Wie ein Kampfbegriff Frieden schaffte

Christliches Abendland

Adenauer und de Gaulle liebten die Rede vom Abendland als Parole für Europas Einheit, aber auch für die Kalte-Krieg-Rhetorik.

Die faschistische Abendland-Ideologie lagmit dem Untergang des Nazi-Reichs in Trümmern. Der Abendlandbegriff stand dennoch als Ersatzideologie für die Deutschen hoch im Kurs – nun mit christlichen Vorzeichen. Besonders der katholische Bundeskanzler Konrad Adenauer streute oft in seine Reden den Begriff des «christlichen Abendlands» ein.

Er fand in Charles de Gaulle einen idealen Bundesgenossen. Der französische Präsident, der ab 1959 zehn Jahre regierte, berief sich ebenfalls gerne auf das Abendland, um die Franzosen für seine Vorstellung von einem «Europa der Vaterländer» zu gewinnen. Im Abendlandbegriff verschmolzen christliche Werte mit dem Erbe der Antike. Ausserdem diente er in Zeiten desKalten Krieges zur klaren Abgrenzung vom atheistischen Ostblock.

Schon vor de Gaulles Präsidentschaft spurte der französische Aussenminister Robert Schuman mit der Gründung der Montanunion für die Schwerindustrie die europäische Einheit vor. Auch Schumann war stark katholisch geprägt. Der endgültige Grundstein für die Europäi­sche Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ist mit den 1957 unterzeichneten Römischen Verträgen 1957 gelegt worden.

Die Ratifizierung war für die regierenden italienischen Christdemokraten ein willkommenes Symbol. Das zeigt, wie das römisch-christliche Erbe zur Leitidee Europas avancierte. Die vielen katholischen Akteure illustrieren: «Christliches Abendland» hatte in der Nachkriegszeit einen katholischen Oberton, der sich als Kampfbegriff auch gegen die Säkularisierung wendete. Die weltanschauliche Klammer half indes, einen noch nie dagewesenen Frieden in Westeuropa hervorzubringen – eine Erfolgsgeschichte, die nun seit siebzig Jahren dauert.