung unter Premierminister Rishi Su­nak trotz der Not am strikten Sparkurs festhält, findet sie nicht nur menschlich, sondern auch ökonomisch fragwürdig: «Die Folge­kos­ten der Armut auf das Gesundheitssystem wie auch das Sozial- und Bil­dungswesen sind massiv.»

Im Cot­­tage Family Centre bieten Buchan und ihre 30 Mitarbeitenden neben Psychotherapie für Kinder auch ver­schiedenste Weiterbildungskurse und Hilfsangebote für Eltern an. Es handelt sich um das Kerngeschäft der Organisation. 

Neuerdings ist Buchan aber auch Logistikerin. Vom Zentrum in Kirkcaldy fährt sie an diesem Morgen in ein Industriegebiet im Nachbarort Lochgelly. Jetzt steht sie in einem Lagerhaus inmitten von Paletten mit Hunderten Kartons, gefüllt mit Klei­dern, Windelpackungen, Hygieneprodukten, Teppichen und Bügelbrettern. An einer Wand stehen in Regalen sortiert Töpfe und Pfannen, Geschirr und Haushaltsgeräte. Gerade fährt ein grosser Lastwagen vor mit neun Paletten Bettwäsche.

Amazon als Partner

Das «Big Hoose Project» ist die Antwort der Hilfsorganisation auf die Mangellage, der Versuch, möglichst vielen Familien in der Region unter die Arme zu greifen. Es hat landesweit Schlagzeilen gemacht.

Sieben Arbeiter sortieren gerade Waren und nehmen Lieferungen an. Ein Grossteil der Produkte sind über­schüssige Waren, die der Onlinehänd­ler Amazon gratis zur Verfügung stellt, wie Buchan erklärt. Amazon hat das Projekt mit dem Cottage Family Centre lanciert, für den Kontakt sorgte vor rund einem Jahr der ehemalige Premierminister Gordon Brown. Er ist Schirmherr der Charity und stammt aus Kirkcaldy.

Seit dem letzten Frühjahr kommen jede Woche zwei Lieferungen aus einem nahe gelegenen Amazon-Logistikzentrum an. Ortsansässige Firmen ziehen mit. Mehr als 20 Unternehmen stellen unterdessen Ausschussware zur Verfügung.

Die Bettwäsche etwa kommt aus der Hotellerie. Nach 80 Wäschen wä­re sie entsorgt worden, nun geht sie an Menschen, die sie daheim brauchen. Bettwäsche sei neben Wasch- und Reinigungsmitteln am meisten gefragt, sagt Buchan.

Manchen Eltern fehlten erst die Windeln für ihre Kinder, dann das Waschmittel, um eingenässte Bettbe­züge zu waschen. Mehr als 500'000 Waren im Wert von über 10 Millionen Pfund wurden bis Ende Februar 2023 an Bedürftige weitergegeben. Buchan kann das noch immer kaum glauben, schüttelt den Kopf. «Beim Start wollten wir rund 13'000 Familien in der Region Fife unterstützen. Im letzten Jahr waren es dann fast 50'000 Familien.»

Die Charity hat das Projekt bis nach Edinburgh ausgeweitet, die Städte Dundee und Perth sollen folgen. Ein zweites Projekt lancierten Amazon und Ex-Premierminister Brown jüngst im englischen Manchester. Brown trägt das Thema Armut seit Monaten in die Öffentlichkeit, schon im August warnte er vor einem Winter in «tiefer Armut».

Schlüsselrolle für Kirchen

Das «Big Hoose» gilt als Vorzeigeprojekt, das international Schule ma­chen könnte. Die Idee ist simpel, doch die Logistik komplex, über 500 Menschen sind eingebunden: Mitarbeitende lokaler Behörden, Arztpraxen, Schulen, Kirchen, Hilfsorganisationen. Sehen sie Bedürfnisse bei Menschen, die sie betreuen, stellen sie Anträge an das «Big Hoose». Dort wird geprüft, ob die Waren im Lager sind, dann werden sie zur Abholung bereitgestellt.

Noch müssen manche Antragssteller weite Wege in Kauf nehmen, doch das soll sich ändern. In verschie­denen Orten werden Abholzentren ein­gerichtet. Den Kirchen kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Im No­vember präsentierten Buchan und Brown das Projekt an einem Informationstag der Church of Scotland. Drei Kirchgemeinden stellen seitdem Räume zur Zwischenlagerung von Paketen zur Verfügung, weitere sollen folgen.

