Konfirmieren liess sich der in Thun aufgewachsene Lukas Bärfuss nicht. Als er herausfand, dass der Religionsunterricht fakultativ war, verzichtete er darauf. Mitten in der Phase der Pubertät und der Revolte gegen alles Etablierte fand er, er habe Gescheiteres zu tun, als sich jede Woche zwei Stunden in biblischer Geschichte unterrichten zu lassen.
«Die protestantisch-zwinglianische Staatskirche im Berner Oberland war für mich ein Feindbild», erzählt Bärfuss. Das heisst aber nicht, dass er ohne Bezug zur Bibel aufgewachsen wäre. «Die Bibel spielte in meiner Kindheit eine grosse Rolle», sagt Bärfuss auch. Doch eigentlich nur in literarischer Hinsicht.
Die Geschichten darin fanden sein reges Interesse, auch weil der Heranwachsende früh begriff, «dass das Alte Testament voller sex and crime ist». Die Bibel hatte für ihn den Vorteil, dass sie zur erlaubten Literatur gehörte.
Das Urbuch. Für Bärfuss ist die Bibel auch heute ein Urbuch. In ihr seien die Schlüsseltexte zu finden, aus ihr käme all unsere Kultur. Die Dramaturgien der einzelnen biblischen Bücher fänden sich in aller Literatur. «Sie prägten mich genauso, wie sie die gesamte Literatur prägten.»
Das Archetypische der biblischen Erzählungen machten deren Erfolg aus. In ihnen, sagt Bärfuss, werde jenseits aller göttlichen Offenbarung ein menschlicher Erfahrungsschatz abgebildet, der zeitlose Gültigkeit habe. «Das bleibt, weil der Mensch bleibt.»
Mit Blick auf die Genesis empfindet Bärfuss «Demut vor diesem Text, aus dem wir alle entstammen». Die Bergpredigt wiederum sei ein sozialpolitisch zentraler Text. Oder die Hiobgeschichte handle archetypisch von Zweifel, Krankheit, Niedergang.
Richtiggehend verschlungen hat der Schriftsteller die Schriften der Teresa von Avila und von Ignatius von Loyola. Nicht, dass er deren Weltbild übernommen hätte, doch faszinierten ihn an den Schriften der darin enthaltene Geist der Verzückung, der Ekstase für eine Sache. Und die Konsequenz, seiner Überzeugung zu folgen, ungeachtet aller Nachteile, die dieser Entscheid einbringen kann.
Die Verwandlung. Die Leserschaft soll in seinen Werken nicht direkt zu spüren bekommen, wie sehr sich Bärfuss mit religiösen Themen auseinandersetzt. Am stärksten sind diese Spuren in seinem Stück «Der Bus» lesbar, in dem eine Pilgerin den Bus besteigt, um die Schwarze Madonna zu besuchen. Im Zentrum steht die Frage, wie eine säkulare Gesellschaft mit konsequent gläubigen Menschen umgehen soll. Um existenzielle Fragen und die Suche nach Sinnhaftigkeit kreist auch sein Erfolgsroman «Koala», der den Suizid seines Bruders thematisiert.
Verwandlung – dieser Begriff ist für Bärfuss zentral. Die Literatur handle oft von Menschen, die durch eine Erkenntnis eine Verwandlung erlebt hätten, diese aber nicht mehr zur Situation passe, in der sie danach lebten. In der Weltliteratur gingen alle Figuren unter, die eine solche Verwandlung durchmachen und diese nach aussen tragen – Hamlet, Emma Bovary, Anna Karenina etwa.
Die Bibel fordere, ganz explizit in der Bergpredigt, dass man eine Verwandlung gegen aussen tragen soll, bis hin zur äussersten Konsequenz. Die soziale oder physische Vernichtung sei dabei nebensächlich, da es einen grossen Preis zu gewinnen gebe, nämlich die göttliche Gnade im Jenseits.
«Die Literatur kennt diesen Trost nicht», sagt Bärfuss. Sie habe – im Gegensatz zur Religion – bloss Fragen zu stellen. Die Religion hingegen gebe vor, die Antworten zu kennen. «Darum ist sie auch so wirkungsvoll und verführt die Menschen.»