Im Sprung nach vorn mit Blick zurück zeigt sich das Glück

Nachruf

Ein Gedankenexperiment wagen: seine eigene Zukunft neu denken, von hinten her, vom Zeitpunkt des eigenen Todes an. Der eigene Nachruf kann zum Weckruf für ein neues Leben werden.

«Seltsam, was mir alles passiert. Bin jetzt auf halbintensiv verlegt. Ich werde betreut von einem Dr. Fluch, Chefarzt der Urologie. Er hat mir das Leben gerettet und meine linke Niere. Der Akku seines E-Bikes war leer, nur drum war er an seinem freien Tag grad noch in der Nähe und schnell genug da. Und so liegen Fluch und Segen nah beieinander.» Es sind Sätze vom Juni 2019 in meinem Tagebuch.

Befreiende Utopien

Eine Woche zuvor hatte ich den Soziologen Harald Welzer zu seinem neuen Buch «Alles könnte anders sein» interviewt. In dieser «Gesellschaftsutopie für freie Menschen» skizziert er, wie eine lebens- und erstrebenswerte Zukunft aussehen könnte; in den Bereichen Arbeit, Digitalisierung, Mobilität, Leben in Grossstädten usw. Die viel beschworene «Alternativlosigkeit» angesichts von Wachstumslogik und Globalisierungsdynamik ist für ihn nur «Phantasielosigkeit». Welzer sagt: Die fetten Jahre sind vorbei und das ist gut so, denn das Wirtschaftswachstum war nur ein Wachstum des Konsums natürlicher Ressourcen. Die Alternativen sind längst bekannt, man muss sie nur sortieren und anpacken.

Die persönliche Revolution

Ich nahm seine Thesen zum Anlass, ihn zu einem berühmten Zitat des Dichters Rainer Maria Rilke zu befragen. Rilke hatte vor 110 Jahren ein Gedicht mit den Worten enden lassen: «Du musst dein Leben ändern.» Angesichts der Klimakrise, des Rückgangs der Biodiversität und immer sichtbarer werdender Schattenseiten der Globalisierung schien das ein Gebot der Zeit. Zudem hatte der Philosoph Peter Sloterdijk soeben ein Buch mit diesem Titel veröffentlicht. «Du musst dein Leben ändern» ist für Sloterdijk ein Appell zur persönlichen Revolution: «Ich lebe zwar schon, aber etwas sagt mir: Du lebst noch nicht richtig.»

«Alles könnte anders sein, du musst dein Leben ändern», das schien mir ein hoffnungsfroher Kanon, und Welzer, wortgewandt wie immer, lieferte launige Antworten: «Die Möglichkeit, sein Leben zu verändern, ist immer gegeben – und wenn Menschen das tun, wundern sie sich, wieso sie es nicht schon früher getan haben, weil sie es als positiv erfahren.» Und: «Wir brauchen Utopien, aber die Menschen haben keine Zeit mehr zum Träumen, Fantasieren, Herumsinnlosen. Diese Muse ist eine Produktivkraft – man kann sich nur träumend eine bessere Welt erschaffen.»

Wir brauchen Utopien, aber die Menschen haben keine Zeit mehr zum Träumen und Herumsinnlosen.
Harald Welzer, Soziologe

Alles könnte anders sein – auch bald vorbei

Oder: «Wir wissen ja, dass die Ökonomie sozusagen beseelt ist vom Wachstumsgedanken. Aber wir steigern eigentlich seit Jahrhunderten nur den Verbrauch. Wachsen tut dabei gar nichts. Und mit den Ressourcen schwinden unsere Zukunftsmöglichkeiten.» Welzers Quintessenz: «Wir müssen nicht alle Probleme auf einmal lösen. Wenn jeder sein Quäntchen beiträgt, kann das einen Quantensprung bewirken. Schliesslich war der Quantensprung in der Physik immer schon die kleinstmögliche Veränderung des Systems.» Sprich: Wenn alle ihr Leben ein bisschen ändern, kann sogar die grosse Wende zum Guten klappen.

