«Ohne die Kirche würde vieles fehlen»

Glauben

Vier Menschen aus dem Kanton Zürich erzählen, warum sie in die reformierte Kirche eingetreten sind.  

Christopher Vantis ist Schauspieler, studiert in Zürich Soziologie und kehrte mit der Taufe seines Sohnes in die Kirche zurück. Der 33-jährige erzählt: 

«Mich trieb die Frage nach Gott immer schon um. Und bis heute habe ich nicht ansatzweise eine zufriedenstellende Antwort, was mit Gott beziehungsweise einer höheren Macht gemeint sein könnte.Aufgewachsen bin ich am Stadtrand von Hannover, wurde getauft und konfirmiert. In meiner Familie war man gläubig, ging aber nur an Weihnachten und Ostern in die Kirche, wohl aus gesellschaftlicher Konvention, ohne zu reflektieren.

 
Anders ich: Schon früh setzte ich mich intensiv mit Religion auseinander und hinterfragte vieles. Als Kind im Alten Testament zu lesen, war eine traumatische Erfahrung. So viel Brutalität! Später bin ich aus dem kirchlichen Unterricht geflogen, weil die Pastorin mit meinen kritischen Fragen nicht umgehen konnte. Durch einen Freund fühlte ich mich eine Zeit lang stark zum Islam hingezogen, die wunderschön bildhafte Sprache gefiel mir.

Mit 17 kam ich zum Schluss, dass die grossen Religionen wesentlich mehr Schlechtes als Gutes über die Welt gebracht haben.
Christopher Vantis

Fehlende Orientierung

In dieser Zeit erkrankte mein Vater. Jeden Sonntag ging ich allein in die Kirche. Dort waren nur ein paar ältere Frauen, nie hat mich jemand angesprochen. Als mein Vater starb, war ich 13, und der Satz, dass die Wege Gottes unergründlich sind, prägte sich mir sehr ein. 

Seinen Tod verarbeitete ich nicht gut. In meiner Jugend hatte ich grosse Probleme und wurde immer wieder straffällig. Erst heute ist mir bewusst, dass es auch daran lag, dass mir die Begleitung fehlte, ich war orientierungslos. 

Mit 17 oder 18 entdeckte ich die Literatur, las viel Brecht und kam zum Schluss, dass die grossen Religionen wesentlich mehr Schlechtes als Gutes über die Welt gebracht haben. Aus der Kirche ausgetreten bin ich erst Ende 20. Als Schauspieler mit einem kleinen Einkommen war es ein rein pragmatischer und emotionsloser Entscheid. 

Kritisch und philosophisch

Vor zwei Jahren bin ich in die Schweiz zu meiner Freundin gezogen, und wir haben ein Kind bekommen. Sie ist orthodox und wünschte sich, es taufen zu lassen.
Ich war zuerst dagegen. Weil ihr wichtig war, dass unser Kind Paten hat, befasste ich mich ihr zuliebe wieder mit dem Christentum. Ich besuchte den Gottesdienst in der Kirche in Zürich-Enge und erlebte ihn sehr tagesaktuell, mit kritischer und philosophischer Auseinandersetzung darüber, was die Existenz als Mensch in der heutigen Zeit und Gesellschaft bedeutet.

Kurz zuvor hatte ich den Text eines zeitgenössischen Soziologen gelesen, der die Kirche als Ort versteht, wo sich Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft unter einem Dach versammeln. Mir wurde klar, dass wir solche Möglichkeiten der Vergemeinschaftung nutzen sollten. 

Darauf führte ich mehrere Gespräche mit der Pfarrerin unseres Kirchenkreises, Jacqueline Sonego Mettner. Wir liessen unseren Sohn von ihr taufen, und gleichzeitig mit meinem Kind trat auch ich in die reformierte Kirche ein.»

Von katholisch zu reformiert: Erst sind die Kinder von Nicole Eberhard konvertiert und kürzlich auch sie selbst.  Die 52-jährige erzählt: 

«Obwohl ich nicht religiös bin, war für mich klar, dass wir unsere Kinder taufen lassen würden. Mir ist wichtig, dass sie eine christliche Allgemeinbildung erhalten und in der Kirche diese Form von kultureller Teilhabe kennenlernen.

Ich selbst habe viele schöne Kindheitserinnerungen, die mit der katholischen Kirche in Verbindung stehen. Als Mädchen gefiel es mir, im weissen Kleidchen die Kommunion zu feiern. Später bei der Firmung schätzte ich es, dass meinetwegen die Familie zusammenkam. Schön war auch, mit meinem Vater an den Adventssonntagen Weihnachtslieder für die Familienfeier einzuüben, er mit Geige, ich spielte auf der klassischen Gitarre.

