Vor der Theke der Holzofenbäckerei am Klusplatz stehen an diesem Oktobermorgen die Kunden für Kaffee und Gipfeli Schlange. Im hinteren Teil des Geschäfts mutet der rustikale Holzofen an, als wäre er dem Märchen von Hänsel und Gretel entsprungen. Geschäftsinhaber Jens Jung und Pfarrerin Katharina Morello schieben mit einer Schaufel Brote hinein und diskutieren über Gärzeiten. Beim anschliessenden Gespräch am Tisch liegt bereits ein nach dem selben Rezept gebackenes Weissbrot bereit.
Was war das beste Brot, das Sie je gegessen haben?
Katharina Morello: Als ich mit meiner Familie ein Jahr lang in Simbabwe lebte, habe ich selber Brot gebacken, weil es keines zu kaufen gab. Dieses selbstgemachte Brot war etwas ganz Besonderes, ein Stück Heimat. Zurück in der Schweiz haben die Kinder aber bald gesagt: Du kannst jetzt aufhören damit, der Profi kann es besser.
Jens Jung: Das Brot in San Francisco von einem der Bäcker, der die «Sourdough»-Revolution angestossen hatte, war schon sehr, sehr gut. Ende der 1990-er Jahre entdeckte man in den USA die lange Teigführung neu. Für mich war das die Inspiration schlechthin. Ich war mehrmals dort, habe bei vielen Bäckern gearbeitet. Heute kommen wiederum Bäcker aus aller Welt zu uns.
Wann kommt bei Ihnen das Brot auf den Tisch?
Jung: Ich liebe das Konfibrot, das ich am Morgen zusammen mit meiner kleinen Tochter geniesse. Am Mittag wird heute ja viel Weizen konsumiert – Sandwiches, Pizza, Pasta. Darum essen wird abends meist Salat, Gemüse oder Hülsenfrüchte.
Morello: Ich bin mit dem «Café complet», dem Abendbrot, aufgewachsen. Aber heute treffen sich die allermeisten Familien nur noch zum Abendessen. Da braucht es eine warme Mahlzeit für alle. Umso wichtiger ist mir der Brunch mit Brot und Gipfeli, immer wenn man gemeinsam Zeit dafür hat.
Welche Rolle hat das Brot in Ihrer Kindheit eingenommen?
Morello: Ich wurde oft zum Brotholen geschickt. Auf dem Rückweg konnte ich nie widerstehen und habe die Kruste angeknabbert. Meine Mutter verstand das, sie ist Bäckerstochter und sagt immer: «Im Himmel riecht es nach frischem Brot.»
Jung: Als Bäckerssohn bin ich natürlich mit Brot aufgewachsen. Und mit einem Vater, der als Bäcker und Unternehmer oft weg war. Praktisch war aber, dass ich in seinem Betrieb immer einen Job bekam, der mir die nächste Reise ermöglichte.
Sie sind beide viel gereist. Wie war das mit dem Brot, was haben Sie angetroffen?
Morello: Brot ist ja nicht überall das Grundnahrungsmittel. In Simbabwe etwa hat der Maisbrei «Sazda» diesen Stellenwert, und manchmal mangelt es sogar an dem. Die Bitte ums «tägliche Brot» ist leider vielerorts keine Floskel. Brot gab es zwar, doch nur das unsägliche englische Toastbrot. Wir lebten beim Krankenhaus, in dem mein Mann arbeitete. Für die Schwestern war ungetoastetes Toastbrot in der Pause der Luxus schlechthin.
Jung: Ich war oft in Lateinamerika unterwegs. Dort gibt es halt Tortilla statt Brot, das ist kein Problem. Wenn die brotlose Zeit zu lang wird, fange ich allerdings schon an, zu backen. So wie im Hotel auf Bali. Dort hatten sie zwar Brot, aber sehr schlechtes. Ich stand drei Tage lang in der Küche und habe den Frauen gezeigt, wie man es auch machen kann. Sie backen heute noch so.
Morello: Wir sollten uns sowieso als Kollektiv verstehen, nicht nur die eigene Entwicklung zum Ziel haben, sondern das gemeinsame Vorwärtskommen weltweit.
Jung: Und zwar in jedem Bereich. Es gilt Lösungen zu finden für die Probleme, vor denen wir heute stehen. Das gelingt nur, wenn wir Wissen und Erfahrung offen teilen.
In der Bibel spielt das Brot eine wichtige Rolle. Heute ist es Teil des Abendmahls. Woher kommt das Brot in Ihren Abendmahlsgottesdiensten, Frau Morello?
