Schwerpunkt 16. Dezember 2016, von Delf Bucher

Tausendundeine Geschichte und noch mehr Flüchtlinge

Nahost

Viele Christen aus Syrien sitzen im Libanon auf gepackten Koffern. Das Hilfswerk Heks hilft mit Kooperationsprojekten, um den Exodus zu stoppen.

Bourj Hammoud, Ende November. Im «Kleinarmenien» Beiruts bekennen viele Geschäfte und Wohnungen Farbe – rot, blau und orange, die Flagge Armeniens. Hier haben sich vor hundert Jahren jene Armenier niedergelassen, die der Vernichtung durch das Osmanische Reich entkommen waren. Und nun sind hier wieder armenische Flüchtlinge gestrandet, entflohen den Gräueln des syrischen Bürgerkriegs.

Traumatisierte Kinder

Die Fahne Armeniens findet sich auch im Schulhaus des «Social Action Committee», in dem arme­ni­sche Flüchtlingskinder aus Syrien nachmittags unterrichtet werden. Das Wort Flüchtlingskinder wird oft mit dem Adjektiv «traumatisiert» verbunden. Indes: Kaum hat Taline Mardirossian die Tür der Nachmittagsschule geöffnet, lachen ihr die Kinder fröhlich entgegen. Stolz liest Stepan aus seinem Schulbuch mit den runden Kringelbuchstaben vor. Armenischer Sprachunterricht steht für die Kinder an diesem Nachmittag an, finanziert mit Geldern der Heks-Kooperation mit protestantischen Kirchen in Syrien und im Libanon (siehe Infotext).

Später erzählt die Sozialarbeiterin Mar­dirossian Geschichten, die nicht zum frohen Kinderlachen passen wollen. Beispielsweise von Tariq. Aggressiv suchte er fortwährend mit den Mitschülern Streit, provozierte die Lehrerinnen und Lehrer. «Es brauchte lange, bis wir erkannten, warum er sich so verhält», sagt die Sozialarbeiterin. Tariq hat den Verlust seines besten Freundes, den eine Granate zerrissen hat, nicht verarbeiten können. In jeder Schulstunde habe er sich gefragt: «Warum sitzt mein Freund nicht mehr neben mir? Warum musste er sterben?»

Was auffällt: Mehr Mädchen besuchen den Unterricht. «Die Jungs sind leider sehr gefragt auf dem Arbeitsmarkt», sagt Taline Mardirossian. Als Handlanger, Fens­terputzer und Kaugummiverkäufer sind die syrischen Buben im Stadtbild allgegenwärtig. Von den 500 000 syri­schen Kindern und Jugendlichen im schul­pflichtigen Alter besucht nur etwa die Hälfte die Schule. «Eine verlorene Generation», beklagt Mardirossian.

Unter gefährlichen Stromgirlanden

Im Stossverkehr versuchen zwei Buben, die Scheiben der Autos zu waschen. Ungerührt zischt der Taxifahrer: «Viel zu viel Syrer sind hier.» Die anfangs positive Stimmung gegenüber den Flüchtlingen im Zedernstaat ist nach fünf Jahren Bürgerkrieg in Syrien ins Gegenteil umgeschlagen. Mit 4,5 Millionen Einwohnern und schätzungsweise 1,5 Mil­lionen Syrern hat kein Land der Welt in Relation zur eigenen Bevölkerung mehr Flüchtlinge aufgenommen als der Libanon. Das spüren die kleinen Leute an den steigenden Mieten. Und wenn Hunderte von Kränen vom Immobilienboom in Beirut zeugen, so verraten wiederum die Reklameschilder vor den Glaspalästen: Hier entstehen Wohnungen im Luxussegment, die sich nur reiche Araber leisten können. Gebaut wird meist mit syrischen Arbeitskräften, die für einen Hungerlohn schuften.

Nun biegt das Taxi von der Hauptstrasse in eine unscheinbare Nebenstrasse ab. Schrotthalden und Müllkippen säumen die Zufahrt zum Flüchtlingslager Shatila, das 1982 mit den Schlagzeilen aufgrund des Massakers an 1800 bis 3000 Palästinensern die Welt bewegt hatte. In der Hauptgasse drängeln sich die Menschen zur Moschee. Vom Minarett her er­tönt der Ruf zum Freitagsgebet.

Händ­ler quetschen sich mit ihren höl­zernen Handkarren, beladen mit Kartoffeln, durch die Menge. Das Girlandengewirr von Wasser- und Stromleitungen unterstreicht die filmreife Szenerie. Die Sozialarbeiterin Zeina Zakar von der Organisation «Najdeh» kann diesem quir­ligen Chaos nichts Idyllisches abgewinnen: «Schon manches Mal ist das Wasser aus den Rohren auf die Stromleitung geflossen und hat die Menschen schwer verletzt.»

Im Rattenloch gelandet

Von der pulsierenden Hauptstrasse geht es in eine dunkle Nebengasse des planlos angelegten Laby­rinths hinein. Eine Funzel leuchtet den düsteren, engen Raum aus, der mit vier Matratzen und einem schmalen Schrank ausstaffiert ist. «Wir sind hier in einem Loch gelandet, mit Müll, Ratten und Gestank», klagt die 58-jährige Mona Nabih Karma. Vor eineinhalb Jahren ist sie mit der vierköpfigen Familie ihrer Tochter aus dem syrischen Lager Jarmuk von Damaskus nach Beirut gekommen. Schnell holt die 58-jährige unter ihrem weiten schwarzen Kleid ein Smartphone hervor. Auf dem Display erscheinen die Bilder aus einer besseren Zeit. Damals lebten ihrer Söhne noch. Inzwischen wurde der eine getötet im Kugelhagel der Scharfschützen, der andere ist vermisst. Ihr Handy bewahrt auch die Erinnerungen an das palästinensische Lager Jarmuk, das mit geräumigen Häusern ein gutes Leben ermöglicht habe. In Syrien sind sie als Palästinenser nicht mehr länger geduldet und in Shatila bei den alteingesessenen Palästinensern verhasst.