An den ökumenischen Anlässen wurde mir klar, dass mir die Art und Weise der reformierten Kirche mehr entsprach.
Nicole Eberhard

Sünden für den Samichlaus

Weil meinem reformierten Mann nicht so viel an der Kirche lag wie mir, entschieden wir uns, die Kinder katholisch taufen zu lassen. Doch schon beim Vorbereitungsgespräch mit dem Pfarrer fühlte ich mich nicht ganz wohl. Ich begegnete einem sehr konservativen Katholizismus, der deutlich weniger liberal war als das, was ich damals in meiner Kindheit erlebt hatte. Trotzdem blies ich die Taufe nicht ab. 

In den folgenden Jahren wurde mir an den ökumenischen Anlässen klar, dass mir die Art und Weise der reformierten Kirche mehr entsprach. Zudem waren die meisten Freunde und Freundinnen der Kinder reformiert. Es zog uns alle mehr dorthin.

Ein Schlüsselmoment war, als ich über die St.-Nikolaus-Gesellschaft der katholischen Kirche einen Samichlaus organisierte und man von mir verlangte, ein Sündenregister für die Kinder auszufüllen. Diese Aufforderung fand ich derart stossend, dass ich bei der Kirchgemeinde anrief. Ich schlug vor, über das Menschenbild hinter einer solchen Formulierung nachzudenken. Meine Änderungsvorschläge wurden jedoch komplett abgeblockt. 

Vom Angebot begeistert

Noch vor Schuleintritt konvertierten die Kinder. Ich selbst brauchte noch etwas Zeit. In den vergangenen Jahren habe ich miterlebt, mit wie viel Freude und Herzblut meine Kinder die kirchlichen Angebote nutzten: vom modern interpretierten Weihnachtsspiel über den grossen Höhepunkt, das Sommerlager, bis hin zu den spannenden Modulen für die Konfirmation. 

Gerührt – und als ausgebildete Pädagogin beeindruckt – war ich am Palmsonntag, als ich mit dem zwölfjährigen Julian den Gottesdienst besuchte, damit er erfährt, weshalb wir das Osterfest feiern. Pfarrerin Stina Schwarzenbach gestaltete die Stunde so spannend, abwechslungsreich und mit vielen Bezügen zur Aktualität, dass sogar mein grossklappiger Sohn mitsang. Beim Rausgehen sagte er, das sei eigentlich voll schön gewesen.

Letztes Jahr spürte ich deutlich, dass ich den Schritt auch machen wollte. Wir profitieren viel von der reformierten Kirche. Nun möchte ich ihr auch meine Steuern geben und dazugehören.» 

Als Kind war sie in einer Freikirche, heute  hat Salome Kiefer in Winterthur-Seen eine neue kirchliche Heimat gefunden. Die 21-jährige erzählt: 

«Den Tag, an dem ich in die reformierte Kirche aufgenommen wurde, werde ich nicht so schnell vergessen. Es war der 25. Dezember 2022, ich besuchte mit meiner Familie den Weihnachtsgottesdienst der Kirche Winterthur-Seen. Gegen Schluss bat der Pfarrer mich und meine Mutter, die ebenfalls neu in die Kirche eintrat, nach vorn. Er hiess uns beide willkommen und überreichte uns dann eine Urkunde. 

Obwohl ich nicht so gern vor Leuten stehe, war es megacool, nicht einfach im Stillen einzutreten. Ich war zwar aufgeregt, aber es tat mir gut, nach vorn zu gehen. Jetzt wussten alle Anwesenden, dass es neue Kirchenmitglieder gab, und sahen auch gleich, wer sie waren.

Glauben in die Ecke gestellt

Als Kind ging ich mit meinen Eltern und meinen älteren Brüdern mehrere Jahre lang in die Gemeinschaft Schleife, das ist eine Art Freikirche in Winterthur. Mit neun war ich das erste Mal dort, fand aber nie richtig Anschluss an meine Altersgruppe. Vom Glauben hatte ich wenig Ahnung, das Jugendprogramm sprach mich nicht an. 

Mein Vater versuchte mich zu motivieren, liess mir aber die Freiheit, selbst zu entscheiden. So hörte ich mit 14 auf, regelmässig zu gehen, und stellte den Glauben in eine Ecke. Ein wenig auch, weil ich damals in der Oberstufe keine Kolleginnen hatte, die gläubig waren, und nicht auffallen wollte. Rückblickend finde ich es megaschön, dass mich meine Eltern nicht zum Mitmachen gezwungen haben. 

Als ich 17 war, suchte mein Vater eine neue Kirche, weil es ihm in der Schleife nicht mehr ganz passte. In Winterthur-Seen gefiel es ihm, ich ging ein paarmal mit. Auch ich fand es gut und merkte, wie ich plötzlich gern in die Kirche ging, einerseits wegen der Gemeinschaft, die ich so noch nie erlebt hatte, andererseits, um von Jesus zu erfahren. 