Morello: Ab und an bäckt jemand aus der Gemeinde. Das war früher schon so. Ich bin im Pfarrhaus aufgewachsen, das Brot fürs Abendmahl haben meist Bauersfrauen gebacken. Der Zopf von Frau Obi war legendär. Nach dem Gottesdienst haben wir Kinder die übriggebliebenen Stücke in der Pfarrhausküche verschlungen. Das reformierte Verständnis des Abendmahls ist ja: Das Brot wird nicht «verwandelt», es bleibt einfaches Brot. Es geht darum, symbolisch an die Hoffnung auf das Reich Gottes zu erinnern und die Gemeinschaft der Gläubigen zu nähren.
Jung: Ich bin zwar konfessionslos. Meine Eltern haben vergessen, mich taufen zu lassen, vor lauter Stress mit ihrem Geschäft. Aber das Brot fürs Abendmahl ist auch für mich ein Thema. Fürs Grossmünster haben wir eines extra kreiert. Es ist rund, aus Zopfteig und in einzelne Stücke vorgekerbt, damit man es leicht teilen kann.
Brot bleibt schnell mal übrig. Was machen Sie mit altem Brot? Die Frage stellt sich ja besonders bei Ihnen, Herr Jung.
Jung: In unseren Geschäften versuchen wir von Anfang an, nicht zu viel zu produzieren. Das bedeutet aber auch, dass wir nicht alles bis Ladenschluss anbieten können. Was dennoch übrigbleibt, geht an die «Essbar», die es zum halben Preis verkauft, oder an eine Organisation, die sich gegen Food-Waste einsetzt. Freiwillige holen die Ware ab und bringen sie in Asylzentren, Studentenheime, zu Bedürftigen.
Morello: Das kenne ich von der Autonomen Schule, in der ich engagiert bin. An bestimmten Tagen bringen Freiwillige Backwaren, die wir verteilen können. Als wir aus Simbabwe zurückkehrten, wo ein voller Teller nicht selbstverständlich ist, hatte ich einen regelrechten Kulturschock. Hier ist jederzeit alles verfügbar, und es wird so viel weggeworfen. Das fand ich schlimm.
Müssen Sie nie etwas wegwerfen?
Morello: Seit nur noch der jüngste Sohn bei uns lebt, ist der Einkauf einfacher. Vorher war es vor allem mit dem Brot schwierig. Gab es keines, waren alle enttäuscht. Manchmal vertrocknete das Brot aber auch, weil niemand da war oder Lust darauf hatte. Ich habe damals oft «Fotzelschnitten» gemacht.
Jung: Das stimmt, «French Toast» ist fein. Das alte Brot in Milch, Ei und Zucker wenden und dann braten.
Brot hat heute nicht den besten Ruf. Sogar Bäcker verwenden fertige Backmischungen mit künstlichen Hilfsstoffen.
Jung: Ab den 1960-er Jahren wurde das Brot industrialisiert. Mit chemischen Hilfsmitteln konnte man es in 3 statt in 72 Stunden backen, und so die langen Wartezeiten des Teiggehens umgehen. Je schlechter das Produkt wurde, desto mehr Chemie fügte man zu. Doch mittlerweile findet ein Wandel statt. Die Leute in-teressieren sich heute viel mehr dafür, woraus ihr Essen besteht. Da liegen wir im Trend, mit Getreide vom regionalen Biobetrieb und keinerlei Zusatzstoffen.
Morello: Die Ernährung ist ein grosses Thema. Früher musste man beim Kochen in einem Konfirmandenlager in erster Linie den jugendlichen Geschmack treffen. Heute sind die einen vegetarisch oder vegan, die anderen haben eine Gluten- oder Laktoseintoleranz, hinzukommen Allergien auf bestimmte Gemüse, Früchte oder Gewürze.
Wenn Sie so richtig am Backen sind – was macht das mit Ihnen?
Morello: Immer wenn ich schlechtgelaunt war, riet meine Mutter mir, einen Gugelhopf zu backen. Das funktioniert: Man konzentriert sich auf eine Tätigkeit, vergisst darüber einige Sorgen, und was man erschafft, bereitet anderen Freude.
Jung: Wenn ich im Laden stehe und den unterschiedlichsten Menschen begegne, die unsere Produkte kaufen und sich darüber freuen, ist das eine starke Erfahrung. Genauso ist es mit den Bäckern aus aller Welt, die zu uns kommen, um sich etwas abzuschauen.
Morello: Man spürt, dass Sie nicht einfach einen Job machen, sondern eine Mission haben. Die Kirche hat auch ein gutes Produkt, missionieren ist jedoch heikel. Dennoch glaube ich, dass wir unser Produkt selbstbewusster anbieten sollten. Man kann sich ja trotzdem für das Toastbrot entscheiden.