Schwerpunkt 29. August 2018, von Delf Bucher

Der Glaube an Drahtzieher im Hintergrund

Verschwörungstheorien

Wer Verschwörung sucht, findet sie im Internet, sagt Religionsexperte Georg O. Schmid. Fans haben viel Zeit, sind eher einsam und staats- und medienskeptisch.

Waren Sie selbst schon von Verschwörungstheorien fasziniert?

Georg O. Schmid: Derartige Theorien handeln kurz gesagt von Menschen, die sich zusammensetzen und sich angeblich verschwören, um etwas zu vertuschen. In diesem Sinn faszinierten mich solche Gedankengänge nie. Ich bin wirklich nicht affin, denn ich schaue sie grundsätzlich als unplausibel an.

Ist der Begriff «Theorie» überhaupt gerechtfertigt?

Im wissenschaftlichen Sinn trifft das für die meisten Verschwörungstheorien tatsächlich nicht zu. Aber im landläufigen Sinn von: «Was hast du jetzt wieder für eine Theorie?» passt der Begriff durchaus. Im Alltag können wir mit «Theorie» etwas Spekulatives meinen. Und Ver­schwörungstheorien sind hochspekulativ und widersetzen sich den Regeln der Wissenschaft.

Ihre Informationsstelle Relinfo befasst sich mit «Kirchen – Sek­ten – Religionen». Was hat das mit Verschwörungstheorien zu tun?

Wir müssen uns direkt damit be­schäftigen. Angehörige von Ver­schwö­rungsfans suchen recht häufig unsere Beratungsstelle auf, weil sie nicht mehr weiter wissen.

Ist das nicht eine ganz andere Klien­tel als jene, die mit Glaubensgemeinschaften Probleme haben?

Nein, da gibt es zentrale Parallelen: den Fanatismus, den missionarischen Eifer, Kontaktabbrüche. Das ist ganz ähnlich wie bei Mitgliedern fundamentalistischer Sekten.

Welche Personen wittern hinter jedem Ereignis eine finstere Macht?

Meist sind es Menschen, die in ­einer persönlichen Krise stecken und über viel Zeit verfügen, Erwerbslose, Unausgelastete und stark zunehmend Pensionierte. Die Kombina­tion mit einem schwachen sozialen Netz fördert zusätzlich den Hang zu Verschwörungstheorien.

Mit rationalen Argumenten ist ­ihnen doch einfach beizukommen.

Nein. Im fortgeschrittenen Stadium sind die Leute praktisch nicht mehr ansprechbar. Sie sind gefangen in abstrusen Theorien, surfen den halben Tag im Web. Das ist besorgnis­erregend. Rationale Argumentatio­nen bringen da nichts mehr. Sie wä­ren so sinnvoll wie der Versuch, einem Verliebten das Objekt seiner Liebe ausreden zu wollen.

Vielmehr müssen sich Angehörige und Freunde überlegen: Wie bringen wir die Person aus dem Haus, weg vom Internet, wie lenken wir sie ab, geben ihrer freien Zeit Sinn? Nach solchen Strategien suchen wir hier mit den Ratsuchenden zusammen.

Ist die Ablehnung von Theorien für deren Anhänger nicht gerade der Beweis, dass wir uns alle mitverschworen haben?

Es kommt auf das Stadium des Verschwörungsfans an. Wenn sich jemand frisch für eine Verschwörungs­theorie interessiert, dann kann es hilfreich sein, wenn man mit ihm oder ihr kritisch diskutiert. Dann macht es Sinn, die fehlende Plau­sibilität der Verschwörungstheorie offenzulegen. Haben aber lange Dis­kussionen schon folgenlos stattgefunden, ist es angezeigt, die Strategie zu ändern.

Gibt es typische Einstiegsmodelle in die Welt der Verschwörungsfans?

Die Theorien um Chemtrails sind ein häufiger Einstieg, also die Spekulationen um Kondensstreifen am Himmel. Und natürlich der Terror­anschlag vom 11. September 2001 in New York. Das 9/11-Phänomen bildet häufig den Erstkontakt. Dann öffnet man sich für immer abstrusere Ideen bis etwa zu jener, dass Reptilien die Erde beherrschen oder dass die Erde flach ist.