Die Kirchen nehmen in der momentanen Krise eine entscheidende Rolle ein. Shirley Grieve ist die Armutsexpertin bei den schottischen Reformierten. Eigentlich hätte sie längst Feierabend, aber nun sitzt sie in einem Starbucks in Edinburgh, vor ihr liegt noch eine Sitzung. «Die Armut ist endemisch geworden», sagt Grieve. Vielfach seien in den letzten Jahren staatliche Hilfsangebote heruntergefahren worden. «In einigen Gegenden ist die Kirche ‹the last man standing›.»

Das Engagement der Church of Scotland für die Ärmsten reicht weit zurück, aber seit rund 20 Jahren geht sie systematisch vor. Anhand von Statistiken eruiert sie alle paar Jahre die fünf Prozent jener Kirchgemeinden, die in besonders armutsbetroffenen Regionen liegen.

Reformen bei Schottlands Reformierten

Die «Cost of living crisis» trifft die Church of Scotland in einem ungüns­tigen Moment. Denn die schottischen Reformierten sind derzeit mit dem gröss­ten Umbau ihrer Struk­­turen seit Jahrzehnten beschäftigt.

2019 stimmte die Synode einem radikalen Plan zu, um die Kirche zukunftsfähig zu machen. Seitdem werden Kirchgemeinden fusioniert, Stellen neu zugeteilt und das Immo­bilienportfolio verschlankt. Die Anzahl der Pfarrbezirke wird von 45 auf 12 stark reduziert.

Zudem soll es künftig etwa ein Viertel weniger Pfarrstellen geben – auch, weil bei vielen Pfarrpersonen die Pensionierung bevorsteht und es immer schwieriger wird, frei werdende Stellen zu besetzen. Durch die neuen Strukturen werden zahlreiche Gebäude nicht mehr gebraucht. Deshalb sind derzeit rund 40 Immobilien zum Verkauf ausgeschrieben – von Kirchen über Gemeindehäuser bis hin zu Pfarr­wohnungen.

Einnahmen schmelzen

Der Grund für den Sparkurs: Wie andere Kirchen in Europa hat die Church of Scotland seit Jahrzehnten mit starkem Mitgliederschwund zu kämpfen. Allein zwischen 2011 und 2021 ver­lor sie 34 Prozent ihrer Mitglieder, eine Trendumkehr zeichnet sich nicht ab. Derzeit zählt sie noch rund 280'000 Mitglieder. Auch das Einkommen der Kirche geht deutlich zurück, die Corona-Pandemie beschleunigte die Problematik zusätzlich.

Die Kirchen in Grossbritannien finanzieren sich gröss­tenteils über Zuwendungen ihrer Mitglieder. Weil die Pandemie und die nun steigenden Preise den Privat­haushalten schwer zusetzten, wirkt sich das deutlich auf die Finanzlage der Kirchen aus. Für dieses Jahr budgetiert die Church of Scotland ein Defizit von 8,7 Millionen Pfund. Auch in den nächsten Jahren rechnet sie mit roten Zahlen in Millionenhöhe.

25 Millionen für neue Projekte

Doch es bleibt nicht beim Sparkurs allein. Um sich für die Zukunft fit zu machen, will die Kirche gleichzeitig kräftig investieren. Bis zu 25 Millionen Pfund sollen in den nächsten sieben Jahren in neue Projekte und den Gemeindeaufbau fliessen. Gerade jüngere Leute sollen künftig vermehrt angesprochen werden.

Die Kontak­te zu Kindern und den unter 40-Jäh­rigen seien bislang marginal, räumte im vergangenen Jahr der ehemalige Kirchenpräsident John Chalmers bei der Vorstellung eines Berichts zur Lage ein. Gespart werde nun nicht um des Sparens willen, sondern um neues Wachstum zu ermöglichen.

Schottland ist überwiegend protestantisch geprägt, die presbyterianische Church of Scotland ist Nationalkirche. Sie geht auf John Knox zurück, der im 16. Jahrhundert lebte und zeitweise nach Genf ins Exil fliehen musste. Dort war er ein Schüler des Reformators Jean Calvin. Die reformierte Kirche spaltete sich in Schottland 1560 von der katholischen Kirche ab. Wie bei allen Reformierten gibt es bei der pres­byterianischen Kirche keine Messe und kein Zölibat.

«Unser Ziel ist es, die Ressourcen dahin zu lenken, wo sie am drin­gendsten gebraucht werden», sagt Grieve. Deshalb wird in Kirchgemeinden der sogenannten «priority areas» (prioritären Gegenden) ein dop­pelter Personalschlüssel angewendet. Mehr Mitarbeitende, mehr diakonische Angebote, so die Rechnung. Hinzu kommen Veranstaltun­gen, an denen sich Mitarbeitende austauschen und ihre Projekte vorstellen können.

