Schwerpunkt 25. März 2019, von Delf Bucher

«Unser Platz ist hier, ich weiche nicht zurück»

Opfer

Haroutune Selimian hat während des syrischen Bürgerkrieges in Aleppo ausgeharrt. Das Opfer gehört für den Theologen zur Grunderfahrung nahöstlicher Christen.

1915 zogen zu Skeletten abgemagerte Waisen und Witwen durch die syrische Wüste. Sie waren auf der Flucht vor den Jungtürken, die mit barbarischer Grausamkeit die arme­nische Bevölkerung massakrierten und vergewaltigten.

Schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen starben damals. Die armenische Tragödie ist immer noch präsent, wenn der armenisch-protestantische Pfarrer Haroutune Selimian im E-Mail-Dialog mit «reformiert.» Sätze schreibt wie: «Für uns ist Aleppo die Stadt unserer Wiedergeburt nach dem schrecklichen Genozid. Als Nachfahre der Überlebenden möchte ich, dass unsere Zukunft in dieser Stadt liegt.»

Fast täglich eine Beerdigung

Damals, inmitten des Ersten Weltkriegs, sind seine beiden Grossmütter aus der Osttürkei als Waisenkin­der in Aleppo angelangt. Aus den Zelten der Flüchtlingscamps ragten zwei grosse Zelte hervor: die Kirche und das Schulhaus. Und so wie sich im Laufe der Zeit die Zelte in Häuser verwandelten, erwuchs aus den grossen Zelten ein steinernes Schulhaus und die gemauerte, protestantische Bethel-Kirche.

Daneben steht heute zusätzlich die Poliklinik, in der Tausende von Verwundeten während der Belagerung der Stadt Aleppo zwischen 2016 und 2018 behandelt wurden. In der düsteren Zeit, als die Schlacht um Aleppo tobte, war Haroutune Selimian beinahe jeden Tag unter­wegs, um ein getötetes Mit­glied seiner Gemeinde zu beerdigen. Während die Bomben fielen, kümmerte er sich um Essensspenden, organisierte ­sauberes Trinkwasser und Notunterkünfte. Daneben schloss er noch seine Doktorarbeit ab.

Raketenangriff überlebt

Einmal ist er bei einer Attacke nur knapp dem Tod entronnen. Eine Ra­­kete schlug im Schulhaus ein. Ein Stock über ihm sein Sohn. Verzweifelt rief der Vater: «Arno, lebst du noch?» Schnell wollte er zum Sohn eilen. Aber Arno warnte ihn und rannte die Treppe hinunter. Die Rakete explodierte im oberen Stockwerk. Beide überlebten. 

Wäre dies nicht der Moment gewesen, die Koffer zu packen? Nein, schreibt Selimian zurück. Als Hirte müsse er bei den verängstigten Gemeindemitgliedern bleiben. Und er fügt hinzu: «Gott hat mir diese Aufgabe gegeben, und ich weiche nicht zurück.» Selimian weiss: «Dort, wo die Pfarrer das Land verlassen haben, flüchtete bald auch die ganze Gemeinde.»

So leben von den rund 60'000 Armeniern heute nur noch 6000 in Aleppo. Die verbleibenden Armenier ruft Selimian zum Standhalten auf: «Es schmerzt mich als Pfarrer, nicht ein Land versprechen zu können, in dem Milch und Honig fliesst. Aber ich beharre darauf: Unsere Kirche, unser Platz ist hier.»

Der Pfarrer freute sich, als eine Familie aus Kanada zurückkehrte. «Klar ist das ein Opfer für sie.» Aber das Opfer sei für nahöstliche Christen ein existenzielles Element, das zum Glauben gehöre. Er zitiert einen Satz von Jesus (Lk 9, 23): «Wenn einer mir auf meinem Weg folgen will, verleugne er sich und nehme sein Kreuz auf sich, Tag für Tag, und so folge er mir!»