Selbstgespräche mit Gott und Notproviant für das Leben
Wie geht Beten? Was nützt es? Evelyne Baumberger vom RefLab der reformierten Kirche und Felix Reich von «reformiert.» tauschten über eine Woche hinweg Gebetserfahrungen aus.
«Selbstgespräche mit Gott»: Der Titel schwirrt mir im Kopf herum. Im Gebet bringe ich Dankbarkeit, Angst und Unsicherheiten vor Gott, ohne eine Antwort zu erwarten. Zwar hoffe ich, dass sich ein Gefühl seiner Präsenz einstellt, aber oft bleibt es beim Selbstgespräch. Dann ist es wie beim Tagebuchschreiben: Allein das Aufschreiben hilft. Dennoch bin ich auf ein Du ausgerichtet.
Die Vorstellung, dass ich getrost Gott überlassen darf, was ich nicht allein tragen kann, finde ich wunderbar. Ich hoffe also, dass es mehr als ein Selbstgespräch ist, und kann doch nicht sagen, was es stattdessen ist. Ich höre nur die eigene Stimme im Kopf. Klingt kompliziert. Wahrscheinlich bin ich ein komplizierter Christ ;-) Und du?
Am 27.09.21 um 18:59 schrieb Evelyne Baumberger
Die Bezeichnung «Selbstgespräche mit Gott» finde ich wunderbar ehrlich. Als ganz junge Frau bin ich fast verzweifelt daran, dass Gott nicht so antwortete, wie ich es mir vorstellte. Dass meine Gebete an der Wand meines Zimmers zu verhallen schienen. Heute glaube ich, dass Gott – wenn überhaupt – auf vielerlei Weise antwortet. In Begegnungen mit Menschen zum Beispiel, die durch ihr Zuhören oder Reden Zusammenhänge erhellen. Und manchmal schweigt Gott vielleicht tatsächlich.
Das Gespräch würde ich auf die nonverbale Ebene ausweiten. Wenn ich versuche, in Worten zu beten, und dies still für mich tue, schweife ich ab. Ich denke viel eher in Bildern, abstrakten Eindrücken, Situationen. Und so fühlt sich verbales Beten wie ein Übersetzen an.
Momentan verwende ich deshalb nur selten konkrete Worte, stattdessen bete ich in Form von bewusstem Atmen. Wenn ich das so schreibe, klingt es etwas seltsam, aber ich verbinde es mit der Geschichte am Anfang der Bibel, in der Gott Lebensgeist in den Menschen bläst. Ich mache mir durch dieses «Einatmen Gottes» bewusst, dass ich in jedem Moment mit Gott verbunden bin. Doch manchmal dreht das Gedankenkarussell gerade bei persönlichen, emotional belastenden Schwierigkeiten trotzdem weiter. Ich frage mich, ob Gebete etwas verändern können, auch mit Blick auf die globale Gerechtigkeit.
Am 28.09.21 um 23:01 schrieb Felix Reich
Was ein Gebet bewirkt, weiss ich nicht. Klimakatastrophe, Krieg und globale Ungerechtigkeit lassen sich nicht wegbeten. Trotzdem bitte ich Gott jeden Abend auch für Menschen in Not, für den Frieden in der Welt. Allein deshalb, weil ich mir seltsam vorkäme, als privilegierter Christ nur mich selbst betreffende Hoffnungen und Ängste zu benennen.
Das Gebet ermutigt mich, die Hoffnung nicht fahren zu lassen. Und ohne Zuversicht geht nichts. Auch die globale Gerechtigkeit nicht.
Am 29.09.21 um 11:35 schrieb Evelyne Baumberger
Es ist manchmal schwer, die Hoffnung nicht aufzugeben! Ich bin froh, auch in biblischen Geschichten und Gebeten Klagen, Bitten und Verzweiflung wiederzufinden, die mich darin bestärken, dass man über Leid und Schmerz auch mit Gott reden kann.
Ich bin kein Fan des Spruchs «Gott hat keine anderen Hände als unsere», aber manchmal ist der Gebetsimpuls auch eine Flucht vor tätigem Engagement für andere Menschen. Ich habe mich schon ertappt, dass ich für jemanden bete, obwohl es die Möglichkeit gäbe, mit der Person in Kontakt zu treten. Fällt mir das auf, unterbreche ich mein Gebet und schreibe ihr.
Übrigens habe ich gestern seit Längerem wieder mal mit einer Freundin gemeinsam gebetet. Gegenseitig füreinander, in freiem Gebet. Ich finde das etwas sehr Intimes – daher gibt es nur sehr wenige Leute, mit denen ich mich dabei wohlfühle. Betest du gemeinsam mit anderen?
