Schwerpunkt 24. Oktober 2022, von Felix Reich

Sich der Sterblichkeit bewusst sein unter dem Sternenhimmel

Glauben

Der biblische Psalm 90 stellt der Ewig­keit die Kürze des Lebens gegenüber. Das lässt erschaudern und staunen. Und lehrt Dankbarkeit. Eine Reflexion.

Ich stehe unter dem leuchtenden Sternenhimmel. Seine unendliche Weite macht mich staunen. Ich denke an die Lichtjahre weit entfernten Sterne, die noch immer leuchten, ob­wohl sie gar nicht mehr sind.

Der Hauch von Ewigkeit lässt mich erschaudern. Meine Existenz erscheint nichtig gemessen am Universum. Seine unfassbare Grösse wird in biblischen Texten oft überblendet mit Gottes Allmacht. Auch sie kann durchaus furchteinflössend sein. Der Mensch schrumpft zum Zwerg. «Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache», lautet der Vers aus Psalm 90.

Das Wissen um meine Sterblichkeit sagt mir, dass ich mein Leben nicht einfach im Griff habe.

Nichts hat Bestand

Vor dem Universum oder – mit dem Psalm gesprochen – vor Gott ist das Leben beinahe nichts: «Am Morgen blüht es, doch es vergeht, am Abend welkt es und verdorrt.» Mit meinen Hoffnungen und Plänen, Anstrengungen und Höhenflügen fliege ich der Bedeutungslosigkeit entgegen. Ganze Kapitel der Menschheitsgeschichte, gigantische Generationenprojekte verkümmern in dieser Zeit­rechnung zur kurzen Nachtwache. Und die Naturwissenschaften lehren uns, dass das Universum selbst vergänglich ist. Jeder Stern verglüht, alles vergeht, implodiert.

Doch hier bleibt der Psalm nicht stehen. Die Vergänglichkeit verliert ihren Schrecken, wenn sie dazu anhält, lichtvolle Momente zu würdigen: «Unsere Tage zu zählen, lehre uns, damit wir ein weises Herz gewinnen.» Da ist es wieder: das Me­mento mori! Das eigene Leben an der Weite des Sternenhimmels zu messen, führt nicht in die Bedeutungslosigkeit. Es zieht mich hinein ins Wunder der Schöpfung und in eine Haltung der Dankbarkeit.

Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.
Psalm 90,4, Altes Testament

Die Liebe überdauert

Das Wissen um meine Sterblichkeit sagt mir, dass ich mein Leben nicht einfach im Griff habe, dass das, was einmal in meinem Nachruf stehen wird, nicht allein mein Verdienst ist, sondern dass ich auf Fügungen, auf die Hilfe anderer Menschen, auf Gott angewiesen bin.

Im Nachthimmel über mir leuchtet eine Sternschnuppe auf. Ich stelle mir vor, wie liebevolle Begegnungen, Momente des Glücks in meinem Leben aufleuchten am Firmament der Ewigkeit. Und ich denke an jene Menschen, deren Stern schon längst verglüht ist, aber deren Liebe und Weisheit mir zuweilen hell den Weg leuchten.

Bolderntexte: biblisch inspirierte Betrachtungen

Die Reflexion über Psalm 90 basiert auf einem Bolderntext. Darin beleuchtet eine Autorin oder ein Autor eine Bibelstelle aus persönlicher Sicht. «reformiert.» versendet die Betrachtungen täglich als Newsletter. Die Auswahl der Bibelverse richtet sich nach den Tageslosungen der Herrnhuter Brüdergemeine. Die Herrnhuter Losungen erscheinen seit 1731 als Inspirationsquelle: Sie halten für jeden Tag aufeinander bezogene Worte aus dem Alten und Neuen Testament bereit. Sie werden in 60 Sprachen übersetzt. In der persönlichen Andacht über die Tagestexte verbinden sich Menschen über Generationen, Lebenswelten und Regionen hinweg.   Abonnement:  reformiert.info/biblisch