Er war kurz davor, sich den goldenen Schuss zu geben
Michel Sutter ist Ex-Junkie. Vor elf Jahren gelang ihm der Ausstieg aus der Sucht. Heute hilft er mit dem Verein Peerspektive Betroffenen, zu ihrer inneren Stärke zurückzufinden.
Michel Sutter ist jeden Tag bestrebt, seine innere Ruhe und Zufriedenheit zu hegen und zu pflegen. (Foto: Roland Tännler)

Pünktlichkeit ist ihm wichtig. Zu einer Verabredung kommt er meistens schon fünf Minuten früher, nur um auf keinen Fall zu spät zu sein. Es braucht nicht viel, um Michel Sutter zu einem Spaziergang zu überreden. «Ich bewege mich gern draussen – lieber, als im Café herumzusitzen», sagt er gut gelaunt. Seine Figur ist sportlich, sein Teint auffällig gesund. Er trägt Sneakers, schwarze Chinohose, Daunenjacke.
Was man ihm nicht ansieht und auch kaum glauben kann: Er war mal ganz unten. Drogensüchtig, obdachlos und kriminell. Eigentlich hatte er sich schon ganz aufgegeben, war kurz davor, sich den goldenen Schuss zu geben. Bevor die ganz grosse Wende kam. Etwas in ihm wollte leben.
Schlechter Start
Aber der Reihe nach. Aufgewachsen ist er in Würenlingen im Kanton Aargau. Seine Familie war gut situiert. Der Vater führte eine kleine Schreinerei mit ein paar Angestellten. Doch der Schein trog: «Beide Eltern waren psychisch krank und alkoholsüchtig, schon seit ich denken konnte.» Seine Mutter trank heimlich, litt unter Depressionen und unternahm mehrere Suizidversuche, ein Klinikaufenthalt folgte auf den anderen. «Ich habe als Kind immer wieder eine latente innere Todesangst verspürt», erzählt der 47-Jährige. Stets lastete ein grosser Druck auf ihm wie ein Stein.
Sein erstes Bier trank er im Alter von 14 Jahren an einer Fasnacht. «Plötzlich wurde es leicht um mich. Nach dem zweiten Bier flog ich nach Hause. Ich wusste sofort, dass ich damit – vermeintlich – alle Probleme lösen kann.» Mit Ach und Krach machte Sutter eine KV-Lehre. Bezeichnete sich damals selber als «Alki» und fand es sogar ein bisschen cool. Als er 20 Jahre alt war, beging sein Vater einen, wie er es nennt, «aggressiven Suizid», benutzte dazu das Sturmgewehr des Bruders. «Ich war zu dieser Zeit eh schon in der Schwebe», sagt er rückblickend, «aber das hat mich komplett aus der Bahn geworfen.» Im Abschiedsbrief gab ihm der Vater die Schuld an seinem Suizid. Unerträglich.
Sutter wollte abschalten, die Realität vergessen. Es begann eine etwa vierjährige Partyzeit mit allen möglichen Drogen. Das Niederdorf, das sich an diesem schönen Herbstmorgen so idyllisch und ruhig präsentiert, war mit seinen Bars und Clubs eine Art nächtlicher Unterschlupf. Jede Gasse, jeden Winkel kennt Sutter. «Hier wurde gedealt, was das Zeug hielt.» Ecstasy, Speed, Kokain. Sutter übernachtete in seinem Auto. Arbeitete in Gelegenheitsjobs, um sich die Drogen zu finanzieren. Später kam eine kleine Erbschaft, die er im Nu wieder verjubelte.
Als er 24 Jahre alt war, starb sein bester Freund an einer Überdosis Heroin. «Es folgte ein kurzer Moment des Innehaltens», sagt er just in dem Moment, als die Uhr der Predigerkirche elf Uhr schlägt.
Wiederholtes Scheitern
Sutter liess sich nach dem Tod seines Freundes in die Psychiatrie einweisen und stationär therapieren. «Ich kam als neuer Mensch raus.» Er fand eine Wohnung in der Stadt Zürich und einen Job auf einer Bank. An Intelligenz mangelte es ihm nicht. Er solle Karriere machen, fand sein Arbeitgeber, sogar zu einem Wirtschaftsstudium wollte man Michel Sutter überreden. Das Glück hielt jedoch nur zwei Jahre. Eine kränkende Bemerkung einer Kollegin genügte, «und ich trank zum Trotz ein Bier». Denn mit Kritik konnte der junge Mann damals nicht umgehen.
Bald schon nahmen die Drogen wieder Besitz von ihm. Er konsumierte die Nächte durch, ging am Morgen «mit Müh und Not» arbeiten. In jeder Pause schüttete er Alkohol rein, über Mittag besorgte er sich Stoff. Schliesslich wurde er vor der Kündigung krankgeschrieben, was ihm zwei Jahre Taggeld einbrachte.