Am 29.09.21 um 15:33 schrieb Felix Reich
Ich vertraue darauf, dass Gott mehr Hände hat als unsere, und bete dafür, dass er dort Möglichkeiten eröffnet, wo wir mit unseren Möglichkeiten an ein Ende gekommen sind. Das Gebet zu unterbrechen, um jemandem eine SMS zu schreiben, finde ich eine schöne Vorstellung. Vielleicht ist die Nachricht Teil des Gebets?
Bhüet di Gott, ich denke an dich, heb der Sorg, ich bete für dich: Wollen diese Worte nicht alle in Wahrheit dasselbe? Ich will den Glauben nicht verwässern, aber der Heilige Geist ist oft auch drin, wenn er nicht draufsteht.
Im Gottesdienst gehören Fürbitte, Segen und Kollekte zusammen! Also will ich in Zukunft nach dem Gebet zu Hause vermehrt dem Heks oder Mission 21 twinten.
Mit anderen Menschen bete ich nur im Gottesdienst oder in der Familie. Mit meinen Kindern oft Bonhoeffers «Von guten Mächten, wunderbar geborgen». Ich bin dankbar, mit solchen Texten aufgewachsen zu sein. Ich bin nicht so der Meditationstyp. Aber wenn ich «Von guten Mächten» bete oder von Kindesbeinen an aufgesogene Paul-Gerhardt-Lieder singe, stellt sich ein Urvertrauen ein, das über das Verstehen der Worte hinausgeht.
Im Gottesdienst berührt mich das gemeinsame Unservater immer wieder neu. Einmal hielt ich in einer katholischen Messe die Fürbitte (erstaunlich, welche Tore einem der FC Religionen öffnet, nachdem man sie geschossen hat): Vor der Gemeinde, stellvertretend für sie zu beten, kostete mich Überwindung. Ich habe kaum einen Text so oft umgeschrieben wie diese kurze Fürbitte.
Was du beschreibst, ist mir fremd. Ich wäre in der Situation wohl sehr gehemmt, überfordert, stelle es mir aber schön und freundschaftlich vor. Kann man das lernen?
Am 30.09.21 um 16:43 schrieb Evelyne Baumberger
Ich glaube, beten kann man lernen. Auch freies Beten. Eigentlich ist das schlicht und einfach ein Sprechen mit Gott, wobei Gott als Gegenüber nicht im Raum ist, weshalb die meisten Beter*innen die Augen schliessen. Dass du schreibst, du würdest dich dabei mit anderen Leuten vermutlich unwohl fühlen, kann ich gut nachvollziehen, es ist ein Stück weit ein Sprechen vor Publikum. In einer solchen Situation fühlt man sich unter Umständen von den anderen Anwesenden auch belauscht.
Evelyne Baumberger (37)
Evelyne Baumberger studiert Theologie an den Universitäten Zürich und Bern. Sie arbeitet bei der evangelisch-reformierten Landeskirche Zürich im RefLab, einer Digitalplattform mit Artikeln, Podcasts und Videos rund um gelebten christlichen Glauben im 21. Jahrhundert.
Als freikirchlich sozialisierte Christin habe ich das freie, laut gesprochene, gemeinsame Gebet von Kind auf gelernt. Die paar Menschen, mit denen ich das hin und wieder mache, haben einen ähnlichen Hintergrund. In einem solchen Gebet richten wir Bitten und Fragen, die im Gespräch implizit oder explizit geäussert wurden, zusätzlich an Gott. Oft sprechen wir einander den Segen Gottes zu. Das empfinde ich meist als wohltuend, hoffnungsspendend, je nachdem auch als sehr berührend. Apropos lernen: Meinst du, dass man das Beten auch wieder verlernen kann?
Am 1.10.21 um 15:00 schrieb Felix Reich
Manchmal fürchte ich mich davor, das Beten zu verlernen. Mehr noch: den Glauben zu verlieren. Und staune gerade in solchen Momenten darüber, dass der Glaube mich nicht loslässt und mich immer wieder befreit durchatmen lässt.
Der Glaube ist ein Geschenk. Ich kann ihm Sorge tragen, ihn vor meiner Gleichgültigkeit zu schützen versuchen, aber ich habe ihn nicht im Griff. So verhält es sich für mich auch mit dem Gebet.
Ich habe das Beten von meiner Mutter und von meinem Vater und in der Kirche gelernt. Ohne Training, ohne Team würden meine Gebetsfähigkeit und mein Glaube verkümmern. Ich brauche Kirchenräume und Gottesdienste, die meinen Glauben nähren. Glaubenslehrerinnen und Glaubenslehrer, Gebetslehrerinnen und Gebetslehrer.
Nahrung findet der Glaube natürlich auch in der Bibel, in der Musik, in der Lyrik und Literatur. Diesen Schatz meinen Kindern auf ihren Weg mitzugeben, ist mir sehr wichtig. Damit mein Glaube Wurzeln schlagen konnte, brauchte ich das Angebot, mich auf biblische Erzählungen, das Evangelium einzulassen. Ganz ohne Druck und in einem weiten Raum, aber mit einer grossen Selbstverständlichkeit.
