Schwerpunkt 25. Oktober 2023, von Veronica Bonilla Gurzeler

Den Schmerz der Erde durch das Herz fliessen lassen

Ökospiritualität

Daniel Wiederkehr bringt die Ökospiritualität in die Kirche. Der Pfarrer schafft einen Raum, in dem Angst und Schmerz über den Zustand der Welt fühlbar werden. Und Kräfte erwachen.

Den Einstieg in die zwei Kursabende macht eine recht gewöhnliche, aber weitum bekannte Pflanze: der Löwenzahn – auch Söiblume, Chrottepösche oder Remschfädere genannt. Ein kleines Bild der Blume liegt auf den Stühlen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Die Wurzeln sind mit «Dankbarkeit» beschriftet, das Blattwerk mit «den Schmerz ehren». Bei der gelben Blüte, die zur Pusteblume wird, steht «mit neuen Augen sehen» und bei den davonfliegenden Samen «weitergehen». Der Löwenzahn wird dabei helfen, das Konzept der Ökospiritualität zu verstehen.

Inspiriert von einem Mönch

Eingeladen zum Kurs hat der Pfarrer Daniel Wiederkehr (64). «Die Ökospiritualität geht davon aus, dass wir Teil eines grösseren Ganzen sind. Allerdings verhalten wir Menschen uns oft gegenteilig. Wir schädigen uns selbst wie auch unsere Umwelt», sagt er zu Beginn.

Wir werden uns bewusst, welch grosse Fülle uns geschenkt worden ist, die für uns eine Ressource darstellt.
Daniel Wiederkehr, Pfarrer

Er beruft sich dabei auf die Arbeit von Joanna Macy (94), Systemtheoretikerin und Grande Dame der US-amerikanischen Friedens- und Umweltbewegung. Um das Verhalten gegenüber der Umwelt verändern zu können, ist für die Amerikanerin entscheidend, den Schmerz zu fühlen.

Sie selbst wurde inspiriert vom buddhistischen Mönch Thich Nhat Hanh. Als er gefragt wurde, was zu tun sei, um die Welt zu retten, gab er zur Antwort: «Am dringendsten müssen wir in unserem Innersten hören, wie die Erde weint.» Daraus ist «the work that reconnects» entstanden, sprich die Arbeit, die wiederverbindet.

Der Löwenzahn steht für vier Schritte

Im Seminarraum der reformieren Kirche Mattenbach in Winterthur sind sieben Frauen und zwei Männer im Alter zwischen 25 und 88 Jahren anwesend. Gemeinsam betrachten sie den Löwenzahn. Seine Pflanzenteile stehen für vier Schritte, mit denen schwierige Situationen oder Krisen sinnvoll durchlebt werden können. Der Prozess, wie er von Macy entwickelt wurde, heisst Spirale der Tiefenökologie.

Daniel Wiederkehr erläutert, dass es im ersten Schritt, den die langen und weitverzweigten Pfahlwurzeln des Löwenzahns symbolisieren, um die Verankerung in der Dankbarkeit geht. Er sagt: «Wir werden uns bewusst, welch grosse Fülle uns geschenkt worden ist, die für uns eine Ressource darstellt.» 

Der Schmerz ist eine gesunde Reaktion und ein Zeichen, dass wir das Fühlen nicht verlernt haben.
Daniel Wiederkehr, Pfarrer

Im Seminarraum bringen die Leute ihre Stühle in Zweier- oder Dreiergrüppchen ans Fenster oder in eine Ecke. Wiederkehr spricht Satzanfänge, die eine Person beendet, während die andere ihr zuhört: «Einige Dinge, die ich liebe und die mich auf besondere Art mit der Erde verbinden, sind ...» Lia (59) muss nicht lange überlegen: «Tanzen, am liebsten in der Natur. Schwimmen im See.» Für Regula (88) ist es die Gartenarbeit: «Heute habe ich Kompost gemacht», sagt sie.