Ich ver­suchte die Antworten in einem Spitalbett in der deutschen Provinz zu transkribieren, den Laptop auf den angewinkelten Knien. Doch mit der Zeit schien mir das Interview nicht mehr wichtig. Auf eine Notoperation der Nieren folgten Thrombosen und eine Lungenembolie. In der Intensivstation debattierten Kardiologen und Urologen vor meinem Bett darüber, was lebenswichtiger sei: das Blut so stark wie möglich zu verdünnen, um einen Infarkt zu verhindern, oder lieber ja nicht zu viel, damit die durch die Operation entstandenen Wunden nicht wieder anfingen, innerlich zu bluten.

Eine sonderbare Parallele

Die Kardiologen gewannen, und mein Blut fuhr alle paar Stunden per Kurier in ein x-Kilometer entferntes Labor – zur Analyse, wie sich die neusten Dosierungen der Blutverdünnung auf meine Gerinnungswerte auswirkten. Ich hoffte und schwitzte, es war ohnehin ein viel zu heisser Vorsommer. Es bestand kein Zweifel, Dr. Fluch hatte mir das Leben und eine Niere gerettet. Aber: Auch wenn soweit alles gerade noch einmal ganz knapp gut gegangen war, es konnte immer noch gleich aus sein. Trotz all der bunten Lämpchen an den Überwachungs- und Lebenserhaltungs-Maschinen hier auf der hier auf der Intensivpflegestation bestand Aussicht auf definitives Lichterlöschen. Und natürlich fragte ich mich, ob das hier ein himmlischer Wink mit einem heftigen Tiefschlag war zum Thema meines Interviews: «Muss ich mein Leben ändern, und wenn ja, inwiefern?»

Das Sonderbare daran: Welzer er­ging es zehn Monate später ähnlich. «Am 22. April 2020 habe ich meine Unsterblichkeitsillusion verloren», schreibt er. An dem Tag erlitt Welzer einen Herzinfarkt. Beim Blick auf das EKG habe die Ärztin nur gesagt: «Oh Gott!» «Seither glaube ich nicht mehr, dass alle Menschen sterben müssen, nur ich nicht.» Obwohl die Verdrängung der eigenen Sterblichkeit völlig nutzlos sei, würden wir sie dennoch mit Leidenschaft betreiben. Dabei sei es doch ein Glück, sich bewusst zu werden, dass das Leben von einem Moment auf den anderen zu Ende sein kann. «Dieses Bewusstsein, dass mein Leben endlich ist, ist ja kolossal wichtig dafür, was ich mit ihm mache.» Ein kritisches Lebensereignis verändere das weitere Leben schlicht fundamental.

Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben. Wer sich auf den Tod einlässt, hat mehr vom Leben.
Heinz Rüegger, Ethiker und Theologe

Denken im Futur II

Über die Frage, was man mit einem geschenkten zweiten Leben so anfange, schrieb Vielschreiber Welzer gleich einen Wälzer. Er heisst «Nach­ruf auf mich selbst» und schaffte es schnell auf die «Spiegel»-Bestsellerliste. Erst ganz am Ende kommt er wirklich zur Sache und präsentiert seinen persönlichen Masterplan für das, was noch kommen soll, in 15 Punkten. «Ich möchte, dass in meinem Nachruf steht: Er konnte gut Zeit verschwenden», lautet Punkt eins. Punkt 15: «Ich möchte, dass in meinem Nachruf steht: Er hatte gelernt, keine Angst vor dem Tod zu haben.»

