Wie kommt ein Theologe und Experte für Weltanschauungsfragen dazu, sich mit Essen zu beschäftigen?
Kai Funkschmidt: Ganz einfach, weil das Essen zur Weltanschauungsfrage geworden ist. Schon vor einigen Jahren ist mir aufgefallen, dass die Leute immer emotionaler übers Essen diskutieren. Quasireligiöse Elemente haben sich in verschiedene Essenslehren eingenistet. Vor allem beim jetzt schnell wachsenden Veganismus hat sich eine starke Subkultur entwickelt. Da sammeln sich Menschen, welche die Erlösung durch Ernährung suchen.
Aber Essensverbote kennen fast alle Religionen.
Das stimmt. Religiöse Speisegebote verfolgten vor allem den Zweck: Sie sollen signalisieren, zu welcher Gruppe ich gehöre und von welcher ich mich abgrenze. Das ist so im hinduistischen Kastenwesen mit seinen vielfältigen Regeln wie auch beispielsweise bei den Juden. Kommt hinzu: Wenn sie beim Einkaufen und Essen ständig daran erinnert werden, welche Speisegebote sie einhalten müssen, werden sie ständig an ihre Religion erinnert.
Und die identitätsstiftenden Rituale des Essens nutzen nun auch die Veganer. Warum kritisieren Sie das?
Meine Kritik wendet sich nur gegen jene, die ihr Konsumverhalten verabsolutieren und dabei die Gnädigkeit vergessen. Als Christen leben wir von der Gnade Gottes. Das macht den Glauben sozialverträglicher, weil wir auch gnädig mit anderen sein müssen. Momentan breitet sich aber eine Tendenz aus, welche die guten Taten über alles stellt. Gut ist der ökologisch korrekte Veganer, und er erzählt es überall, dass er zu den Guten gehört.
Aber sind jetzt nicht die gnädigen Christen plötzlich die besseren Menschen?
Nicht die besseren Menschen, sondern die toleranteren Sünder. Und hier kommen wir auf den Schönheitsfehler zu sprechen, der allen Ersatzreligionen oder säkularen Heilslehren zugrunde liegt: Sie verbleiben immer im Diesseits. Ihnen fehlt eine höhere Bezugsinstanz. Wenn ich einen Gott habe, dem ich gemeinsam mit meinen Mitmenschen gegenüberstehe, gibt es immer eine Instanz, die mich infrage stellt. Und so bin ich am Ende ein Sünder neben anderen Sündern, nicht ihr Richter.
Eigentlich leben doch die Veganer vieles vor, was kirchliche Hilfswerke seit Langem fordern?
Der Gedanke, dass mein Alltagsverhalten ethisch verantwortlich zu sein hat und sich ökologisch auf Weltverantwortungsthemen bezieht, ist in der Tat christlich und wird daher auch von kirchlichen Hilfswerken vertreten. Was aber den christlichen Ansatz von gewissen anderen unterscheidet, ist, dass er ethische Regeln mit Augenmass formuliert – also beispielsweise nicht den Fleischverzicht, sondern nur die Reduzierung des Fleischkonsums fordert.
Wirklich paradiesisch ist nach der Genesis der Fleischverzicht. Denn vor dem Sündenfall ernährten sich auch Adam und Eva vegan.
Es gibt keinerlei Hinweise in der Bibel, dass wir versuchen sollten, wieder ins Paradies einzuziehen. Der Versuch, das Paradies auf Erden zu errichten, führt stets zum Totalitarismus. Entgegnen lässt sich auch mit der Bibel: Das Pessachlamm in der Passionsgeschichte ist ein Vorschein des Himmels– und stellt das Fleischessen gerade nicht infrage.
Trotzdem gibt es berühmte christliche Vegetarier wie Albert Schweitzer, die den biblischen Respekt vor der Schöpfung mit Fleischverzicht gleichsetzen.
Der Vegetarismus erwuchs tatsächlich bereits im 19. Jahrhundert in England aus christlichen Bewegungen heraus. Die Propagandisten der fleischlosen Nahrung von damals stammten nicht aus der Arbeiterschaft, die kaum Fleisch zu essen bekam. Auch heute kommen die Fleischverzichtsforderungen aus saturierten Milieus. Das sind Menschen, die aus ihrem Überfluss heraus verzichten wollen. Wenn einer Fleisch aus seinem Speiseplan streichen will, kann er das gern machen. Aber wenn er daraus ein grundsätzliches Prinzip für alle macht, muss man sich jedoch fragen, mit welchem Recht er seine Lebenshaltung für alle anderen verbindlich machen möchte. Wenn Albert Schweitzer dies vertreten haben sollte, könnte ich ihm darin nicht zustimmen.