Schwerpunkt 16. Mai 2023, von Sandra Hohendahl-Tesch, Anouk Holthuizen

«Der Rausch ist der Kern des religiösen Empfindens»

Transzendenz

80 Jahre nach Albert Hofmanns erstem LSD-Trip sind Ekstasen, auch durch Drogen hervorgerufene, salonfähig geworden. Weshalb, erklärt der Journalist und Autor Paul-Philipp Hanske.

Cannabis, Kokain, Ecstasy: Der Konsum illegaler Drogen hat laut Medienberichten in den letzten Jahren stark zugenommen. Immer mehr Jugendliche rauchen Cannabis. Wie sehr müssen wir uns – ganz persönlich als Mütter von Teenagern – Sorgen machen?

Paul-Philipp Hanske: Tatsächlich ist bei Cannabis Vorsicht geboten. Im Buch «Neues von der anderen Seite» von 2015 gingen wir der Frage nach, ob der Konsum von Psilocybin, also halluzinogenen Pilzen, oder LSD eine Psychose verursachen kann. Die Studien zeigen eindeutig: Der Konsum psychedelischer Substanzen wie LSD und Psilocybin erhöht nicht das Risiko, eine Psychose auszubilden, die sonst nicht aufgetreten wäre. Anders ist das beim viel stärker verbreiteten Cannabis. Wer in seiner Jugend täglich kifft, trägt ein Risiko von 25 Prozent, an einer Psychose zu erkranken, zu der sonst keine Veranlagung bestehen würde. Das ist sehr hoch. Vor dieser Gefahr warne ich meine drei Jungs im Teenageralter eindringlich.

Derweil wird die Politik rund um Cannabis immer liberaler.Ist das nicht ein Widerspruch?

Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass Verbote, egal um welche Substanzen es sich handelt, nicht effektiv sind. Der Schwarzmarkt ist wegen verunreinigtem Cannabis gefährlich, weshalb es für die Volksgesundheit besser wäre, Cannabis zu legalisieren. Auch bei harten Drogen wie Heroin erreicht man mit einer kontrollierten Abgabe eine starke Reduktion sozialer Probleme, zum Beispiel Prostitution oder Kriminalität. Statt Verboten braucht es gute, informative Aufklärung.

In Ihrem neusten Buch geht es nicht um Drogenpolitik, sondern um Ekstasen, in die man durch Musik, Meditation, Sport und psychedelische Substanzen geraten kann. Sie sagen, Ekstasen seien salonfähig geworden. Psychedelika etwa konsumieren nicht mehr nur ein paar Techno-Fans, sondern auch Manager im Silicon Valley. Wie kam es dazu?

Es gibt verschiedene Gründe. Zunächst trägt die Ekstase heute einen weissen Kittel, seit in Studien nachgewiesen wurde, dass Psychedelika äusserst wirksam gegen Depressionen sein können. Zum neuen Image beigetragen haben auch Prominente wie Gwyneth Paltrow, die sich öffentlich zu Magic Mushrooms als lebensverändernde Erfahrungen bekannte. Die Ekstase ist zum Elitenphänomen geworden, manch einer bucht sich ein teures Retreat mit Ayahuasca-Ritualen, einem psychedelisch wirkenden Pflanzensud. Ekstasen sind ein Mittel für spirituelle Erfahrungen, für die Selbstoptimierung oder Heilung geworden. Und zu einer Möglichkeit des Rückzugs geworden – aus einer Welt, die uns zunehmend überfordert.

Alle grossen Religionen haben explizit ekstatische Momente, im Christentum etwa die sehr weiblich geprägte Mystik

Was geschieht in einer Ekstase?

Das Wort kommt aus dem Griechischen, es bedeutet «aus sich heraustreten». Das Bewusstsein ändert sich, Vergangenheit und Zukunft verschwinden, man befindet sich in einer ausgedehnten Gegenwart. Eine Ekstase muss willentlich mit Techniken hergestellt werden, es tritt ein Zustand des Ausser-sich-Seins ein, und das eröffnet Möglichkeiten, sich mit ich-fremden Instanzen und Identitäten zu verbinden.

Dazu braucht es aber nicht zwingend Substanzen?

Auch Rhythmen oder Meditation können das Gefühl reinster Präsenz und höchster Intensität erwirken. Psychedelische Substanzen sind sozusagen die Abkürzung dahin. Die Bilder, die man im Hirnscan während der Ekstase beobachten kann, sind alle relativ ähnlich. Im Erleben schmilzt das Zeitkontinuum auf einen absoluten Augenblick zusammen. Das Ich, wie es sich im Alltag bewähren muss, schwindet, und dadurch eröffnet sich eine neue Möglichkeit, sich mit einer anderen Instanz zu verbinden.

Das hört sich nach einem religiösen Erlebnis an.