Das eigentlich Interessante am Buch ist die Technik, die Wel­zer anwendet: Der Blick vom Ende her bestimmt, was man im Hier und Jetzt wünschen, denken und tun soll. Wie man dieses Gedankenexperiment anpacken kann, hat er bereits in einem früheren Buch beschrieben: «Stellen Sie sich selbst im Tempus Futur II vor: Wer werde ich gewesen sein?» Das helfe: So fange man an zu überlegen, was man tun müsse, damit das Leben dereinst gelungen sein werde. Das Denken in der Vorzukunft verändert die Werte und Wertigkei­ten, wir fangen gewissermassen automatisch an, uns zu ändern. Einen Nachruf auf sich selbst zu schreiben, kann dabei helfen, die Frage zu klären, in welche Richtung die Veränderung gehen soll. Der eigene Nach­ruf wird zum Weckruf, sein heu­tiges Leben zu verändern.

Die grossen Sinnfragen stellen sich

Das Lohnende daran ist zugleich das Tückische: Es werden alle grossen Fragen nach dem Sinn des Lebens aufgeworfen. Darauf Antworten zu finden, war für den grossen österreichischen Psychiater Viktor E. Frankl überhaupt die Grundvoraussetzung für ein erfülltes Leben: «Glück stellt sich spontan ein, wenn wir einen Sinn in unserem Leben entdecken. Anders gesagt: wenn wir unsere eigenen Antworten auf die grossen Fragen gefunden haben.» Die drei wesentlichen Grundfragen da­zu fand Frankl in einem Ausspruch des Rabbiners Hillel: «Wenn nicht ich – wer dann? Wenn nicht jetzt – wann dann? Wenn nur für mich – was bin ich?»

Was dem menschlichen Leben alles Sinn verleiht, untersucht die Sinnforschung seit Jahren. Tatjana Schnell von der Universität Innsbruck etwa hat 26 Sinnquellen herausgearbeitet und ihre Wirkung be­ziffert. Auffällig ist, dass die Ori­entierung an einem grösseren Ganzen, an einer jenseitigen Macht für die Befragten einen starken Einfluss auf die Sinnerfüllung hat. «Achtsamkeit und Rituale», «Spiritualität» und «explizite Religiosität» belegen drei der sechs ersten Plätze. «Beim Sinn geht es um das Richtige und Wertvolle», sagt Schnell.

Wie schreibt man einen Nachruf auf sich?

Indem man sein Leben vom Ende her zurückdenkt, sich die Frage stellt «Wer will ich gewesen sein?» und aus dieser Perspektive heraus Antworten auf die weiteren Fragen sucht, die mit dieser Frage einhergehen: Fragen nach dem, was einem guttut und was nicht. Fragen nach dem, was das Leben ausmacht: die nach dem Sinn. Fragen nach dem, wie wir unsere Beziehungen gestalten wollen.

1. Machen Sie Ihren eigenen Fragenkatalog. Etwa: Wie will ich gelebt haben? Was will ich vollbracht haben? Wonach will ich mein Denken und Handeln ausgerichtet haben? Wie viel Musse für Schönes will ich mir gegönnt haben?

2. Vergessen Sie vor lauter Ich das Wir nicht. Niemand ist eine Insel. Be­ziehen Sie Ihre Bezugsgruppen, Ihr Verhältnis zur Gesellschaft mit ein und fragen Sie etwa auch: Wer wol­len wir gewesen sein? Was will ich anderen hinterlassen, welche Welt will ich meinen Urenkeln übergeben haben? Für welche bessere Welt will ich mich engagiert haben?

3. Wie klären Sie solche Fragen? Schreiben Sie zu diesen Fragen wild drauflos, am besten schneller, als sie denken können. Man nennt diese Technik Écriture automatique. Sie bringt Vorbewusstes hervor, kann so Antworten zutage fördern.

4. Sich mit einem Gegenüber über solche Fragestellungen zu unter­hal­ten, kann helfen. Allerdings gilt es darauf zu achten, dass die Ant­worten die eigenen bleiben.  Wohlwollende GesprächspartnerInnen unterstützen dabei (sind aber nicht leicht zu finden ...)

5. Versuchen Sie die Quintessenzen Ihrer Antworten herauszuschälen und in eine Ordnung zu bringen. Formulieren Sie mit «Ich möchte, dass in meinem Nachruf steht: ...».

