Schwerpunkt 28. September 2016, von Stefan Schneiter

«Die Literatur hat diesen Trost nicht zu bieten»

Literatur

Er wisse nicht, was Glaube bedeute, ihm fehle es an religiösem Talent, sagt der Lukas Bärfuss über sich. Die Bibel hingegen hat seine Literatur geprägt.

Konfirmieren liess sich der in Thun aufgewachsene Lukas Bärfuss nicht. Als er herausfand, dass der Religionsunterricht fakultativ war, verzichtete er darauf. Mitten in der Phase der Pubertät und der Revolte gegen alles Etablierte fand er, er habe Gescheiteres zu tun, als sich jede Woche zwei Stunden in biblischer Geschichte unterrichten zu lassen.

«Die protestantisch-zwinglianische Staats­kirche im Berner Oberland war für mich ein Feindbild», erzählt Bärfuss. Das heisst aber nicht, dass er ohne Bezug zur Bibel aufgewachsen wäre. «Die Bibel spiel­te in meiner Kindheit eine grosse Rolle», sagt Bärfuss auch. Doch eigentlich nur in literarischer Hinsicht.

Die Geschichten darin fanden sein reges Interesse, auch weil der Heranwachsende früh be­griff, «dass das Alte Testament voller sex and crime ist». Die Bibel hatte für ihn den Vorteil, dass sie zur erlaubten Literatur gehörte.

Das Urbuch. Für Bärfuss ist die Bibel auch heute ein Urbuch. In ihr seien die Schlüsseltexte zu finden, aus ihr käme all unsere Kultur. Die Dramaturgien der einzelnen biblischen Bücher fänden sich in aller Literatur. «Sie prägten mich genauso, wie sie die gesamte Literatur präg­ten.»

Das Archetypische der biblischen Erzählungen machten deren Erfolg aus. In ihnen, sagt Bärfuss, werde jenseits aller göttlichen Offenbarung ein menschlicher Erfahrungsschatz abgebildet, der zeitlose Gültigkeit habe. «Das bleibt, weil der Mensch bleibt.»

Mit Blick auf die Genesis empfindet Bärfuss «Demut vor diesem Text, aus dem wir alle entstammen». Die Bergpredigt wiederum sei ein sozialpolitisch zen­traler Text. Oder die Hiobgeschichte handle archetypisch von Zweifel, Krankheit, Niedergang.

Richtiggehend ver­schlun­gen hat der Schriftsteller die Schrif­ten der Teresa von Avila und von Ignatius von Loyola. Nicht, dass er deren Weltbild übernommen hätte, doch faszinierten ihn an den Schriften der darin enthaltene Geist der Verzückung, der Eks­tase für eine Sache. Und die Konsequenz, seiner Überzeugung zu folgen, ungeachtet aller Nachteile, die dieser Entscheid einbringen kann.

Die Verwandlung. Die Leserschaft soll in seinen Werken nicht direkt zu spüren bekommen, wie sehr sich Bärfuss mit religiösen Themen auseinandersetzt. Am stärksten sind diese Spuren in seinem Stück «Der Bus» lesbar, in dem eine Pilgerin den Bus besteigt, um die Schwarze Madonna zu besuchen. Im Zentrum steht die Frage, wie eine säkulare Gesellschaft mit konsequent gläubigen Menschen um­gehen soll. Um existenzielle Fragen und die Suche nach Sinnhaftigkeit kreist auch sein Erfolgsroman «Koala», der den Suizid seines Bruders thematisiert.

Verwandlung – dieser Begriff ist für Bärfuss zentral. Die Literatur handle oft von Menschen, die durch eine Erkenntnis eine Verwandlung erlebt hätten, diese aber nicht mehr zur Situation passe, in der sie danach lebten. In der Weltliteratur gingen alle Figuren unter, die eine solche Verwandlung durchmachen und diese nach aussen tragen – Hamlet, Emma Bovary, Anna Karenina etwa.

Die Bibel fordere, ganz explizit in der Bergpredigt, dass man eine Verwandlung gegen aussen tragen soll, bis hin zur äussersten Konsequenz. Die soziale oder physische Vernichtung sei dabei ne­ben­sächlich, da es einen grossen Preis zu gewinnen gebe, nämlich die göttliche Gnade im Jenseits.

«Die Literatur kennt die­sen Trost nicht», sagt Bärfuss. Sie habe – im Gegensatz zur Religion – bloss Fragen zu stellen. Die Religion hingegen ge­be vor, die Antworten zu kennen. «Da­rum ist sie auch so wirkungsvoll und verführt die Menschen.»

Was ist das richtige Leben?

Der Roman «Koala» handelt in seiner ersten Hälfte vom Suizid des Bruders. Hier kommen Fragen der Trau­er, der Wut und der Schuld­­gefühle der Angehörigen zur Sprache. In der zweiten Romanhälfte wird die Kolo­nial­geschichte Australiens von den ers­ten Siedlern im 18. Jahrhudert bis in die Ge­genwart beschrieben. Eine verwirrende Konstellation, für die Le­senden lange schwer vereinbar. Sie löst sich schliesslich auf über die Parallelen zwischen dem «untä­tigen» Leben des Bruders und dem Koala, der hoch oben in den Bäumen ein Leben der Faulheit lebt und sich allen Anforderungen menschlicher Funk­tionalität und Ratio­nalität entzieht.

Sinnhaftigkeit. Im Zentrum stehen Fragen, was wir anfangen mit unserer Existenz, die uns geschenkt wurde, ohne dass wir darum gebeten haben, ob darin eine Sinnhaftigkeit zu finden sei und letztlich, welches das richtige Leben sei.

Koala. Lukas Bärfuss, Wallstein-Verlag 2014, 182 Seiten.

Lukas Bärfuss, 45

Aufgewachsen in schwie­rigen Familienverhältnissen in Thun, gelangte Bärfuss ohne Matur und Stu­dium auf beruflichen Um­wegen zur Literatur und zum Theater. Seit 1997 lebt und ar­beitet er als freier Schriftsteller in Zürich. Er schreibt Prosatexte, Hör­spiele und Theaterstücke. 2008 erschien sein erster Roman «Hundert Tage», 2014 der zweite Roman «Koala». 2015 löste er mit sei­nem Essay «Die Schweiz ist des Wahnsinns» eine kontroverse Debatte aus.