Warme Orte als Renner

Grieve hat Erfahrungswerte, wel­che Angebote funktionieren und wel­che nicht. In vielen Städten öffneten im Winter Behörden, private Organisationen oder Kirchgemeinden beheizte Räume, damit sich Men­schen dort aufhalten konnten. Landesweit gab es über 4000 «warm spaces» (warme Orte). Sie seien am besten besucht mit Zusatzangeboten wie Cafés oder Spielnachmittagen, sagt Grieve.

Bei der Lebensmittelversorgung lösen Supermarktgutscheine vermehrt die traditionellen Tafeln ab. Denn die Menschen sollen ihre Nah­rungsmittel selbst aussuchen können. Ganz wichtig sei auch, betont Grieve, die Schuldenberatung.

Die Busfahrt aus dem Zentrum von Edinburgh zur Kirchgemeinde Holy Trinity Wester Hailes im Südwes­ten der Stadt dauert eine Dreiviertelstunde. Die Gegend hat mit den Postkartenbildern der pittoresken schottischen Hauptstadt wenig gemein, sie besteht fast nur aus Sozialwohnungen. Viele sind mehrere Jahrzehnte alt, an ihren Fassaden brö­ckeln Putz und Mörtel, einzelne kaputte Fenster sind mit Holzplatten abgedeckt. Andere Blöcke sind Neubauten.

«‹Trainspotting›, das war Wester Hailes», sagt Pfarrerin Rita Welsh und bezieht sich auf den Kultfilm aus den 90er-Jahren, der sich um eine Clique junger Drogenabhängiger und Krimineller dreht. Noch heu­­te gehörten Drogen und Kriminalität hier für viele zum Alltag.

Welsh ist Rentnerin, sie arbeitet in der Kirche unentgeltlich. Nun führt sie durch die grosszügigen Innenräume des Flachbaus aus den 70er-Jahren. Es riecht nach frisch gebackenen Scones.

Dreimal die Wo­che öffnet im Erdgeschoss für mehrere Stunden ein Community-Café, mehrheitlich von Freiwilligen betrieben. Sie bieten kostenlose Suppe und Früchte sowie günstige Mahl­zeiten an. Seit dem Herbst ist das Café schon frühmorgens offen, als «warm space». Eine Gruppe Seniorinnen hat sich auf Sofas niedergelassen, die Frauen stricken.

Gut besuchter Gottesdienst

Im Kirchenraum stehen neben dem Abendmahlstisch Schlagzeug, Verstärker und Mikrofone. Holy Trinity gehört zur Church of Scotland, ist jedoch eine der wenigen charis­ma­tischen Gemeinden. Und diese Gemeinde wächst. Mehr als 100 Erwachsene besuchten an den Sonntagen den Gottesdienst, viele lebten über Edinburgh verstreut, erzählt Welsh. In der Diakonie fokussiert die Kirchgemeinde auf die Einwohnerschaft von Wester Hai­les.

Eine zusätzliche Pfarrstelle hat sie bekommen, weil sie in einer «priority area» liegt. «Auch wenn die Church of Scotland Probleme hat: Eine ihrer grössten Stärken ist ihr Einsatz für die Armen», erklärt Pfarrer Ian MacDonald, der beim Rundgang da­zustösst.

Zusätzlich finanziert sich die Gemeinde durch Zuwendungen von Stiftungen und Institutionen wie dem Rotary Club. Mit einer christlichen Hilfsorganisation bietet sie Be­werbungstraining und Schuldenberatung an. «Manche in der Gegend trauen sich kaum, Unbekannten die Tür zu öffnen, denn es könnten Geld­eintreiber sein», sagt MacDonald. Ziel sei es, ihnen in die finanzielle Unabhängigkeit zu helfen.

Armut wird bestraft

Die meisten Angebote gab es schon vor der Krise. Jetzt haben sie noch mehr Brisanz. Vor Weihnachten kamen doppelt so viele Menschen wie einst zur wöchentlichen Lebensmit­telabgabe, wie die Pfarrpersonen er­zählen. Und immer wieder muss die Kirchgemeinde einspringen, damit Wohnungen nicht kalt bleiben, der Strom wieder fliesst.

Sozialdiakone und Pfarrpersonen begleiten Leute aus dem Quartier zum Kiosk oder zur Post, la­den ihnen Prepaidkonten für Gas und Strom auf. Die Versorger lassen Kunden mit Risiko von Zahlungs­ausfällen nicht per Lastschriftverfahren zahlen. Sie stellen Strom und Gas konsequent ab, wenn das Guthaben aufgebraucht ist.

Der Strom über ein Prepaidkonto koste auch noch mehr, sagt Welsh. «So ist das: Wer arm ist, wird dafür bestraft.» Immerhin das soll sich bald ändern. Die Regierung hat zuletzt angekündigt, den umstrittenen Aufschlag abzuschaffen.