6. Vergessen Sie dabei nicht: Es geht um ein erfülltes Leben! Die Frage, wer man dereinst gewesen sein will, lässt sich in jeder Lebensphase stellen, ganz ohne Not.

Es muss auch kein Nachruf sein. Kurse und Methoden, sich der eigenen Endlichkeit anzunähern, gibt es viele. Ein paar Beispiele:

- eine Grabsteininschrift verfassen

- eine Patientenverfügung aufsetzen

- den Spruch für die Todesanzeige auswählen

- den Lebenslauf für die Beerdigung schreiben

- eine Biografie für die Nachkommen verfassen usw.

Übrigens: Sich mit der eigenen Vergänglichkeit beschäftigen, kann man auch ganz unverkopft und intuitv, z.B. beim Töpfern oder Bemalen der eigenen Urne.

Das «Vorlaufen zum Tode»

Um die Treppe der Sinnfindung zu besteigen, kann der vorzeitige Nach­ruf auf sich selbst ein gedankliches Geländer sein. Doch das ist keineswegs ein neuzeitlicher verhaltenspsychologischer Denktrick. Welzer hat ihn nicht erfunden. Auch der Philosoph Martin Heidegger nicht, der die Technik in seiner Schrift «Sein und Zeit» beschreibt.

Heidegger skizziert darin das Leben als ein fremdbestimmtes Dasein. Es sei darauf ausgerichtet, die Ansprüche anderer Menschen zu er­füllen. Die eigenen Wünsche blieben dabei auf der Strecke, und das Leben werde zu einer Aneinanderreihung verpasster Chancen. Das Gegenrezept bezeichnet Heidegger als «Vorlaufen zum Tode», die Ausrichtung des Lebens an seinem unvermeidlichen Ende. Erst in der Vor­wegnahme des Sterbens zeige sich, worum es im Leben eigentlich gehe, schreibt Heidegger.

Was im Nachhinein Sinn ergibt – und was nicht

Im Moment des Todes zu realisieren, ein fremdbestimmtes Leben geführt zu haben, kann sehr schmerzhaft sein. Von solchen Erfahrungen erzählt die australische Palliativ-Kranken­schwes­ter Bonnie Ware in ihrem Bestseller «5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen». Todkranke bedauern nichts häufiger und heftiger, als gegen die eigenen Wünsche gelebt zu haben. Zuoberst auf der Liste der unerfüllten Wünsche von Wares Patienten steht: «Ich wünsch­te, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie andere es von mir erwarteten.» Auf den weiteren Plätzen steht: 2. «Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.»; 3. «Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.»; 4. «Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden gehalten.» 5. «Ich wünschte, ich hätte mir mehr Freude gegönnt.»

Damit es am Ende nichts zu bedauern gibt, müssen wir herausfinden, was wir wirklich mit unserem Leben anfangen wollen. Dafür kann man sich getrost auch von jenen inspirieren lassen, die auf ein rundum erfülltes Leben zurück blicken. Der amerikanische Fernsehmoderator John B. Izzo hat 235 Personen zwischen 59 und 105 Jahren befragt, die «Glück und Sinn gefunden haben». Er hat aus ihren Aussagen fünf Lebensweisheiten destilliert, welche die Befragten übereinstimmend nannten, und sie zwischen Buchdeckel gepackt. Die im Titel angekündigten «Fünf Geheimnisse, die Sie entdecken müssen, bevor sie sterben» lauten:

1. Bleib dir selber treu. Finde die Sehnsucht deines Herzens.

2. Lebe ohne Bedauern. Akzeptiere was ist.

3. Werde die Liebe. Liebe ist eine Wahl, ein Weg zu sein.

4. Lebe den Moment und freue dich an ihm.

5. Gib mehr, als du nimmst.

Bedenke das Ende!

