Schwerpunkt 25. Oktober 2023, von Constanze Broelemann, Rita Gianelli

«Die Erde ernährt uns wie eine Mutter»

Ökospiritualität

Anne Pattel-Gray ist Nachfahrin der australischen Urein­wohner im Süden von Queensland. Für die Theologieprofessorin ist indigenes Wissen für die Bewahrung der Schöpfung zentral.

Frau Pattel-Gray, wie sind Sie heute in den Tag gestartet?

Anne Pattel-Gray: Das Erste, was ich nach dem Aufstehen gemacht habe, war, dem Schöpfer zu danken. Ich lebe auf einem grossen Grundstück. Morgens sitze ich jeweils hinter dem Haus mit all den Bäumen und lege meinen Geist in die Hände des Schöpfers, auf dass er mich segnet und mich das tun lässt, was für diesen Tag bestimmt ist.

Was verstehen Sie unter Öko­spiritualität?

Meistens verwenden wir Menschen aus den First Nations – das heisst wir Ureinwohnerinnen und Ureinwohner – den Begriff Spiritualität, um unsere Beziehung zum Land, in dem wir leben, auszudrücken. Wir glauben, dass uns der Schöpfer genau jenes Stück Land gegeben hat, in dem wir zu Hause sind. Wir empfinden Verantwortung, uns um die Schöpfung zu kümmern, sie zu respektieren, zu feiern. Tiere, wie etwa Vögel, sind Lehrmeister für uns.

Was können uns Vögel lehren?

Nehmen wir die Geschichte der Krähe. Wir kennen sie als hässlichen Vogel, der krächzt. In unserer Schöpfungsgeschichte war die Krähe einst ein wunderschöner bunter Vogel mit klangvoller Stimme. Seine Gaben machten ihn arrogant und selbstbezogen. Eines Tages kam ein anderer Vogel auf die schöne Krähe zu, erbat Nahrung und wollte auch so attraktiv sein. Die Krähe wollte aber weder ihre Schönheit noch ihr Futter teilen. Da machte der Schöpfer die Krähe schwarz und verlieh ihr eine krächzende Stimme. Die Lehre daraus: Immer, wenn wir eine Krähe sehen, sollen wir daran denken, bescheiden und demütig zu sein und zu teilen.

Anne Pattel-Gray, 65

Anne Pattel-Gray, 65

Als erste indigene Person hat Anne Pattel-Gray an der Universität Sydney in Theologie promoviert. Heute lehrt sie an der University of Divinity. In ihrem Buch «The Great White Flood» schildert sie, wie Rassismus in Australien in korrupter Beziehung zwischen Regierung und Kirche wurzelt.

Haben wir etwa verlernt, Teil der Schöpfung zu sein?

Früher hatten Völker wie die Kelten, Schotten und viele mehr eine spirituelle Verbindung zur Schöpfung. Aber im Prozess der Industrialisierung und der wachsenden Wissenschaft ging diese verloren. Gier, Macht, Wachstum und Geld trieben die Menschen an, um Land zu kämpfen, anstatt sich auszutauschen und miteinander zu teilen. Wir, die Angehörigen der First Nations, glauben, dass jeder Stamm, jede Kultur ihr Stück Land bekommen hat, das nur sie mit ihrem Wissen bewahren kann. Wir nahmen nicht das Land anderer Stämme, sondern teilten unser Wissen. So lebten wir gut, bis die Briten in Australien einfielen und uns unterdrückten. Bis heute kämpfen wir mit dem Ziel, unser Land zurückzubekommen.

Wegen Klimaveränderungen, Kriegen und Perspektivlosigkeit müssen viele Menschen ihr Land unfrei­willig verlassen. Was sagen Sie dazu?

Für uns ist es schwierig zu migrieren. Denn in spiritueller Hinsicht sind wir eng mit unserem Stück Land verbunden. Ich lehrte einige Jahre in Indien am United Theological College in Bangalore. Dann bekam ich Heimweh, wurde krank und merkte, dass ich zurückmusste in mein Land und zu meinen Ahnen. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass viele Aborigines im angestammten Land sterben würden, auch wenn ein Krieg ausbräche. Durch Kolonialisierung wurden viele von uns aus ihrem Lebensraum vertrieben, das hat viele von uns psychologisch betrachtet umgebracht.