Ob meine Kinder später etwas mit dem Glauben anfangen können, weiss ich nicht. Aber selbst wenn ihnen der Glaube einmal unwichtig werden oder er verschüttet sein sollte, so tragen sie biblische Geschichten, Gebete und Lieder doch als Notproviant in ihrem Rucksack mit und packen ihn vielleicht einmal aus, wenn sie ihn nötig haben. Selbst wenn ich das Beten einmal verlernen sollte, bleibt etwas übrig: die Gebetshaltung. Die Einsicht, dass wir für das Gute tun sollen, was in unserer Macht steht, aber dass wir auf Fügung und Segen, Vergebung und Liebe angewiesen bleiben. Ist das womöglich die Essenz des Gebets?
Am 4.10.21 um 09:36 schrieb Evelyne Baumberger
Das Vertrauen, das zwischen deinen Zeilen durchdringt, dass Gott (auch wenn du Gott nicht explizit nennst) dich und deine Familie trägt, Luft gibt und Wurzeln, berührt mich. Und wie wichtig es dir ist, deinen Kindern diesen Notproviant an christlichen Schätzen mitzugeben.
Kürzlich habe ich von einem Seelsorger in einem Podcast die Anekdote gehört, dass eine Frau mit Demenz, die er besuchte, apathisch war, aber als er das Unservater sprach, kräftig einstimmte. Das Gebet schien sich in ihrem Körpergedächtnis eingewoben zu haben, sodass es immer noch da war. Wie Velofahren, das kann man angeblich auch nicht verlernen.
Ob das Bewusstsein, nicht alles in der Hand zu haben, die Essenz des Gebets ist? Was mich zögern lässt, ist, dass dieses Bewusstsein sich sowohl negativ als auch positiv anfühlen kann, als Hilflosigkeit oder als Vertrauen. Für mich ist eher das Bewusstsein zentral, angesprochen, «gemeint», vielleicht sogar geliebt zu sein. Sich in diesem Vertrauen aussprechen und ausruhen zu können und daraus, aus dieser Beziehung heraus, zu leben.
Der Theologe Gerhard Ebeling, der sich stark auf Luther bezog und von dem ich ein bisschen Fan bin, schrieb: «Dieses ewige Gespräch zwischen Gott und den Menschen, das gegenseitige Zueinander-Sprechen und Aufeinander-Hören, ist die gottgewollte Grundsituation des Menschen. Der Glaube lässt sie uns wahrnehmen.» Das Leben als ständiges Gespräch mit Gott – das gefällt mir.
Am 5.10.21 um 11:23 schrieb Felix Reich
Das Leben als Gespräch mit Gott: Das ist meine Hoffnung. Aber es klingt mir fast zu einfach. Es gehört ja zur in der Bibel bezeugten Glaubenserfahrung, gegen Wände des Zweifels und des Schweigens zu laufen. Mein verstorbener Vater Ruedi Reich schrieb einmal in einem Buch: «Religiöse Menschen hinken.» Er bezog sich auf Jakob, der sich Gottes Segen erkämpft, danach aber hinkt. Das Bild lässt mich nicht los.
Felix Reich (44)
Felix Reich leitet seit 2012 die Redaktion von «reformiert.zürich». Er schreibt biblische Betrachtungen für die Bolderntexte und ist Mitglied des Patronatskomitees des Sozialwerks Pfarrer Sieber sowie Stürmer beim FC Religionen. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Zürich.
Im Dialog mit dir wurde mir klar, wie intim und wichtig mir das Gebet ist. Meine Argumente hinken, weil ich mich auf eine Hoffnung, eine Gewissheit beziehe, für die ich immer wieder neu nach Worten suche. Darum stehen hier so viele «Vielleicht». Glaube ist ein Ringen um Zuversicht.
Am 5.10.21 um 19:42 schrieb Evelyne Baumberger
In der Verzweiflung, als ich nichts von Gott wahrnahm und meine Gebete ins Leere liefen, kam mir Jakob oft in den Sinn. «Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!» Sein Festhalten und Ringen. Anders als Jakob ging mir die Kraft aus.
Ich habe Gott losgelassen und den Glauben an den Nagel gehängt, die Beziehung aufgegeben. Sie ist wieder gewachsen, als ich mich einige Jahre später erneut dafür geöffnet habe. Ich habe nichts dazu beigetragen, als mich darauf einzulassen; es war ein Geschenk und ein Wunder.
Heute pflege ich diese Beziehung wieder bewusst. Nicht, weil ich muss, denn ich glaube fest, dass mir Gott niemals den Rücken zudreht. Gott hält mich fest, nicht umgekehrt. Bestimmt kommen das Ringen und die Zweifel wieder einmal. Dann weiss ich, dass ich auch in Worten der Trauer, Ratlosigkeit und Vorwürfe mit Gott sprechen darf.