Schwerpunkt 25. März 2019, von Sabine Schüpbach Ziegler

«Was einst das Opfer war, ist jetzt das Gebet»

Opfer

Nach der Zerstörung des Tempels fehlte den Juden der Ort für das Tieropfer. So gewann das Gebet an Bedetung, erklärt die Theologin Annette Boeckler.

Annette Boeckler erklärt am liebsten anschaulich. «Stellen Sie sich vor, in einer Hausordnung steht: ‹Es ist verboten, laut Schallplatten zu hören.› Ist das Verbot ausser Kraft ge­setzt, nur weil es heute keine Schall­platten mehr gibt? Nein! Es gilt weiterhin und bezieht sich neu auf moderne Tonträger.»

So verhalte es sich auch mit dem Opfer, sagt Boeckler. Im antiken Judentum opferten Priester im Tempel von Jerusalem Tiere, um in Kontakt mit Gott zu sein. Das war nicht mehr möglich, nachdem die Römer im Jahr 70 nach Christus den Tempel zerstört hatten.

Im Judentum ent­stand eine Debatte: «Was tun wir, wenn wir nicht mehr im Tempel opfern können? Was ersetzt das Opfer?» Schliesslich galt das Gebot der Thora weiterhin, jeden Morgen und jeden Abend ein Lamm zu opfern (4. Mose 28). Annette Boeck­ler erklärt: «Eine mögliche Lösung war, dass das Opfer durch das rituel­le Ge­bet ersetzt wurde.»

Überblätterte Passagen

Boeckler ist Liturgiewissenschaftlerin und Theologin. Sie leitet den Fachbereich Judentum am Zürcher Institut für Interreligiösen Dialog (ZIID). Sie nimmt ein traditionelles jüdisches Gebetsbuch hervor und de­monstriert, wie man jeden Morgen zur vorgeschriebenen Zeit das rituelle Gebet rezitiert: Mit monotoner Stimme murmelt sie auf Hebräisch den Text in schnellem Tempo. Sie erläutert: «Das rituelle Gebet ist nach jüdischem Verständnis keine Meditation. Es geht darum, in Kontakt zu sein mit der Tradition und mich meiner Identität als Jüdin zu vergewissern.»

Boeckler benutzt ein orthodoxes Gebetsbuch, das einige Opfervorschriften aus den Büchern Mose zitiert und Gebete enthält, die um das Wiederkommen der Tieropfer bitten. In den liberalen Gebetsbüchern fehlt dies, weil die Reformbewegung des 19. Jahrhunderts den Opferkult ablehnte. Boeckler sagt, sie überblättere die Passage, möchte sie jedoch nicht missen. «Ich finde es gut, die Opfertradition zu kennen und kritisch zu reflektieren.»

Rituelles Schlachten

Im antiken Judentum gab es auch Schuldopfer, Sündopfer und Dankopfer, die von Familien bei den Pries­tern in Auftrag gegeben werden konnten, wenn sie Gott für etwas danken oder ihn um Vergebung bitten wollten. Die Priester schlachteten die Tiere im Tempel nach ri­tuellen Vorschriften, danach ass die Familie das Fleisch bei einem Gemeinschaftsmahl zu ­Hause.

Alle religiösen Feste waren Opferfeste, also Festmahlzeiten. Diese Tradition ist bis heute präsent. Am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, der die Vergebung der Sünden bewirken soll, wurde früher ein Bock geopfert und ein zweiter als Sündenbock in die Wüste gejagt.

Den Text über diese Praxis aus dem dritten Buch Mose rezitieren Ju­den und Jüdinnen heute an Jom Kippur in den Synagogen. Boeckler, die als Kantorin in liberalen und orthodoxen jüdischen Gemeinden tätig ist, sagt: «Obwohl niemand die alten Tieropfer zurückhaben will, vergegenwärtigen wir uns so unserer Geschichte.»