Die nächste Übung bringt wieder Bewegung in die Gruppe. Alle laufen quer
durch den Raum und bleiben auf Wiederkehrs Signal stehen. Als der
Pfarrer jetzt von der Not hungernder Menschen, der Qual eingesperrter
Tiere, der misshandelten Erde spricht, laufen Lia die Tränen über die
Wangen. Erst versucht sie noch, sie zurückzuhalten, und wischt sie
energisch weg. Doch die Gefühle, die das Augenwasser zum Fliessen
bringen, sind stärker.
«Ich war
überrascht von meiner heftigen Reaktion», sagt die Schulsozialarbeiterin später. «Ich weine schon manchmal, aber nur für mich im Stillen.»
Zuerst habe sie sich ein bisschen geniert. «Aber dann hat sich etwas
gelöst, und es tat gut.»
Die grösste Gefahr ist das Verdrängen
Joanna Macy
begann bereits in den 1980er-Jahren, «Verzweiflungsseminare» abzuhalten – so nannte sie sie damals. Ihr war klar geworden, dass die grösste
Gefahr das Verdrängen ist. «Wir brauchen Orte, wo wir trauern können, wo wir unser kollektives Trauma über den Zustand der Welt fühlen können.»
Der empfundene Schmerz wecke Hilfsbereitschaft und öffne die
Möglichkeit, die Welt mit neuen Augen zu sehen und einen Wandel
herbeizuführen: die dritte und vierte Stufe in der Spirale. Durch diese
beiden wird Daniel Wiederkehr die Gruppe am nächsten Kursabend führen.
Ein Blick zurück
In der Abschlussrunde sprechen die Leute über die Eindrücke, die sie aus
dem heutigen Abend mitnehmen. Mehrere erwähnen das Vertrauen und die
Nähe zueinander, die durch die Übungen entstanden seien. Die Verbindung
mit dem «Gewebe des Lebens». Die schönen Erinnerungen, die geweckt
wurden. Alles Ressourcen, um Schwieriges durchleben zu können.
Lia freut besonders, dass sich die Kirche auch spirituell mit Umweltfragen
auseinandersetzt: «Es bewegt sich etwas. Die Kirche ist auf dem Weg in
eine neue Zeit.»