Schwerpunkt 25. März 2019, von Felix Reich

Das Kreuz mit dem Opfer

Glaube

Warum die Theologie den Begriff nicht streichen sollte, wo die Karfreitagserzählung aktuell ist und wie sie verstehen hilft.

Warum hast du mich verlassen? (Mt 27,46)

Opfer, Opferung und Opfertod. Die Wirkungsgeschichte dieser Begriffe wiegt schwer. Die Frauen sollen sich für die Karriere ihrer Männer opfern, die Soldaten für das Vaterland, die Arbeiterinnen und Arbeiter für den Fortschritt. Allzu häufig religiös verbrämt, wurden Menschen in die Opferrolle gedrängt.

Aufopferung passt schlecht zur Freiheit des Individuums. Auch in der Theologie schaffen mit dem Opfer verbundene Vorstellungen oft mehr Probleme, als sie lösen. So hält sich hartnäckig die Ansicht, dass der Tod Jesu am Kreuz ein so notwendiges wie grausames Opfer war, um Gottes Zorn zu besänftigen. Dahinter steht ein «unbiblisches Gottesbild», sagt der Theologieprofessor Hans Weder. Die Interpretation, dass Gott ein Opfer als Wiedergut­ma­chung verlangt, bevor er die Versöh­nung ermöglicht, ist allzu menschlich und wurde von der bedingungslosen Liebe, wie sie Jesus lebte, unterlaufen. Mit seiner Liebe stellte Christus das menschliche Gerechtigkeitsempfinden auf die Probe. Der verlorene Sohn wird ganz ohne Opfergabe im Haus des Vaters aufgenommen (Lk 15,11–32).

Der Schwächling am Kreuz

«Du Opfer!» So tönt es in Hinterhöfen und auf Schulhausplätzen. Wer Prügel einsteckt, statt zurückzu­schla­gen, wird getreten, obwohl er bereits am Boden liegt. Das Opfer ist der Versager, der kein Mitleid ver­dient. Wo das Wort Opfer zum Schimpfwort wird, gilt das Recht des Stärkeren, und das Leben wird zum Überlebenskampf stilisiert.

Auch Jesus wurde als Opfer verhöhnt. «Ha, der du den Tempel nie­der­reisst und in drei Tagen aufbaust, rette dich selbst und steig he­rab vom Kreuz!» (Mk 15,29), sagten jene, die am Kreuz vorübergingen. Wer behauptet, Gottes Sohn zu sein, sollte sich doch selbst wehren können. Warum lässt sich der Erlöser zum Opfer machen, statt zum wehrhaften Helden zu werden?

Jesus lieferte sich der Justizwillkür und menschlicher Gewalt aus. Selbst die Ohnmacht der Gottver­las­senheit durchlitt er: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen» (Mt 27,46). Im geschrienen Vers aus Psalm 22 zeigt sich die seelische Not, die alle Menschen, die sich dem Schicksal hilflos ausgeliefert fühlen, miteinander verbindet.

«Das Leiden des Messias ist aber ein anderes Leiden als unser Leiden», betont der Theologieprofessor Ralph Kunz. «Es trägt unser Leiden.» Christen sollen nicht Christus spielen, sondern ihm nachfolgen. Das Ziel auf diesem Weg sei nie das Kreuz. «Ziel ist das Gute, das Fest.»

In der Passion Jesu, an die der Kar­freitag erinnert, finden «sacrificia» und «victima» zusammen: ein Opfer erbringen und Opfer werden. Das Opfer, das Jesus erbringt, besteht darin, dass er sich in liebender Konsequenz auf die Seite der Opfer stellt. Dafür begibt er sich in die Abgründe menschlicher Existenz.

Von Jesus sagt das apostolische Glaubensbekenntnis: «Gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes.» Also gibt es «keinen Ort, an dem Gott nicht ist», erklärt Theologe Stephan Jütte. Im Wunder der Auferstehung zeigt sich, dass Gott stets über das Dunkel hinausweist. Von der Auferstehung an Ostern erfahren jene Frau­en zuerst, die unter dem Kreuz ausgeharrt und den Messias nicht als Schwächling verhöhnt haben.

Von der Würde der Opfer

Weil er wichtige gesellschaftliche Fragen aufwirft und individuelle Er­fahrungen spiegelt, lohnt sich die Auseinander­setzung mit dem Opferbegriff. Eine Botschaft der Passionsgeschichte ist gewiss, dass es nie christlich sein kann, sich selbstlos aufzuopfern oder andere zu opfern. Zugleich würdigt sie Menschen, die sich mit Opferbe­reitschaft für das Gute einsetzen und dafür vielleicht ihr Leben geben. Auch heute gibt es mutige Stimmen, die den Kampf für Freiheit und Menschenwürde wie Jesus mit Folter und Tod bezahlen.

Zuschreibungen, wer Opfer erbringt und wer Opfer ist, sind freilich heikel. Deshalb sind die Evangelien keine starren Gesetzbücher, sondern Erzählungen, die immer wieder neu gelesen werden wollen.

In ihrer Drastik bewahrt die Passionsgeschichte zuletzt vor der Verflachung des Opferbegriffs. Zuweilen liegt das Wort ja allzu nah. Wer auf Selbstverwirklichung und maximale Rendite verzichtet, erbringt noch kein Opfer. Er übernimmt nur Verantwortung. Er macht Kompromisse, auf die eine Gemeinschaft angewiesen ist, will sie nicht einfach jene, die sich nicht wehren, in die Opferrolle drängen.