Was bedeutet fromm?
Frank Lorenz: Lassen Sie mich mit einem aktuellen Beispiel antworten. Gestern Abend hatten wir bei uns in der Offenen Kirche Elisabethen einen Anlass mit ungefähr 140 Teilnehmenden. Die Spitzenköchin Tanja Grandits kochte einen Dreigänger mit lokalen Produkten und Gewürzen aus dem Süden, der Bluessänger Roli Frei sang berührende, starke, verletzliche Lieder. Katholische und reformierte Pfarrpersonen sowie Kirchenleute bedienten die Gäste. Am Schluss sang einer meiner Pfarrkollegen den Segen auf Hebräisch. Und der Reinerlös aus dem Anlass kommt Flüchtlingsprojekten zugute: Es waren mehrere Tausend Franken.
Und was ist fromm daran?
Dass Menschen zusammenkamen, um Kirche als gastfreundlichen Raum zu leben, mit einer gemeinsamen Mahlzeit, die im Geist der altkirchlichen Tradition Sättigungsmahl und Abendmahl zugleich war. Bei uns verband sich gestern Abend das Leben mit dem Glauben. Gutes bekommen, indem man Gutes tut, das ist Frömmigkeit.
Lässt sich der Begriff «fromm» auf eine einfache Formel bringen?
Ganz grob gesagt: Glaube steht für die Haltung, die Gedanken, die Texte. Frömmigkeit hingegen ist die Praxis, die Umsetzung. Also gelebter Glaube. Ich selber brauche in diesem Zusammenhang gerne den Begriff der Resilienz.
Resilienz?
Das ist nichts anderes als die weltliche Übersetzung von Glaube. Glaube ist das Gegenteil von Angst, das Bewusstsein, dass alles Wesentliche im Leben nicht erarbeitet, sondern geschenkt ist. Glaube ist nicht das Für-Wahr-Halten metaphysischer Tatsachen, sondern das Gewebe, das mich mit dem grossen Ganzen verbindet und durch das ich mit der Ewigkeit verwachse, die um uns bereits ist. Glaube macht dann fähig, mit Krisen so umzugehen, dass wir nicht daran zerbrechen, sondern bestehen. Glaube macht weise für die Würde des Scheiterns. Und das Sterben ist kein Ende, sondern nur ein Heimgeholtwerden. Daran glaube ich.
Sind Sie fromm?
Nun ja: Ich bete dreimal täglich das mönchische Stundengebet und lese morgens die Tageslosungen. Ich bekreuzige mich – als reformierter Pfarrer – und sammle mich bei Musik von Bach. Ich richte mein Leben nach einer liebevollen Ewigkeit aus, damit ich es, wenn es gelebt ist, dankbar loslassen kann. Und als Diener am Wort Gottes habe ich die Aufgabe, Menschen mit ewigen Worten zu dienen; auch das ist Frömmigkeit. So gesehen, bin ich fromm.
Sie tragen am Handgelenk eine Perlenkette mit einem Kreuz. Spricht man Sie darauf an?
Ja, immer mal wieder. Die Leute sehen das Armband und fragen: Sind Sie gläubig? Mein «Ja» und dann auch noch das Comingout als Pfarrer werden meist positiv aufgenommen. Denn der «Priester», die «Priesterin» hat in der Gesellschaft nach wie vor eine wichtige Funktion. Ich rede jetzt nicht vom «Priester» im katholischen Sinn, sondern vom Priester als Archetypus, der im täglichen Leben eine Leerstelle für Gott freihält.
Fromm – kann auch demütig, passiv verstanden werden. Sie betonen das Aktive. Typisch reformiert?
Das reformierte Grundrauschen ist ein diskreter Teil unserer Gesellschaft und bleibt oft unbemerkt, solange alles gut läuft. Doch zu meinem Verständnis von Frömmigkeit gehört neben der Kontemplation auch der Kampf. Wir Evangelischen sind aus dem Widerstand entstanden, und wir müssen widerständig bleiben. Darum gehört zu evangelischer Frömmigkeit die Tradition der biblischen Propheten.
Für Kampf und Widerstand stehen meine persönlichen Heiligen: Karl Barth, der es schaffte, eine belastbare Gegenposition zur Unfassbarkeit des Nationalsozialismus zu kreieren. Dietrich Bonhoeffer, dessen Briefe aus der Haft unter dem Titel «Widerstand und Ergebung» erschienen. Dorothee Sölle, die von Mystik und Widerstand schrieb, und Frère Roger mit seiner Losung «Lutte et Contemplation».
Die Reformierten wachsen also sozusagen am Widerstand?
Ja, denn in der Gegnerschaft gegen das, was das Leben behindert, entdecken wir unsere Kraft. Ich kann dann das Sinnangebot formulieren, wenn ich wahrnehme, was den Menschen fehlt. Ich lasse oft Wolf Biermanns Lied in der Kirche singen: «Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit.» Die Härte wahrnehmen, doch deswegen nicht aufgeben, im Gegenteil.
Ihren Vortrag zur reformierten Frömmigkeit von 2014 betitelten Sie mit «Lust auf fromm». Wie leben Sie lustvolle Frömmigkeit?
Indem ich lebe und mein Leben mit allem, was ich habe, mit anderen teile und mich engagiere für jene, die es brauchen. Dabei hilft mir das, was ich als Jugend-Kampfkunsttrainer gelernt habe. Etwa, welche Regeln es braucht, um Werte zu vermitteln, die mir wichtig sind. Je anspruchsvoller eine Situation ist, desto mehr Formen, Traditionen und Rituale braucht es. Sie geben Sicherheit und Futter für die Seele, geben Halt in Momenten, wo das Leben aus dem Takt gerät. «Religion ist Routine für das Ausserordentliche», wie der Philosoph Odo Marquard sagt.
Geht Frömmigkeit ohne die Bibel?
Nein, die Geschichten und Figuren der Bibel helfen mir, die Wirklichkeit zu entschlüsseln. Gerade auch als Armeeseelsorger nehme ich eine grosse Offenheit für das Ewige, das Göttliche wahr. Menschen, die sich entschieden haben, im Notfall für unsere Demokratie zu töten, haben ungeheure Sehnsucht nach dem Leben. Doch das bestätigt meine These: Paradoxien sind Kennzeichen und Merkmal, ich würde sogar sagen: Voraussetzung für gesunde, reife Religiosität.