«Kurlige Gestalten mit komischen Geschichten gab es schon immer. Aber früher sassen sie in der Dorfbeiz in der Ecke.»

Georg O. Schmid, Religionsexperte


Sie haben das Internet als Quelle erwähnt. Ist es der Motor für moderne Verschwörungstheorien?

Das ist klar: Ohne Internet gäbe es Verschwörungstheorien im heutigen Ausmass nicht. Kurlige Gestalten mit komischen Geschichten gab es schon immer. Aber früher sassen sie in der Dorfbeiz in der Ecke, und man wusste, das ist der mit den komischen Theorien. Aber schon mit dem Querulanten im Nachbardorf konnte er sich nicht verlinken. Jeder blieb für sich. Heute finden die schrägen Vögel der Welt übers Internet zusammen und bilden eine starke Bewegung, was wiederum den Beteiligten das Gefühl gibt, bedeutend zu sein.

Kürzlich haben Internet-Konzerne Massnahmen angekündigt, den Algorithmus zu ändern und seriöse Quellen bevorzugt anzuzeigen. Dadurch sollen die Verschwörungstheorien im Netz weniger sichtbar sein. Macht das Sinn?

Diskussionen um Verschwörungsthe­orien schlagen häufig in Hassrede um. So wird zum Beispiel zum Kampf gegen Menschen aufgerufen, die vermeintlich aufseiten der Verschwörer stehen. Bildmontagen zeigen die Angeschuldigten in üblem Zusammenhang. Private Wohn­­adressen und Schulen der Kinder werden veröffentlicht. All das ist zwar strafbar, aber juristisches Vorgehen greift meistens ins Leere. Da kann eine Sperrung der Kanäle sehr wohl sinnvoll sein.

Wirkt es nicht kontraproduktiv als Zensur, die eben gerade die Wahr­heit unterdrücken soll?

Knallharte Verschwörungsfans gehen ohnehin davon aus, dass sie verfolgt werden. Wenn das nicht tatsächlich der Fall ist, imaginieren sie die Verfolgung. Wenn ein Verschwörungsvordenker stirbt, dann heisst es in den Konspirationsforen, dass «sie» ihn nun doch zur Strecke gebracht hätten. Dass der Betreffende vielleicht schon älter war und seit Längerem krank, tut nichts zur Sache. Wer ohnehin mit Verfolgung rechnet, kann durch Sperrung allenfalls bestätigt, aber nicht weiter radikalisiert werden.

Sollten sich die Medien trotzdem mit den Verschwörungstheorien aus­einandersetzen?

Die Hinterfragung von Verschwörungstheorien ist wichtig, um sie inhaltlich zu entkräften. Offenheit dient der Glaubwürdigkeit. Gerade fehlende Offenheit bewegt häufig frühere Anhänger von Verschwörungstheorien zur Umkehr. Denn wenn einer in einem Forum die Plausibilität einer Verschwörungstheorie hinterfragt, wird keine Diskussion darüber zugelassen, und er fliegt aus dem Forum raus. So hat manch ein ehemliger Verschwörungsfan gemerkt, dass es mit dem postulierten Grundsatz der Anhänger einer Theorie, alles aufzudecken und umfassend zu betrachten, nicht weit her ist, im Gegenteil.

Also sollten auch Staat und Medien Gerüchten gegenüber offen sein – und etwa die Geschehnisse um die Twin-Towers am 11. September 2001 neu untersuchen?

Eine neue Untersuchung würde die Zweifel kaum aus der Welt schaffen. Was würden denn die 9/11-Kritiker sagen, wenn man erneut zum Schluss käme, dass die Al-Qaida verantwortlich ist? Man würde wiederum neue Mängel finden.

Wenn Sie einen Verkehrsunfall mit dem Aufwand untersuchen, wie dies die 9/11-Fans beim Einsturz des ­World Trade Centers gemacht haben, werden Sie zwangsläufig auf Unstimmigkeiten stossen. Irgendeine Seitenbewegung des Unfallautos stimmt nicht exakt mit den erwarteten phy­sikalischen Voraussetzungen überein.

