Schwerpunkt 13. November 2021, von Nadja Ehrbar

Ein Mord hat ihre Welt aus den Angeln gehoben

resilienz

Mirjam Neis war 19 Jahre alt, als ihr Bruder die Grosseltern umbrachte. Dass sie alles über die schreckliche Tat erfahren wollte, hat ihr geholfen, das Trauma zu überwinden.

Mirjam Neis zeigt weder Regung noch Emotionen, als sie den Tag schildert, der ihre Welt aus den Angeln hob. Sie war 19 Jahre alt, als am 30. März 2006 ihre Grosseltern starben – brutal niedergestochen. Was ohnehin schwer zu ertragen ist, war in Neis’ Fall gar unfassbar. Denn der Täter war ihr vertraut.  

Damals steht sie kurz vor dem Staatsexamen zur Pflegefachfrau und wohnt noch bei ihren Eltern in der Nähe von Berlin. Neis arbeitet im Operationssaal eines katholischen Spitals, hat alle Hände voll zu tun, als der Pflegedienstleiter sie zu sich ruft. «Das war sehr aussergewöhnlich», erzählt Neis, «denn das tat er sonst nie.» Sie befürchtet, etwas falsch gemacht zu haben. Im Büro empfängt sie der Chef mit einer Seelsorgerin. Dann, im kleinen Gebetsraum der Krankenhaus-Kapelle, erfährt sie: «Oma und Opa sind tot.» Mehr nicht. Neis schiesst durch den Kopf: «Warum sagen mir das nicht meine Eltern?»

Die Fähigkeit, Krisen erfolgreich zu meistern

Der Begriff Resilienz bezeichnet die psychische Widerstandskraft. Im Zentrum der Forschung steht die Frage: Wie kommt es, dass resiliente Menschen stark aus Krisen hervorgehen, an denen andere zerbrechen? 1977 veröffentlichte die US-amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner eine wegweisende Studie: Auf der hawaiianischen Insel Kauai wurden 698 Kinder während 40 Jahren beobachtet. Ein Drittel wuchs unter erschwerten Bedingungen wie Armut oder elterlicher Gewalt auf. Die Mehrheit dieser unterprivilegierten Kinder scheiterte ebenfalls. Ein Drittel von ihnen war später aber erfolgreich, erwies sich als resilient. Werners Fazit: Resilienz entsteht meist früh. Aber sie lässt sich im Zusammenspiel mit positiven sozialen Beziehungen auch im späteren Leben noch erlernen.

Auch zwei Beamte der Kriminalpolizei sind da, sie bringen sie auf die Wache. Während der ganzen Fahrt schweigen sie. Neis ahnt, dass etwas nicht stimmt. «In diesem Moment glaubte ich aber noch an einen schlechten Scherz.» Auf der Wache muss sie in einem Zimmer auf ihre Eltern warten, die offenbar verhört werden. Doch dann öffnet sich endlich die Tür, ihre Eltern treten zu ihr hin, die Mutter sagt: «Dein Bruder ist es gewesen.»

Der Schmerz war gross

«Ich bin innerlich zerbrochen», erinnert sich die heute 35-Jährige, als wäre es gestern passiert. Sie sitzt am Esstisch ihres Wohnzimmers in der Nähe von Basel: heller Teint, sanfte braune Augen. Sie blickt ernst. Ihre Stimme bleibt fest: «In dem Moment habe ich realisiert, dass es Wirklichkeit ist. Es hat einfach nur geschmerzt.» 

Heute, 16 Jahre später, macht die Mutter eines fünfjährigen Sohnes und einer siebenjährigen Tochter keinen Hehl aus ihrem Schicksal. Sie erzählt es allen, die danach fragen. Es ist dann, als würde sich eine Schleuse öffnen. Worte und Sätze sprudeln nur so heraus, sie macht kaum Pausen. Auch ihre Kinder wissen, was der Onkel getan hat. «Darüber schweigen wollte ich auf keinen Fall», hält Neis fest. Gerade weil die Tat ihres Bruders sehr viel mit Schweigen zu tun habe.

Weshalb der damals 21-Jährige seine Grosseltern niedergestochen hat, ist bis heute nicht ganz geklärt. Seiner Tat ging weder ein Streit voraus, noch hatte er ein gestörtes Verhältnis zu den beiden. Im Nachhinein erfährt Neis, dass ihr Bruder in dem Heim, wo er sich zum Altenpfleger ausbilden liess, mehrere Personen umbringen und sich dann selbst richten wollte. Weshalb er stattdessen in die Wohnung der Grosseltern ging, sie mit zahlreichen Messerstichen tötete, um sich danach selbst ein Messer in den Bauch zu rammen, weiss er aber nicht mehr. 

Ihr Bruder habe nie viel gesprochen, sagt Neis. «Er war introvertiert, stotterte und hatte in der Schule Mühe mit Lesen und Schreiben, obwohl er intelligent ist.» Er habe sich mit dem Tod beschäftigt und vor der Tat ein Buch über Amokläufe ausgeliehen.

Die Not verschwiegen

Auch in der sehr konservativen freikirchlichen Gemeinde, in der die beiden aufwachsen, spricht man nicht offen über Probleme. So erzählt der Bruder auch niemandem, dass er an seinem Arbeitsort wegen ungenügender Leistungen eine Abmahnung erhalten hat. «Er hat alles mit sich selbst ausgemacht», sagt Neis. «Wir hatten von seiner innerlichen Not keine Ahnung.» 