Wenn ich Sorgen habe oder mich etwas bedrückt, lege ich es vor Jesus hin.
Salome Kiefer

Lobpreis und Catering

Am liebsten mag ich die monatlichen Lobgottesdienste am Sonntagabend, die meistens die junge Pfarrerin Sarah Roos leitet. Hier wird viel mehr gesungen und gebetet als in einem normalen Gottesdienst, und es nehmen Leute zwischen 8 und 80 Jahren teil. Es macht mir auch viel Spass, mich in der Kirche zu engagieren. Ich bin im Begrüssungsteam beim Lobgottesdienst und helfe als gelernte Köchin beim Catering für den Alphalive-Kurs. 

In den letzten Jahren habe ich erfahren, dass es für mich einfacher ist, mit Gott durchs Leben zu gehen. Wenn ich Sorgen habe oder mich privat oder bei der Arbeit etwas bedrückt, lege ich es vor Jesus hin. Manchmal möchte ich, dass sich schneller etwas verändert. Aber ich bin geduldiger geworden und lerne zu vertrauen. Es kommt immer besser, als ich es mir vorgestellt habe. 

Die Urkunde, die ich zum Kircheneintritt erhielt, hängt eingerahmt über meinem Bett. Sie erinnert mich an den besonderen Tag und dass ich jetzt fix zu einer Kirche mit coolen Leuten gehöre.»

Aus der Kirche auszutreten findet Heike Hauri kurzsichtig. Ihren Eintritt siehtsie  deshalb als Gegenmassnahme. Die 84-jährige erzählt: 

«Meine Beziehung zur Kirche war lange gekennzeichnet durch Anziehung, aber auch durch eine gewisse Ablehnung. Ich wurde 1940 in Hamburg als viertes Kind geboren. Meine Eltern hatten keinen engen Bezug zur Kirche in Hitlerdeutschland, besonders deren Haltung zu den Juden hatte sie verstört.

Als Kind gefielen mir die biblischen Geschichten, welche die frommen Frauen in der Kinderstunde erzählten, und auch unser Pfarrer war sehr freundlich. Entsprechend stolz war ich, als er meine Eltern vor der Konfirmation besuchte. Doch sie belächelten ihn nur und machten untereinander Bemerkungen, die mich als Jugendliche verwirrten.

Ein Engel spendet Trost

Nach der Berufslehre in Hamburg suchte ich eine Arbeitsstelle in Zürich. Dort lernte ich meinen späteren Mann kennen, der aus der katholischen Kirche ausgetreten war. Wir führten viele Gespräche zur Rolle der Kirchen. Später wurde er Organist und trat der reformierten Kirche bei. Als wir die Steuererklärung ausfüllten und ich unter Konfession ‹evangelisch-lutherisch› angab, meinte der Beamte, dafür zahle man in der Schweiz keine Steuern. So wurde ich konfessionslos. 

Über das Chorsingen blieb ich mit der Kirche und dem Christentum verbunden, hörte die Klänge und dachte über die Worte nach. Als mein Mann an Krebs erkrankte, war ich 47. Grosse Ängste überkamen mich. Eines Nachts hatte ich eine Erscheinung: Eine Frauengestalt trat aus der Wand heraus, liebevoll und farbig. Sie schaute mich freundlich an, ohne etwas zu sagen. Für mich war sie ein Engel, ich fühlte mich getröstet und erkannt. Dieses Erlebnis half mir, über den Tod meines Mannes hinaus mein Leben zu gestalten und das meiner Kinder zu begleiten.

Einzutreten war ein längst fälliger Schritt.
Heike Hauri

Zurück zu den Wurzeln

Viel dachte ich über Sinn und Zusammenhänge nach, näherte mich dem Zen-Buddhismus. Auf einer Pilgerreise durch Indien erkannte ich, wie gross und fremd für mich der Hintergrund dieser Kultur war, und beschloss, den Fundamenten der eigenen Kultur nachzugehen. Ich war mehrmals im evangelischen Bildungszentrum Boldern, wo ich meinen jetzigen Partner kennenlernte, und gemeinsam setzten wir uns intensiv mit der Psychologie von C. G. Jung auseinander. Danach besuchten wir den reformierten Theologiekurs der Landeskirche.

In all diesen Jahren drängte mich nie jemand dazu, in die Kirche einzutreten. Ich konnte mich als Christin empfinden und mitmachen.
Als, ausgelöst durch die Berichte über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, eine allgemeine Empörung über die Kirchen ausbrach und die Austritte zunahmen, empfand ich dies als kurzsichtig. 

Menschen machten und machen Fehler. Aber was würde alles fehlen, gäbe es die Kirchen nicht! Ich wollte meine Meinung ausdrücken und der reformierten Kirche beitreten. Ein längst fälliger Schritt!»