Nun geht es um einen Platz, der in der Kindheit zauberhaft war: Lia ist auf alle Bäume geklettert und war gern bei ihrer Grossmutter. Auch Regula erinnert sich an einen grossen Kastanienbaum, der ihr Kletterbaum war.

Während die sieben Frauen und zwei Männer weiter darüber reden, wer sie in ihrem Leben darin unterstützt hat, an sich selbst zu glauben, oder was sie an sich selbst schätzen, beginnen ihre Augen zu leuchten, und auf ihren Gesichtern zeigt sich ein Lächeln – beim Erzählen ebenso wie beim Zuhören.

Der Schmerz der Welt

Die Gruppe kommt zurück in den Kreis. Die folgende von Wiederkehr angeleitete Meditation führt zum zweiten Schritt in der Spirale, symbolisiert von den gezackten Blättern des Löwenzahns. «Und jetzt würdigen wir den Schmerz über die Welt, er ist eine gesunde Reaktion und ein Zeichen, dass wir das Fühlen nicht verlernt haben», lässt sich der Kursleiter dazu vernehmen.

Alle haben sich nun bequem eingerichtet, einige auf Meditationskissen am Boden, Lia hat ihre Stiefeletten ausgezogen. Wiederkehr liest einen Meditationstext aus Joanna Macys Buch «Active Hope». Er lädt die Anwesenden ein, sich für das Leid der Mitlebewesen in der Welt zu öffnen und «den Schmerz durch das eigene Herz fliessen zu lassen».

Es freut mich, dass sich etwas bewegt. Die Kirche befindet sich auf dem Weg in eine neue Zeit.
Lia Macello, Schulsozialarbeiterin

Die nächste Übung bringt wieder Bewegung in die Gruppe. Alle laufen quer durch den Raum und bleiben auf Wiederkehrs Signal stehen. Als der Pfarrer jetzt von der Not hungernder Menschen, der Qual eingesperrter Tiere, der misshandelten Erde spricht, laufen Lia die Tränen über die Wangen. Erst versucht sie noch, sie zurückzuhalten, und wischt sie energisch weg. Doch die Gefühle, die das Augenwasser zum Fliessen bringen, sind stärker.

«Ich war überrascht von meiner heftigen Reaktion», sagt die Schulsozialarbeiterin später. «Ich weine schon manchmal, aber nur für mich im Stillen.» Zuerst habe sie sich ein bisschen geniert. «Aber dann hat sich etwas gelöst, und es tat gut.»

Die grösste Gefahr ist das Verdrängen

Joanna Macy begann bereits in den 1980er-Jahren, «Verzweiflungsseminare» abzuhalten – so nannte sie sie damals. Ihr war klar geworden, dass die grösste Gefahr das Verdrängen ist. «Wir brauchen Orte, wo wir trauern können, wo wir unser kollektives Trauma über den Zustand der Welt fühlen können.»

Der empfundene Schmerz wecke Hilfsbereitschaft und öffne die Möglichkeit, die Welt mit neuen Augen zu sehen und einen Wandel herbeizuführen: die dritte und vierte Stufe in der Spirale. Durch diese beiden wird Daniel Wiederkehr die Gruppe am nächsten Kursabend führen.

Ein Blick zurück

In der Abschlussrunde sprechen die Leute über die Eindrücke, die sie aus dem heutigen Abend mitnehmen. Mehrere erwähnen das Vertrauen und die Nähe zueinander, die durch die Übungen entstanden seien. Die Verbindung mit dem «Gewebe des Lebens». Die schönen Erinnerungen, die geweckt wurden. Alles Ressourcen, um Schwieriges durchleben zu können.

Lia freut besonders, dass sich die Kirche auch spirituell mit Umweltfragen auseinandersetzt: «Es bewegt sich etwas. Die Kirche ist auf dem Weg in eine neue Zeit.»