Um eine Ahnung davon zu erhalten, weshalb es zur Schreckenstat gekommen ist, fährt sie zur Wohnung ihrer Grosseltern. «Was ich dort sah, hat mir fast den Verstand geraubt», sagt sie. Blut, überall. «Es war wie in einem Horrorfilm.» Doch statt sich umzudrehen und das Weite zu suchen, schnappt sie sich Lappen und Eimer. Sie beginnt, das Blut aufzuwischen. «So schrecklich es war, ich musste es tun.» Diese Handlung habe ihr dabei geholfen, die Wirklichkeit zu begreifen.

Wie unfair, dass er von der Bildfläche verschwinden kann, während sie sich den Verurteilungen der Gesellschaft stellen muss.

Von ihrem Bruder erhält sie vorerst keine Antworten auf die Fragen nach dem Wie und dem Warum. Sie besucht ihn zwar im Gefängnis, darf wegen der laufenden Ermittlungen aber nicht über die Tat sprechen. Wie unfair, dass er von der Bildfläche verschwinden kann, während sie sich den Schlagzeilen, dem Aufsehen, den Verurteilungen der Gesellschaft stellen muss: «Weisst du eigentlich, wie schlimm es ist, ständig von der Presse belästigt zu werden?», wirft sie ihm an den Kopf, «Bilder von dir in der Zeitung zu sehen?» Sie weiss nicht, wie sie die nächsten Tage überstehen soll. Dabei ahnt sie nicht, dass sie am Anfang eines langen Versöhnungsprozesses steht.  

Nach nur einer Woche geht sie wieder zur Arbeit, besteht das Staatsexamen und findet in der Region Stuttgart eine neue Stelle. Sie lernt ihren zukünftigen Mann kennen, auch ein Krankenpfleger. Die beiden beschliessen, in die Schweiz zu ziehen. «Ich wollte schon immer mal weiter weg», sagt Neis. Die Schweiz kannte sie von den Ferien, die sie regelmässig bei Verwandten im Berner Oberland verbrachte. Und so tritt sie im Inselspital in Bern eine Stelle als Pflegefachfrau an.

Der Bruder wird 2007 zu 14 Jahren Haft verurteilt, er kommt in die forensische Psychiatrie, beginnt eine Therapie. Neis verzichtet einige Zeit auf Besuche bei ihm. «Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte.» Sie habe in jener Zeit auch mit Gott gerungen und ihn gefragt: «Was soll ich eigentlich?» Doch dann sei es gewesen, als würde sie dieser fragen: «Wieso denkst du, dass du besser bist? Du bist genauso eine Sünderin, es gibt keinen Unterschied zwischen grossen und kleinen Sünden.» In diesem Augenblick beschliesst Neis, ihrem Bruder zu vergeben. Doch so einfach ist das nicht. 13 Jahre sollten noch ins Land gehen, bis es ihr gelingt.

Telefonate reichten nicht

Sie bleibt mit ihm in Kontakt, die beiden telefonieren regelmässig. Doch das reicht Neis nicht, sie muss etwas tun. So beschliesst sie, sich für Angehörige von Tätern und Opfern einzusetzen. Deshalb meldet sie sich bei der Organisation Prison Fellowship Schweiz, die von Kriminalität betroffene Menschen unterstützt und ihnen beispielsweise hilft, Bewilligungen für regelmässige Besuche im Gefängnis einzuholen. 

Auch im Schweizer Forum «Restaurative Justiz» engagiert sich Mirjam Neis. Die Vereinigung trägt der Tatsache Rechnung, dass viele Opfer leiden, weil etwa unbeantwortete Fragen zur Last werden. Indem das Forum sie mit verurteilten Tätern zusammenbringt, können sie ihre Erlebnisse aufarbeiten und Fragen stellen. Die Täter überdenken im Gegenzug ihr Handeln und übernehmen Verantwortung.

Kein Recht zum Urteil

Aussenstehende bezeichnen Neis gern als resilient. Das ist ihr aber «zu allumfassend». Sie ist froh, dass sie den psychischen Ausnahmezustand, in dem sie sich zwei Jahre lang befand, gut bewältigt hat. Und zwar, weil sie sich mit den Geschehnissen auseinandergesetzt hat, alles über die Tat erfahren wollte, «auch wenn es noch so brutal war». Früher habe sie ihre Gefühle kontrolliert, kaum Emotionen zugelassen. Das sei heute anders. Sie habe akzeptiert, dass das dunkle Kapitel zu ihrem Leben gehöre. Und darum spricht sie auch darüber.

Ich bin überzeugt davon, dass es Gott war, der die Brücke zu meinem Bruder geschlagen hat.
Mirjam Neis

Aus der freikirchlichen Gemeinde ist die Familie schon kurze Zeit nach der Tat ausgetreten. Doch den Glauben an Gott hat Mirjam Neis nicht verloren. «Er war es, der die Brücke zu meinem Bruder geschlagen hat», glaubt sie. Und Gott sei es auch gewesen, der sie damals gehalten habe, als alles andere zusammenbrach. Gott lässt sie erkennen, dass es ihr nicht zusteht, über die Tat ihres Bruders zu urteilen. An einem Abend im Jahr 2019 steht sie vor den Bruder hin und sagt: «Ich habe dir vergeben.»