Schon die Römer sagten «quidquid agis prudenter agas et respice finem»: «Was auch immer du tust, tue es weise und bedenke das Ende.» Der Spruch findet sich oft auch in Kurzform als Inschrift in Kathedralen und an Schlössern, im Dom von Worms oder am Gartentor von Schloss Wildegg etwa: Respice finem – Bedenke das Ende. Die Aufforderung findet sich ganz ähnlich in den apokryphen Schriften der Bibel: «Was du auch tust, bedenke das Ende, so wirst du nicht sündigen in Ewigkeit», heisst es in den Ratgebersprüchen des Buches Jesus Sirach (7,36). Im antiken Rom gab es zudem bei Triumphzügen einen seltsamen Brauch: Dem siegreichen Feldherrn hielt ein Sklave den Lorbeerkranz über sein Haupt und trichterte ihm unentwegt denselben Spruch ein: «Memento mori», «Bedenke, dass du sterben wirst».

Auch im Mittelalter riefen sich die Menschen ihre Endlichkeit in Erinnerung. Nicht nur Mönche praktizierten die Me­men­to-mori-Meditation. Sich auf den Tod vorzubereiten und auf das Jüngste Gericht galt in der mittelalterlichen Vorstellungswelt als wichtigste Lebensaufgabe. Zentral war dabei vor allem der Gedanke der «Vanitas», der Eitelkeit. Es geht hier um die mittelalterliche Vorstellung, dass alles Irdische im Angesicht der Vergänglichkeit des Daseins eitel und nichtig ist. Die Symbole in der Kunst für die Vanitas sind der Totenkopf und die "ablaufende" Sanduhr. «Mors certa hora incerta», «der Tod ist gewiss, die Stunde nicht», lautet etwa die Inschrift der Rathausuhr in Leipzig. Auch Totentanz-Darstellungen und Pestsäulen erinnerten daran, dass es im Leben darum gehe, am Ende vor Gott gut dazustehen.

«Bedenke das Ende» – eine uralte Lebensweisheit

Der Graf Hans Caspar von Bothmer etwa liess über dem Eingang seines Schlosses in Mecklenburg seinen Wahlspruch zusammen mit seinem Wappen in goldenen Buchstaben anbringen: «Respice Finem – Bedenke das Ende». Der einflussreiche deutsche Diplomat und Politiker hauste auf dem Gipfel seiner Karriere von 1720 an als englischer Minister in der Downing Street 10 in London, während er sich in seiner norddeutschen Heimat ein englisches Landschloss errichten liess. Die Ironie der Geschichte: Sein eigenes Ende ereilte ihn vor der Fertigstellung seines Schlosses.

Die Idee seines Wappenspruchs: Es geht nicht darum, planlos in den Tag hineinzuleben, sondern sein Handeln vom Rückblick her zu planen; unsere Endlichkeit und die Auswirkungen sollen unsere Taten bestimmen. Ein Leben in stetiger Folgenabschätzung. Wie Bothmer nahmen sich zahlreiche Fürsten und Politiker im 17. oder 18. Jahrhundert «Respice Finem» zum Lebensmotto. Das Ende stetig mitzudenken war auch ein Anliegen der philosophischen Lebensschule der Stoiker.

Der Römer Seneca beispielsweise empfahl, seinen Geist täglich in der Vorstellung zu trainieren, vor dem Ende zu stehen. So würde man aufhören, das Leben auf später zu verschieben und sei nie knapp an Zeit. Seneca war der Ansicht: «Wer den Tod ablehnt, lehnt das Leben ab.» Rund vier Jahrhunderte vor ihm war schon der Grieche Sokrates der Ansicht gewesen, die Philosophie handle von nichts anderem «als dem Sterben und dem Tod». Michel de Montaigne, der Erfinder des Essays, war derselben Ansicht: «Philosophieren heisst Sterben lernen». Auch der römische Philosophenkaiser Mark Aurel befand, man solle das, was man tue, sage und denke, nach der Tatsache ausrichten, dass man jeden Moment abtreten könne.