Man traut seinen Ohren nicht: «6000 Franken reichten in der Regel für drei Tage», sagt Sutter offen und ehrlich. Kokain war sein Leben. Bald verlor er die Wohnung und seine Beziehung. Den ganzen Tag tummelte er sich auf der Gasse herum – hauptsächlich im Kreis 4, im Langstrassenquartier. Er begann, sich Drogen zu spritzen, und war Dauergast bei den städtischen Kontakt- und Anlaufstellen, die nach der Letten-Schliessung eingerichtet worden waren. Mehrere Therapieversuche scheiterten. Als Sozialfall, der er mittlerweile war, sah er nur noch einen Weg, um an Geld zu kommen: kriminell zu werden. Über hundert Einbrüche hat er auf dem Kerbholz. Er brach in Bürogebäude ein, stahl Wertgegenstände, die er für Drogen verkaufte.
Eines Tages, es war der 8. Januar 2010, wurde Sutter auf frischer Tat ertappt. Besser gesagt: Er lieferte sich selber ans Messer, indem er nach der Tat einem Polizisten «unbewusst absichtlich» in die Arme lief, wie er heute glaubt. Sieben Monate verbrachte er mit Mitte dreissig in Zürcher Untersuchungshaft.
Wundersame Kraft
Kaum draussen, beschloss er, sich das Leben zu nehmen. Ein letzter Einbruch, um sich die Drogen für den finalen Schuss zu kaufen. Wieder wurde er verhaftet – und dann passierte das Wunder. Die Staatsanwältin, die Pikett hatte, brachte ihm bei aller Strenge so etwas wie Wohlwollen entgegen. Es war ein Gefühl, an das sich Sutter klammerte und nach dem er lechzte wie ein Durstender nach Wasser. In ihm ging etwas auf, ein inneres Licht, das ihm fortan den Weg zeigte. Man könne es Resilienz nennen, durchaus.
Ausschlaggebend waren auch die Worte einer Ärztin, die seinen letzten Entzug begleitete. Etwa die Aussage, dass das Gehirn bis ins hohe Alter formbar sei. «Daran hielt ich mich fest. In den vielen Therapien konditionierte ich mich um und arbeite bis heute daran.» Seit nun elf Jahren ist Michel Sutter clean. Er lebt in Wollishofen und arbeitet in der Klinik St. Pirminsberg als Peer-Mitarbeiter auf der Suchtstation. Ausserdem ist er Geschäftsleiter des Vereins Peerspektive, der sich für die Entstigmatisierung und Enttabuisierung von Sucht und psychischer Krankheit einsetzt. Auf seinem eigenen Youtube-Kanal spricht er Betroffene an und versucht, ihnen einen Weg aus der Sucht aufzuzeigen.
Er liebt es, Wälder und Berge joggend oder radelnd zu erkunden. «Ich bin täglich bestrebt, meine innere Ruhe und Zufriedenheit zu hegen und zu pflegen.» Er ist überzeugt: Es gibt eine Eigendynamik im Guten und im Schlechten. Man habe immer eine Wahl. «Gibt man sich dem Guten hin, kann Unglaubliches geschehen.» Entscheidend sei das soziale Netz. Hier gelte es, herauszufinden, wer einem guttue.
Das goldene Licht der Herbstsonne erleuchtet die Szene. Michel Sutter nimmt einen Schluck aus seinem Coffee-to-go-Becher und schaut auf seine Uhr. Er müsse bald los, sagt er. Sonst riskiert er eine Parkbusse. «Heute bin ich schon fast ein Bünzli», meint er. Und das sei ein gutes Gefühl.
Die Fähigkeit, Krisen erfolgreich zu meistern
Der Begriff Resilienz bezeichnet die psychische Widerstandskraft. Im Zentrum der Forschung steht die Frage: Wie kommt es, dass resiliente Menschen stark aus Krisen hervorgehen, an denen andere zerbrechen? 1977 veröffentlichte die US-amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner eine wegweisende Studie: Auf der hawaiianischen Insel Kauai wurden 698 Kinder während 40 Jahren beobachtet. Ein Drittel wuchs unter erschwerten Bedingungen wie Armut oder elterlicher Gewalt auf. Die Mehrheit dieser unterprivilegierten Kinder scheiterte ebenfalls. Ein Drittel von ihnen war später aber erfolgreich, erwies sich als resilient. Werners Fazit: Resilienz entsteht meist früh. Aber sie lässt sich im Zusammenspiel mit positiven sozialen Beziehungen auch im späteren Leben noch erlernen.