Schwerpunkt 25. März 2019, von Constanze Broelemann, Felix Reich

«Gott braucht keine Opfer»

Opfer

Wer freiwillig ein Opfer erbringe, könne das Niveau des Guten anhe­ben, sagt Hans Weder. Und er räumt mit «unbiblischen» Gottesbildern auf.

War Jesus ein Märtyrer, der sich geopfert hat?

Hans Weder: Eigentlich schon.

Aber?

Das Wort Märtyrer wird heute auf problematische Art verwendet. Oft brauchen es Menschen, die den Tod suchen für ein höheres Ziel und dabei sogar als Selbstmordattentäter andere Leute mit in den Tod reissen. Ursprünglich war der Märtyrer jedoch jemand, der eine Wahrheit bezeugt und dafür sein Leben gibt.

Hat Jesus den Tod gesucht?

Nein. Sonst wäre er kein Märtyrer im ursprünglichen Sinn. Das Martyrium, wie es später im altkirchlichen Kontext verstanden wurde, ist dadurch definiert, dass der Märtyrer keine Gewalt ausübt und den Tod nicht aktiv sucht. Jesus nimmt das Leiden auf sich, um der Wahrheit treu zu bleiben.

Starb Jesus, um die Menschen von ihren Sünden zu befreien?

Sünde ist im Neuen Testament keine moralische Kategorie. Gemeint ist der Verstoss gegen das Leben. Im Kern bedeutet Sünde Gottesferne. Jesus lässt nichts unversucht, um die Distanz zwischen Mensch und Gott zu überwinden. Er ist kein Lehrer, sondern bringt Gottes Krea­­tivität in das Leben, indem er Aussätzige heilt, Ausgestossene in die Gemeinschaft zurückholt. Sogar an Ostern trägt Jesus die Wunden, die ihm Menschen zugefügt haben, am Leib. Als Vertriebener kehrt der Auf­erstandene zurück und sucht erneut Kontakt mit den Menschen.

Beim Abendmahl heisst es, dass das Blut Jesu zur Vergebung der Sünden vergossen worden sei. Wie ist das zu verstehen?

Es geht auch hier um die Überwindung der Distanz zwischen Gott und den Menschen und nicht um ­eine Wiedergutmachung in einem moralischen Sinn. Der Gottesdienst ist ­ohnehin kein Dienst für Gott, sondern die Möglichkeit, unter Gottes Augen zu treten. Dabei begegnen wir einem barmherzigen und gerechten Blick, der sich von der unbarmherzigen, häufig ungerechten Sichtweise der Welt unterscheidet.

Und doch hält sich hartnäckig die Interpretation, dass Gott seinen Sohn bewusst geopfert hat.

Sie sprechen die Satisfaktionslehre an, die Anselm von Canterbury in seiner Schrift «Cur Deus Homo» im späten 11. Jahrhundert entwickelte. Er sagt, dass Christus geopfert werden musste, um Gottes Zorn auf die Menschen zu besänftigen.

Dieses Gottesbild ist unbiblisch. Es bleibt wirksam, weil es in menschlichen Denkkategorien verfangen ist: Der Mensch ist es, der Wiedergutmachung verlangt, bevor er sich versöhnt. Das frühe Christentum aber kehrt das Opferphänomen um: Gott selbst setzt alles dafür ein, den Glauben der Menschen zu gewinnen.

Trotzdem wird Jesus als Lamm Gottes bezeichnet. Da ist der Sünden­bock nicht weit.

Das Lamm Gottes ist gerade kein Sündenbock. Der Sündenbock wird mit den Sünden beladen und in die Wüste gejagt, wo er umkommt. Um der Strafe durch Gott zu entgehen, opfern ihm die Menschen ein Tier. Der Sündenbock dient als Stellvertreter für die eigene Sündhaftigkeit. Christus als Lamm Gottes hingegen trägt die Gottesferne aus der Welt. Dass die Gottheit die Nähe der Menschen sucht, war ein völlig neuer, auch irritierender Gedanke.

Der Opferbegriff ist offensichtlich missverständlich. Sollte ihn die Theologie also möglichst meiden?

Ich glaube nicht. Wir lesen von Verkehrsopfern und Opferzahlen in Krie­gen und bei Katastrophen. Das Wort ist präsent. Sich als Opfer zu fühlen oder ein Opfer erbringen zu müssen, ist eine existenzielle Erfahrung. Eine zentrale Aufgabe der christlichen Verkündigung ist, solche Erfahrungen freizulegen und zu würdigen. In der Theologie dürfen wir keinen Bogen um Begriffe machen, nur weil sie eine problematische Wirkungsgeschichte haben.