Der Tod kommt nie aus der Mode

Im Kern kommt das Memento Mori einem Aufruf gleich, heute weise zu sein und im Hier und Jetzt das Richtige zu tun. Das antike Glücksrezept liesse sich auch heute noch frohgemut beherzigen. Der Theologe und Ethiker Heinz Rüegger sagt es so: «Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben.» Umgekehrt gelte: «Wer sich auf den Tod einlässt, hat mehr vom Leben.» Rüegger bezieht sich auch auf die biblischen Quellen: «Un­sere Tage zu zählen, lehre uns, da­mit wir ein weises Herz gewinnen» (Ps 90,12). Gott habe uns als Sterbliche geschaffen, damit wir begriffen, wie kostbar das Leben sei. Dabei ist das Konzept keineswegs bloss ein verkommenes pathetisches Rezept aus der mittelalterlichen Mottenkiste, um in den Himmel zu kommen: «Der Tod ist die beste Erfindung des Lebens» hat der krebskranke Apple-Gründer Steve Jobs in seiner berühmten Rede vor Absolventen der Stanford-Universität 2005 zum Memento-mori-Gedanken gesagt.

Die Fragen lieb gewinnen

Welzer drückt es so aus: «Ist es denn nicht einfach so, dass die Poesie des menschlichen Lebens darin liegt, dass wir alle sterben werden?» Die letzten Worte in seinem Nachruf-Buch lauten: «Es gibt ein Leben vor dem Tod. Und nur da». Dem wäre lediglich hinzuzufügen: Man muss nicht dem Tod ins Auge gesehen haben, um das zu begreifen. Die Frage, wer man dereinst gewesen sein will, lässt sich in jeder Lebensphase stellen, ganz ohne Not.

Mein persönlicher Nachruf umfasst ein paar sehr pathetische Sätze. Das meiste davon blieb bisher Worthülsen, gutgemeinte Schaumschlägerei und Schönfärberei, denen bisher wenig Taten gefolgt sind. Aber das ist nicht so schlimm. Die wichtigste Erkenntnis nach meinem Unfall war, mich nach zwei weiteren Rilke-Zitaten auszurichten: «Du musst das Leben nicht verstehen, dann wird es werden wie ein Fest.» Und: «Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antwort hinein.»

Futurzwei: Die Zukunft braucht Vordenkertum und Enkeltauglichkeit

Futurzwei: Die Zukunft braucht Vordenkertum und Enkeltauglichkeit

Der Soziologe Harald Welzer ist Professor für Transformationsdesign, er lehrt an der Uni St. Gallen und lanciert im jährlichen Takt in Buchform einen Denkanstoss zu der Frage, welche Gesellschaft wir wollen und welche Rolle wir in ihr spielen sollen. Daneben ist er Gründer und Direktor von «Futur zwei – der Stiftung für Zukunftsfähigkeit». Die Berliner Stiftung will in ihrem «Zukunftsarchiv» Beispiele aufzeigen, welche in die richtige, zukunftsfähige Richtung weisen.

Die veröffentlichten «Geschichten des Gelingens» sind für Futurzwei «Erfahrungswissen, das wir künftig brauchewerden». Denn «Futurzwei» ist durchaus im grammatikalischenSinn zu verstehen; wir leben in einer Vorzukunft, vieles, was wir heute für normal halten, «wird in der Zukunft gewesen sein», neue praktische Umsetzungen «werden angefangen haben», Probleme «werden gelöst sein» usw. Futurzwei will mit solchen Geschichten vermitteln, «dass jeder im Hier und Jetzt wirksame Veränderungen bewirkenkann, so klein sie fürs Erste auch scheinen mögen.

Messlatte für die Auswahl der Geschichten ist die «Zukunftsfähigkeit» oder eben «Enkeltauglichkeit» der Ideen. Was für die Enkel tauglich ist, kann so schlecht für den Planeten nicht sein. Folgerichtig gelte es, sich die Frage nach dem guten Leben zu stellen – und sich zu vergegenwärtigen, wie man bereits jetzt so lebe, dass sichdiese Vision verwirklicht haben werde.

www.futurzwei.org