Normalerweise interessiert das nicht. Wenn nun aber Lady Di verunfallt, haben wir das Einfalls­tor für Verschwörungstheorien weit geöffnet. Wer bei einem Ereignis ein Haar in der Suppe finden will, wird es auch finden.

Wie aber kann ein Mensch so weit kommen, dass er den Amoklauf an einer Schule 2012 in New Jersey als Inszenierung abtut? Da gab es 20 tote Kinder, Hunderte von Trauernden, Tausende von involvierten Lehrerinnen, Sanitätern, Krankenschwestern und Polizisten.

Voraussetzung ist, dass ich Staat und Medien komplett misstraue. Die Trauernden werden zu Schauspielern, die Bilder sind manipuliert. Wenn Verschwörungsfans annehmen, dass da gar nichts war, gehen sie natürlich auch nicht hin, um vor Ort Zeugen zu befragen. Verschwörungsfans recherchieren nicht, sie akzeptieren ihre Theorie aus dem Bauch heraus. Wenn man sie fragt, warum sie sich ihrer Sache dermassen sicher sind, werden Sie oft die Antwort hören: «Weil es für mich stimmiger ist.» Das sind rein emotionale Entscheidungen.

Ist in den USA dieses Misstrauen speziell gross? Viele Verschwörungstheorien werden dort in Umlauf gesetzt, von der Ermordung John F. Kennedys über die Mondlandung bis hin zu 9/11.

Tatsächlich gibt es in den USA ein traditionelles Misstrauen gegenüber dem Staat, das schon immer eine zweistellige Prozentzahl der Bevölkerung umfasste. Interessanterweise ist das allein aber noch keine Garantie für die Affinität zu Verschwörungstheorien, etwa bei den Amischen, die mit dem Staat möglichst nichts zu tun haben wollen.

Zeigt das Beispiel der Amischen, dass nebst Aufklärung auch ein starker religiöser Glaube präventiv wirkt gegen Komplott-Gespinste?

Das trifft oft zu. Verschwörungstheorien sind für viele Menschen eine Ersatzreligion, die meisten Ver­schwörungstheoretiker sind religionsfern. Sie suchen einen Sinn in einer zunehmend komplexen Welt, in der immer weniger klar ist, wer was eigentlich bewirkt. Wenn unsere Gesellschaft von anonymen Faktoren bestimmt wird, der technischen Entwicklung, dem Spiel der Wirtschaft, Moden und Trends, ist das für Verschwörungsfans zu wenig konkret, also wünschen sie sich jemanden, der die Kontrolle hat. Für re­ligiöse Menschen kann das Gott sein – oder auch Satan. Sich zur Weltherrschaft verschwörende Men­schen sind dann unnötig.

«Protestanten sind sonst wenig anfällig, aber im evangelikalen Bereich findet sich das Antichrist-Früherken­nungs-Ratespiel.»

Georg O. Schmid, Religionsexperte


Aber im Antichrist, der in Menschengestalt das Böse in die Welt bringt, manifestiert sich doch oft auch eine Verschwörung.

Das ist in der Tat der Punkt, wo sich der Protestantismus anfällig zeigt für Verschwörungstheorien. Protestanten sind alles in allem wenig ver­schwö­rungsaffin, aber im evangelikalen Bereich findet sich als eine Art freikirchliche Konspi­ra­tions­the­se das Antichrist-Früh­erkennungs-Ratespiel. Demzufolge glauben manche Evangelikale, dass der Antichrist schon unter uns weile und seine Macht­übernahme vorbereite, indem er sich mit Staaten und Organisationen verschwöre. Diesen angeblichen Verflechtungen wird dann nachgespürt.

Gibt es weitere Beispiele aus diesem Umfeld?

Da ist beispielsweise der Aargauer Ex-Polizist Pierre Neyer, der mit seinem Prophetischen Dienst ein Hauskreissystem aufgezogen hat. Wenn eine seiner Prophezeiungen nicht einzutreten scheint, dann hat er sich trotzdem nicht getäuscht. Vielmehr vertuschen Verschwörer, dass die Prophezeiung eigentlich erfüllt wäre. So hat Neyer vor einigen Jahren vorausgesagt, dass der Islam im Begriff sei, komplett zusammenzubrechen. Es gebe in islamischen Ländern eine grosse Erweckung, in den Moscheen werde Jesus verehrt. Dass wir nichts davon erführen, dass die Medien nicht berichteten, sei eine Vertuschung.

