Reta Caspar, 60, Redaktorin «frei-denken», Freidenker-Vereinigung der Schweiz
«Das Christentum hat Europa geprägt und die europäische Geschichte mehr als ein Jahrtausend lang bestimmt. Begriffe wie ‹christliches Abendland› und ‹christliche Werte› hingegen gehören in die Geschichtsbücher, denn die geistige, wissenschaftliche und gesellschaftliche Weiterentwicklung Europas seit der Renaissance beruht auf der zunehmenden Befreiung von diesen Werten. Der von Konservativen beschworene ‹Untergang des christlichen Abendlandes› hat also längst stattgefunden – und das ist gut. Denn nur so konnte eine offene Gesellschaft mit moderner Rechtsstaatlichkeit entstehen, in der jeder Einzelne über sein Leben selbst bestimmen kann.»
Pirmin Meier, 70, historiografischer Autor
«Philosoph Josef Pieper, Mann des Widerstandes im Dritten Reich, definierte ‹Abendland› als ‹theologisch begründete Weltlichkeit›. Darunter verstand er keinen Gottesstaat, sondern ein ökumenisches Gemeinwesen, in dem das Gewissen als Wert anerkannt bleibt. Historisch grenzte sich das ‹Abendland› zuerst von der Ostkirche ab, dann vom Islam, im Kalten Krieg vom Kommunismus und Totalitarismus. Der Begriff kann auch missbraucht werden. Die katholische Kirche führte 1453 das Elf-Uhr-Läuten ein als Gebetsaufruf gegen den Vormarsch des Islam. Das ist nicht neu zu aktualisieren, darf aber als Zeichen gegen religiösen Totalitarismus zu denken geben.»
Montassar Benmrad, 50, Präsident der Föderation islamischer Dachorganisationen der Schweiz (FIDS)
«Wir leben in einer Gesellschaft, die sehr viele gemeinsame Werte wie Nächstenliebe, Solidarität, Hilfsbereitschaft und Freiheit teilt. Alle Religionen tragen diese wichtigen und grundlegenden Werte mit. Ein friedliches Zusammenleben findet statt, wenn jeder seine Überzeugung frei ausleben darf. Ob nun mehrheitlich christlich in der Zahl, konfessionslos, muslimisch oder jüdisch, alle begegnen sich mit Respekt. Das Abendland hat das Christentum vor langer Zeit übernommen und wurde dadurch geprägt. In den letzten Jahrhunderten wurde diese Gesellschaft auch durch viele positive Beiträge von Akteuren mit neuen Gedankenströmen beeinflusst und geformt.»
Marc Jost, 43, Generalsekretär Schweizerische Evangelische Allianz
«Das christliche Abendland gab es einmal, heute ist der Begriff nicht mehr geeignet. Er wird nicht mehr verstanden oder tendenziös nationalistisch verwendet. Zum Glück sind die Zeiten vorbei, als die Obrigkeit darüber befand, was die Bevölkerung zu glauben hat. Schliesslich besteht gerade auch aufgrund der gewährten Glaubensfreiheit ein Nebeneinander der Religionen. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass vieles im heutigen Europa im christlichen Glauben begründet ist und dass christliche Werte Westeuropa bis heute zutiefst positiv prägen: unser Rechtsstaat, Sozialsystem und Werte wie Verlässlichkeit, Selbstbeschränkung und Solidarität.»
Herbert Winter, 71, Präsident Schweizerisch Israelitischer Gemeindebund
«Vor einigen Jahrhunderten hätte ich die Frage mit ‹Ja› beantwortet. Heute leben wir aber in Europa auf der Grundlage der Werte der Aufklärung in säkularen Rechtsstaaten. Deshalb ist die Schweiz kein christliches Land, wohl aber christlich geprägt. Ausdruck davon sind etwa Weihnachtsbeleuchtungen in jeder Stadt, christliche Gottesdienste an Radio und TV, Weihnachtsmusik am staatlichen Radio, staatliche arbeitsfreie Tage an Sonn- und christlichen Feiertagen. Ich habe kein Problem damit, auch nicht mit Symbolen, die auf diese Prägung verweisen, etwa Gipfelkreuze. Entscheidend ist, dass heute im ‹Abendland› jeder seine Religion frei leben kann.»
Claudia Bandixen, 60, Direktorin des evangelischen Missionswerks Basel Mission 21
«Christen aus Afrika kommen zu uns und fragen: ‹Wo sind die Gläubigen? Sollen wir euch das Christentum bringen?› Wir erleben aber auch Christinnen aus fremden Umfeldern, die vor Glück fast weinen, wenn sie sich hier frei bewegen können. Ich beobachte, dass die Frage nach einem ‹christlichen Abendland› von Fremden, die auf ein christliches Abendland zu treffen hoffen, als eine Frage nach dem gelebten Alltag empfunden wird. Es vermischen sich kulturelle Sichten mit religiösen Werten. Als Hauptmerkmale eines christlichen Abendlandes nennen sie oft Toleranz und die Akzeptanz der Kirchen. Und deshalb ja: Das christliche Abendland gibt es.»