Schwerpunkt 28. Mai 2021, von Nicola Mohler, Felix Reich

Ein schützenswerter Stolperstein im Alltag

Sonntag

Er ist als Ruhetag unter Druck. Verkehrsaufkommen und Konsummöglichkeiten wachsen. Aber Bundesparlament und Berner Stimmvolk haben zusätzliche Sonntagsverkäufe abgelehnt.

Geht es um Ladenöffnungszeiten, wird der Sonntag zum Politikum. Zuletzt bissen Deregulierer auf Granit. Mit dem Covid-19-Gesetz, über das am 13. Juni abgestimmt wird, wollten die Wirtschaftskommissionen von Nationalrat und Ständerat den Kantonen eigentlich ermöglichen, 2021 und 2022 zwölf statt nur vier Sonntagsverkäufe im Jahr zu erlauben. In beiden Räten scheiterten die Vorstösse knapp.

Das Berner Stimmvolk verhinderte einen Liberalisierungsschritt am 7. März auf Kantonsebene. Es lehnte die Erhöhung von zwei auf die vom Bund erlaubten vier Sonntagsverkäufe für den Detailhandel ab. Damit gehörte die Sonntagsallianz zu den Abstimmungssiegerinnen. Zum Verbund gehören neben diversen Gewerkschaften sowie SP und Grünen auch die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) und eine Kommission der katholischen Bischofskonferenz.

Das Ende der Zerstreuung

Trotz Abstimmungserfolgen sehen sich die Kirchen in der Defensive. Vor der Revision des Arbeitsgesetzes 2005 sprachen die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Schweiz von ­einer Tendenz zu «einer generellen Liberalisierung». Tatsächlich fand der Sonntagsverkauf an gut frequentierten Bahnhöfen und Flughäfen gegen den Widerstand der Kirchen damals eine Mehrheit.

In ihrer Stellungnahme hatten die Kirchen neben der religiösen Wichtigkeit des Sonntags als Tag des Gottesdienstes und der Gemeinschaft die gesamtgesellschaftliche Bedeutung betont: «Der Sonntag befreit von der Last der Arbeit.»

2013 nannte die EKS den Sonntag als «einen Stolperstein», den es zu bewahren lohne: Er sei «eine Art Therapie gegen den Alltag und eine Entzugseinrichtung gegen den Rausch narkotisierter Betriebsamkeit». Denn die Ausrede, keine Zeit für Familie und Freunde zu haben, falle weg. Der Sonntag werfe den Menschen auf Fragen der persönlichen Lebensführung zurück und sei eine Herausforderung «für unsere eingeschliffenen Lebensweisen».

Die «Herabsetzung des Sonntags» auf die Ebene eines normalen Wochentags steht für den Sozialethiker Johannes Michael Schnarrer (1965–2008) für den Verlust des Religiösen: «Wenn der Sonntag als Bastion der Ruhe fällt, ist es ein weiterer Säkularisierungsschritt hin auf eine ent-religionisierte Welt.»

Mit der Säkularisierung, die sich in der Liberalisierung des Arbeitsgesetzes zeigt, droht der natürliche Lebensrhythmus verloren zu gehen, der dem religiösen Gedächtnis eingeschrieben ist, warnen kirchliche Stimmen. Als «soziale Umweltverschmutzung» kritisierte der Jesuit und Sozialethiker Walter Kerber (1926–2006) die Umdeutung des Sonntags in einen Werktag. Er wies darauf hin, dass nicht nur Seen, Flüsse oder Meere Ruhezeiten zu ihrer Regeneration benötigen, sondern auch die Menschen, «um ihre seelischen, geistigen sowie physischen Kräfte wieder aufzurichten».

Ganz ohne religiöse Argumente unterstützt der Psychologe Heinz Zangerle diese These, wenn er den Sonntag als «ein gesellschaftliches Therapeutikum, eine Art gemeinschaftlich verordneter Stressbremse» beschreibt, «die uns immer wieder dabei hilft, die Balance zu finden zwischen Aktivität und Ruhe».

Das Dogma der Deregulierer

Wie in der Debatte über das Covid-19-Gesetz im Parlament wird das Ende des Sonntagsverkaufsverbots gern als Wirtschaftsförderung verkauft. Die EKS hinterfragt dieses Dogma der Deregulierer. Vielleicht verlagere sich der Umsatz nur, statt zu steigen. Zudem litten kleinere Geschäfte noch stärker unter dem Verdrängungskampf. Dass Sonntagsarbeit der Wirtschaft insgesamt nütze, lasse sich deshalb nicht behaupten.