Ist es auch. Oft wurde in der Anthropologie darüber diskutiert, ab welchem Punkt die Entwicklung des Menschen anfängt, er sich vom Tier zu unterscheiden begann. Eine sehr plausible Erklärung lautet: mit der Einführung von Bestattungsriten. Dieser Praxis liegt ein Verständnis des Menschen zugrunde, in dem der Körper und die Seele zwei getrennte und autonome Entitäten sind. Es kommt in zahlreichen religiösen Riten zum Ausdruck. Auf dieser Trennung gründet die Urreligion, der Schamanismus. Die Schamaninnen und Schamanen gingen mithilfe der Ekstase in jenseitige Welten, um im Diesseits etwas bewirken zu können. Die Ekstase ist nicht bloss ein skurriles Hinterstübchen des religiösen Empfindens, historisch gesehen ist sie vielmehr dessen Kern.

In den Landeskirchen ist nicht viel davon übriggeblieben. Im Gegenteil: Insbesondere im Protestantismus werden religiöse Ekstasen ziemlich argwöhnisch betrachtet.

Explizit ekstatische Momente kennen alle Religionen, im Christentum zum Beispiel ist es die Mystik. Doch in den monotheistischen Religionen erfolgte eine Austreibung der Ekstase. Im Katholizismus etwa wurde die Mystik, die eine sehr weiblich geprägte Angelegenheit war, mit grossem Argwohn betrachtet und als abweichende Ideologie angesehen.

Was beunruhigte die Kirchenoberen denn so?

Die Obrigkeit kann Ekstasen nicht gut kontrollieren. Weil sie so persönlich sind, sperren sie sich gegen Dogmatik. Ähnliches lässt sich im Islam beobachten. Der Sufismus wird von vielen konservativen Schulen als zu weltlich betrachtet. Im Christentum paarte sich der Vorbehalt ab dem 16. Jahrhundert mit dem Prozess, den Norbert Elias als «Zivilisation» beschreibt. Der Mensch musste zunehmend rational und vorausschauend handeln. Die Erfahrung einer Auflösung in einer gleissenden Gegenwart konnte da nur als Wahnsinn gelten.

Ekstasen sind zu einer Möglichkeit des Rückzugs geworden – aus einer Welt, die uns zunehmend überfordert

Meditation, Yoga und Ayahuasca-Rituale füllen also sozusagen das von den Amtskirchen herbeigeführte Vakuum spiritueller Erfahrung und Verbundenheit?

Ja. Viele Leute, die sich als spirituell empfinden und Ekstasen nutzen, um sich mit etwas Höherem zu verbinden, kommen aus dem christlichen Kontext. Sie haben mit der Kirche aus verschiedenen Gründen gebrochen. Das Hauptargument ist, dass sie in der Kirche kein Ergriffenwerden spüren, sie von den Ritualen angeschwiegen werden.

Gerade in der katholischen Kirche gibt es aber doch noch eine Reihe von durchaus sinnlichen Ritualen.

Es sind Rituale, die mit einem selbst nichts zu tun haben. Die Erfahrung, total in den Augenblick hineingezogen zu werden, fehlt. Es mag sein, dass sich ein paar Menschen, die tief ins Gebet versunken sind, tatsächlich im Augenblick befinden, aber ich hatte in Gottesdiensten jeweils den Eindruck, dass viele gedanklich abwesend sind. Während eines Ayahuasca-Rituals hingegen ist man durch Substanz und Setting in einer flammenden Gegenwart.

Und wie steht denn der Protestantismus zur Ekstase?

In der Reformation entstand eine Religion, die sich gegenüber dem Katholizismus als rational versteht, mit dem Fokus auf Exegese und gemeinsame Bibelarbeit. Aber es gibt auch explizit protestantische Formen der Ekstase. Etwa die Musik von Johann Sebastian Bach. Die heute deutlichsten Ausprägungen von christlicher Ekstatik sind in protestantisch-charismatischen Glaubensgemeinschaften wie etwa Pfingstkirchen anzutreffen. Hier findet man zahlreiche Elemente der Ekstase: Tanz, Gesang, animistische Heilungstechniken und Körperpraktiken wie zum Beispiel das Zungenreden.

Hätte die Kirche also vielleicht weniger Mitglieder verloren, wenn sie die Ekstasen nicht verdrängt hätte?

Diese These kann ich durchaus vertreten. Es gibt immer einen gewissen Prozentsatz an Menschen, die an «der anderen Seite» interessiert sind. Wenn es eine Institution gegeben hätte, welche diese Leute mit profunden Möglichkeiten zur Ekstase versorgte, hätte man diese persönlich vielleicht nicht in teils Illegalem gesucht, sondern im Rahmen einer grösseren Gemeinschaft.

Drogen waren immer schon in der Welt. Wichtig sind die Aufklärung und die Begleitung

Während psychedelische Pflanzen einen schweren Stand haben, sind Alkoholräusche gesellschaftlich akzeptiert. Wie erklären Sie das?

Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass stets alles verteufelt wurde, was nicht heimisch war. Das hängt auch mit der Kolonialisierung zusammen: Gewisse Substanzen lehnten die Eroberer ab. Sie dachten tatsächlich, dass die psychedelischen Pflanzen verteufelt seien. Ganz anders war es beim Alkohol. Der Rausch wurde zwar immer wieder verurteilt, bis vor 100 Jahren aber wurde Alkohol vor allem als Nahrungsmittel betrachtet. Bier war ein Nahrungsmittel für Feld- und Fabrikarbeiter. Die industrielle Revolution war geprägt von Zucker, Kartoffeln und Schnaps, weil diese eine hohe Kaloriendichte aufweisen. Alkohol wurde als Kalorienquelle betrachtet, man hatte nur ein schwaches Konzept davon, dass er auch psychotrop ist. Der Rausch wurde lediglich in seinen extremen Ausprägungen erkannt und thematisiert.

Ihr aktuelles Buch ist eine kulturhistorische Auslegung der Ekstase. Es liest sich aber auch als Plädoyer für eine offeneren Umgang mit Drogen. Ist das richtig gedeutet?

Auf jeden Fall. Man kann Drogen nicht wegnehmen. Sie sind in der Welt und waren das schon immer. Wichtig sind die Aufklärung und die Begleitung. Im Zuge der bevorstehenden Cannabis-Legalisierung in Deutschland werden sogenannte Social Clubs diskutiert, in denen Hanf angebaut und verteilt wird. Man könnte das weiterdenken und überlegen, ob es solche Clubs auch für Psychedelika wie LSD oder Psilocybin geben könnte.

Was ist der Vorteil eines Konsums in der Gruppe?

Dort könnte eine Art Mentoring für neue Konsumentinnen und Konsumenten stattfinden. Menschen, die es zu solchen Erfahrungen hinzieht, könnten ihren Trip dann in einem sicheren Rahmen erleben. Im Endeffekt würde es sich dabei um sehr humane Institutionen handeln: Man weiss, was einen erwartet und dass da Gleichgesinnte sind, die im Zweifelsfall aufeinander aufpassen. So könnte auch die Kirche einen guten Rahmen für das Erleben von Ekstasen bieten, sei es mit Musik, Tanz – oder auch Substanzen.

Paul-Philipp Hanske, 48

Paul-Philipp Hanske, 48

Der Journalist und Autor lebt in München. Paul-Philipp Hanske schreibt unter anderem für das Magazin der «Süddeutschen Zeitung» und «Capital». Gemeinsam mit Benedikt Sar­reiter gründete er 2011 die Redaktionsagentur Nansen & Picard, bei der sie ar­beiten. Hanske und Sarreiter haben zusammen das Buch «Ekstasen der Gegenwart» geschrieben, in dem sie der heutigen Sehnsucht nach Rausch­zuständen nachspüren und dabei zwischen beispielsatter Kultur­geschichte und Streitschrift pendeln. Das Sachbuch haben zwei Autoren mit viel Ekstase-Erfahrung geschrieben. Paul-Philipp Hanske, Benedikt Sarreiter: Ekstasen der Gegenwart. Matthes & Seitz, 2023, 351 Seiten, Fr. 38.90

Drogenpolitik in der Schweiz unter Druck

Die offenen Drogenszenen und die Heroinproblematik der 1980er- und 1990er-Jahre veranlassten die Schweizer Behörden 1991, die Drogenpolitik neu auszurichten. Basierte diese bis dahin auf Repression und wurden Süchtige vor allem durch private Initiativen – zum Beispiel von Pfarrer Ernst Sieber – versorgt, so legte der Bundesrat 1991 mit den «Richtli­- nien zur Nationalen Drogenpolitik» den Grundstein für die heutige Viersäu­lenpolitik, die auf Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repres-­ sion basiert. Durch Massnahmen wie etwa die Abgabe von sauberem Injektionsmaterial und von Medikamenten wie Methadon als Ersatz für Heroin konnten die Sterberate und die Infektionen mit HIV oder Hepatitis C gesenkt werden. Die Schweiz machte damit weltweit Schlagzeilen.

Mehr Freizeitdrogen

Da sich das Drogenkonsumverhalten seit den Neunzigerjahren stark geändert hat, befindet sich auch die Drogenpolitik stetig im Wandel. Heute steht vor allem der Umgang mit dem weitverbreiteten Cannabiskonsum unter Jugendlichen im Vordergrund sowie zunehmend auch andere sogenannte Freizeitdrogen wie die Psychedelika LSD, Psilocybin (halluzinogene Pilze) und MDMA sowie Alkohol. Dabei geht es nicht um schwere Folgen von Abhängigkeit, sondern um exzessiven Konsum oder Mischkonsum von Psychedelika und Alkohol. Bis 2030 möchte der Bundesrat die Cannabispolitik weiterentwickeln, die Präventionsarbeit mit Jugendlichen verstärken, einen besseren Zugang zu Betreuungs- und Behandlungsange­boten sowie «neue Massnahmen im Bereich des rekreativen Drogenkonsums» erarbeiten. Die Stiftung Sucht Schweiz kritisiert, dass es keine Kohärenz der Regu­lierung der verschiedenen Suchtmittel gibt. Während Cannabis und Psychedelika verboten sind, darf Alkohol «gren­zenlos vermarktet» werden. Sucht Schweiz fordert eine bes­- sere Präventionsarbeit und eine «Regulierung jenseits von Verboten».