Genau diese Kolonisatoren, die Gewalt ausübten, brachten aber auch das Christentum mit. Sie sind selbst Christin, wie gehen Sie damit um?

Das geht für mich gut zusammen. Mein Glaube fusst auf dem überlieferten Wissen meines Volkes. Meine Beziehung zum Schöpfer, dem christlichen Gott, ist davon unabhängig. Sie ist die Quelle, aus der ich mich speise. Ich interpretiere die Bibel vor meinem kulturellen Hintergrund. Auf diese Weise kommt etwas ganz anderes heraus als eine kolonialistische Interpretation des Christentums, die auf Herrschaft und Genozid hinausläuft.

Die biblischen Schriften dekolo­nialisiere ich und verbinde sie mit unserer Spiritualität.

Inwiefern lesen Sie die Bibel anders?

Ich dekolonialisiere die biblischen Texte, verbinde sie mit dem Reichtum unserer Spiritualität und bringe den Glauben in unsere Ausdrucksform von Christentum und Spiritualität. Die First Nations sind die älteste lebende Kultur der Welt. Wir haben viel Wissen, das wir teilen kön-nen. Zum Beispiel auch, wie entstan-dene Schäden an der Schöpfung behoben werden können.

Der Papst hat mit der Umwelt-Enzyklika «Laudato si’» die Welt zum Handeln aufgerufen. Auf protestantischer Seite engagieren sich Menschen für den Klimaschutz. Könnten Kirchen gemeinsam mit den First Nations eine Vorreiterrolle im Umweltschutz übernehmen?

Sicher gibt es Möglichkeiten zu einer Zusammenarbeit. Es kann gut sein, dass die Kirchen sich zunehmend bewusst werden, welche Rolle uns der Schöpfer gegeben hat, nämlich, seine Schöpfung zu bewahren. Doch aus der historischen Warte betrachtet sind die christlichen Kirchen ein Teil des Problems. Denn: Ihre Interpretation der Bibel ist oftmals kolonialistisch.

Warum?

In der Interpretation von uns Aborigines hat der Schöpfer die Erde geboren – aus dem Wasser, so, wie ein Embryo aus dem Bauch seiner Mutter kommt. Für uns ist die Erde heilig. Sie ernährt und trägt uns wie eine Mutter. Wir betrachten unseren Schöpfer als Weisheitslehrer für alle Länder. Denn diese spiegeln den Schöpfer wider. Sie tun es mit ihrer Schönheit und dem Wissen, das die Menschen vom Schöpfer erhielten, um sorgsam mit der Schöpfung und sich selbst umzugehen. Unsere Interpretation ist eine der gegenseitigen Abhängigkeit. Sobald wir die Schöpfung aus der Sicht des Beherrschens betrachten, missbrauchen wir sie. Das taten Kirche und Politik im Westen über Jahrhunderte.

Sobald wir die Schöpfung aus Sicht des Beherr­schens betrachten, missbrauchen wir sie.

Welche Lesart der Bibel halten Sie denn für die richtige?

Die Bibel ist rund um den Globus verfälscht und missbraucht worden. Wir First Nations haben nicht das Monopol auf die richtige Interpretation. Wichtig ist, sie so zu interpretieren, dass sie uns das gibt, was uns emotional und körperlich erfüllt. Die Interpretation, die am wenigsten Blutvergiessen nach sich zieht, unsere Beziehung zur Erde stärkt und Menschlichkeit in Eintracht mit der Schöpfung gedeihen lässt, ist wohl die sinnvollste.

Wie lassen sich die ökologischen Herausforderungen bewältigen?

In Australien gibt es viel durch Bergbau zerstörtes Land. All das geschah auf ehemaligem Land der Aborigines. Dort könnte die Politik das Wissen der First Nations abholen, das wir im Bereich Renaturierung haben. Man könnte gemeinsam Saatenbanken anlegen für genau die Pflanzen, die dort ursprünglich wuchsen, und nicht europäische Pflanzen setzen, die dort nicht hingehören. Die Art, wie wir Ackerbau betreiben, macht die Umwelt nicht kaputt, vielmehr geschieht sie im Einklang mit ihr.

In Sydney ist es jetzt Abend. Wie endet Ihr Tag heute?

Ziemlich genau, wie er begonnen hat: Ich danke Gott dafür, was er mir gegeben hat. Ich reflektiere den Tag und bete in Gemeinschaft oder allein. Draussen in der Schöpfung, der Kapelle Gottes.