Und die Verschwörungstheorien sind mittlerweile auch im esoterischen Umfeld en vogue?

Die heutige Esoterik-Szene ist weitgehend durchsetzt von Verschwörungstheorien. Vor 20 Jahren war das noch anders, vor 100 Jahren oh­nehin. Rudolf Steiner beispielsweise kam völlig ohne Verschwörungstheorie aus. Aber in den Jahrzehnten danach wurden mehrmals Zeitenwenden vorausgesagt, mit dem New Age, der Jahrtausendwende, dem Jahr 2012 im Maya-Kalender – und nichts von alledem ist eingetroffen. Verschwörungen können das einfach erklären.

Irgendwann hilft aber eine Verschwörungstheorie nicht mehr, und das esoterische Gebäude wankt. Kornkreise kommen beispielsweise immer mehr aus der Mode.

Bei den Kornkreisen ist die Entwicklung gut zu beobachten. Die ersten tauchten in den 80er-Jahren in England auf, in den 90ern wurden sie bei uns populär. Laut Theorie hätten sie ja eine Botschaft haben sollen, aber deren Inhalt blieb mehr als unklar. Auch die Ankunft von Ausserirdischen, die sie ankünden sollten, hat nicht stattgefunden. Insofern wurden die Erwartungen enttäuscht. Wenn Sie heute Kornkreisforschende fragen, sind diese plötzlich viel zurückhaltender: Sie sprechen von Energieplätzen, nicht mehr von Zeitenwenden.

Verschwörungen existieren ja tatsächlich. Wie unterscheiden sie sich denn von falschen?

Ein typisches Merkmal für echte Verschwörungen ist die geringe Zahl der Eingeweihten. Bei der Verschwö­rung zur Ermordung von Cäsar, bei Watergate oder der CIA-Invasion in der kubanischen Schweinebucht waren es überschaubar viele Involvierte. Weiter verfolgen echte Verschwörungen einen ganz bestimmten Zweck, ein klar definiertes Ziel. Und: In der Regel fliegen sie ziemlich bald auf.

Und was macht im Gegensatz dazu die Verschwörungstheorie aus?

Sie ist global, ihre Zwecke sind welt­umspannend. Manchmal geht es gar um die Weltherrschaft. Oder bei 9/11 soll es angeblich darum gegangen sein, einen grossen Krieg anzuzetteln. Typischerweise bedingen Verschwörungstheorien, dass grosse Menschengruppen eingeweiht sind. Ein Beispiel wäre die Theorie, dass die Erde eigentlich eine Scheibe sei. Da müssten mehrere Millionen Men­schen und ganze Branchen beteiligt sein: Flugindustrie, Tourismusbranche, Raumfahrt, Meteorologie und so weiter.

Ebenfalls einen langen Atem hat das Modell, dass die Juden sich gegen die Welt verschworen haben. Warum hält sich dieses antisemitische Thema so lange?

Das ist das Traurige an den Verschwörungstheorien, dass sie uralten Rassismus weiter transportieren. Die «Protokolle der Weisen von Zion», die angeblich eine Verschwörung des Weltjudentums beweisen, sind x-mal widerlegt worden – und trotzdem werden sie bis heute geglaubt, nicht nur bei uns, sondern auch in der muslimischen Welt. Wer wissenschaftlichen Beweisen keinen Glauben schenkt und stattdessen sein Weltbild aus Emotionen heraus bildet, kann aus der Geschichte nicht lernen.

Georg O. Schmid, 51

Georg Otto Schmid wuchs als Sohn ei­nes reformierten Pfarrers auf und studierte Theologie und Religionswissenschaften in Zürich und Basel. Seit 2014 leitet er die Informationsstelle Kirchen-Sekten-Religionen, kurz: Relinfo. Am 9. November 2018 organisiert Relinfo eine Tagung zu Verschwö­rungstheorien in Zürich.

www.relinfo.ch