Zur Wirkungsgeschichte gehört, dass mit dem Segen der Kirchen dazu aufgerufen wurde, sich im Krieg für das Vaterland zu opfern.

Gewiss war das ein Missbrauch des Opferbegriffs. Aber wenn ich in der Normandie stehe und die vielen Kreu­ze sehe, dann frage ich mich schon: Wie wäre es gekommen mit Europa, wenn diese Soldaten nicht ihr Leben eingesetzt hätten? Da haben sich Menschen im Kampf gegen den Nationalsozialismus geopfert. Oder die kurdischen Milizen, die den Kampf gegen den Islamischen Staat aufgenommen haben: Da gehörte Opferbereitschaft dazu.

Eine Gesellschaft braucht Menschen, die sich für sie opfern?

In Extremsituationen schon.

Und im Alltag?

Das menschliche Zusammenleben wird bereichert durch Menschen, die bereit sind, Opfer zu erbringen.

Aber wäre es nicht der christliche Auftrag, Menschen aus ihrer Opfer­rolle zu befreien?

Ja. Denn allzu gerne wird bestimmten Personengruppen die Opferrolle zugewiesen. Und diese Muster gilt es zu durchbrechen. Erbringt jemand ein Opfer, muss das immer frei­willig passieren. Die Ethik, die Jesus lehrt und vorlebt, darf nicht erzwungen werden.

Erfordert die Nachfolge Christi somit Opferbereitschaft?

Die Nachfolge setzt nicht Opferbereitschaft voraus, sie zieht sie vielmehr nach sich. Jesus rät in der Berg­predigt, anstatt zurückzuschla­gen, die andere Wange hinzuhalten. Er begnügt sich also nicht mit dem Prinzip Auge um Auge, das die Gewalt immerhin einschränkt. Jesus will das Niveau des Guten in einer Gemeinschaft nicht nur erhalten, er will es erhöhen.

Und dafür sind Opfer nötig?

Wem es gegeben ist, an Jesus zu glauben, dem wird es vielleicht einmal gelingen, auf das Zurückschlagen zu verzichten, damit sich die Gewalt totläuft. Er erbringt damit ein Opfer, obwohl ich eigentlich lieber von Hingabe sprechen würde.

Warum?

Apostel Paulus schreibt den interessanten Satz: «Ich bitte euch nun, liebe Brüder und Schwestern, bei der Barmherzigkeit Gottes: Bringt euren Leib dar als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer – dies sei euer vernünftiger Gottes­dienst!» (Röm 12,1) Mit dem Leib ist die ganze Person gemeint. Lebendig ist das Opfer, weil in dieser Hingabe das Leben gewonnen wird und nicht verloren.

Und wem gilt das erbrachte Opfer: Gott oder den Mitmenschen?

Allein den Menschen. Denn Gott braucht keine Opfer. Der Hebräerbrief sagt ganz deutlich, dass Jesus sich «ein für alle Mal» (Hebr 7,27) geopfert habe. Damit endete im Frühchristentum auch der Opferdienst.

Braucht es für diese Opferbereitschaft im Sinne Jesu auch ein grosses Mass an Selbstlosigkeit?

Es geht nicht darum, sich selbstlos für Andere aufzuopfern. Wer im Dienst des Guten, welches Leben ermöglicht, Opfer erbringt, gewinnt Sinn und Lebendigkeit. Das ist ein Versprechen des christlichen Glaubens.

Um die Ungerechtigkeit in der Welt zu bekämpfen, müssen jene, die in einer privilegierten Situation sind, Dinge tun, die sie etwas kosten. Das gilt auch ökonomisch: Gelingt es uns nicht, armen Ländern mehr zu geben, als sie verdienen kön­nen, werden sie nie gute Perspektiven haben.

Hans Weder, 72

In Diepoldsau im Kanton St. Gallen geboren, war Hans Weder von 1980 bis 2000 ordentlicher Professor für neutes­tamentliche Wissenschaft an der Uni­versität Zürich. Er forschte ins­be­son­dere über die Gleichnisse Jesu sowie zur paulinischen Kreuzestheo­logie. Als Präsident der Subkommission Neues Testament war Weder an der Neuübersetzung der Zürcher Bibel beteiligt, die 2007 veröffentlicht wurde. Ab 2000 war er während acht Jahren Rektor der Universität Zürich. Danach erhielt er eine Professur ad personam am Institut für Hermeneutik und Religions­philosophie. Seit 2011 ist er emiritiert. Weder ist verheiratet und Vater zweier Töchter.