Noch stärker lehnen die Libanesen die Palästinenser ab. «Wir haben die Palästinenser satt!», sagt ein christlicher Kleiderhändler. Aus der Schublade seines Ladentischs holt er ein zerknittertes Schwarzweissbild vom Platz der Märtyrer heraus. Ruinenzähne ragen aus dem Schutt hervor. Hier, an gehobener Lage, stand einst das Ladengeschäft seines Vaters. «Alles haben sie zerstört» sagt er. Tatsächlich waren die bewaffneten Palästinenser Arafats beim Ausbruch des Bürgerkriegs (1975–1990) entscheidend. Bis heute müssen sie als Sündenböcke für die libanesische Misere herhalten. Oh­ne Arbeitserlaubnis vegetieren die Flüchtlinge vor sich hin. So bleibt Shatila ein Fremdkörper im Melting Pot von Beirut, einer Stadt, die historisch von Flüchtlingen und Zuwanderern geformt wurde.

Die Armenier sind ein gutes Beispiel dafür. Vor 100 Jahren angekommen, sind sie etabliert, verfügen über Schulen und eine eigene Universität. Selbst die kleine Minderheit innerhalb der Minderheit, die Union der evangelischen armenischen Christen, hat in einem respektablen Bürobau ihren Sitz. Vom Zimmer des Präsidenten Megerdich Karageozian blickt man über Bourj Hammoud. Für Karageozian ist Melting Pot eine falsche Bezeichnung: «Wir leben nicht miteinander, sondern nebeneinander.» Aus achtzehn christlichen und islamischen Konfessionen setzt sich das religiöse Mosaik des Kleinstaats zusammen. Und dafür, dass die religiösen Milieus erhalten bleiben, sorgen die Privatschulen. Siebzig Prozent aller libanesischen Schüler besuchen kon­fessionell ausgerichtete Schulen. Vor allem die evangelischen Christen haben den Bildungsinstitutionen ihren Stempel aufgedrückt. Drei Universitäten sind von Protestanten gegründet, das Englisch der Missionare wurde in die Bildungsinstitutionen hineingetragen und ist so etwas wie die zweite Landessprache.

Englisch und Französisch gehören zum Lehrplan. Das macht es den syrischen Flüchtlingskindern schwer, dem Unterricht zu folgen. Deshalb ist auch der Nachmittagssprachkurs im Haus des «Social Action Committee» so wichtig. Gerade piepst das Handy von Taline Mardirossian. Tamar, die hier auch Englisch gelernt hat, meldet sich aus Kanada. Sie sei gut angekommen und die erlernten Sprachbrocken seien hilfreich. Kanada, aber auch Armenien, stehen bei den syrisch-armenischen Flüchtlingen als Zufluchtsziele oder Auswanderungsziele hoch im Kurs.

Schon tags zuvor erklärte Megerdich Karageozian, dass der Libanon für die syrischen Armenier nur eine Transitstation sei. Die Auswanderungswelle der armenischen Gemeinschaft während des libanesischen Bürgerkriegs vor Augen, prognostiziert er, dass nur wenige der rund 80 Prozent aus Syrien geflohenen Armenier nach dem Ende des Kriegs in ihre Heimat zurückkehren werden.

Houry Ghazarian denkt hingegen nicht ans Kofferpacken. Bewusst ist die syrische Armenierin mit ihrem Ehemann, einem jungen Pfarrer, ins Krisengebiet von Kessab im Nordwesten des Kriegslandes gezogen. An einer Kirchenkonferenz in Beirut erzählt sie von der Stadt, über dem Mittelmeer in den Ber­gen gelegen. Lange sei das vorwiegend von Armeniern bewohnte Kessab ein sicherer Hafen inmitten der syrischen Kriegswirren geblieben. Im März 2014 überfielen Islamisten die Kleinstadt, vertrieben die Bewohner, verwüsteten Schul­häuser und brandschatzten Kirchen. Die junge Frau schlägt ihr Laptop auf, zeigt Bilder vom islamistischen Vandalismus. In arabischen Lettern ist auf einem weissen Flecken der russgeschwärzten Kirchenmauer «Allahu Akbar» gesprayt.

Hoffnungszeichen

Selbst wenn Houry Ghazarian von der Kirchenschändung erzählt, umspielt ihre Lippen ein Lächeln. In allem Negativen hat sich die junge Frau eine Zuversicht bewahrt. Sie wechselt auf die Facebook-

Seite der evangelischen Kirche Kessab. Kinder spielen, malen und singen in den knallbunten Klassenzimmern des Schulhauses. Zwei Stunden Sonntagsschule sorgen für Abwechslung. Schnell sei die Zahl der Kinder und Jugendlichen in der wie­dereröffneten Sonntagsschule auf sech­zig Kinder gewachsen. Damit sie ein Budget für Materialien und Essen hat sowie Sommercamps organisieren kann, unterstützt Heks die Kirche. Auch fünf, sechs Muslime mischten sich unter die mehrheitlich armenische Kinderschar. «Natürlich passen wir unsere Lieder und Gebete an, damit sich die Muslime nicht missionarisch bedrängt fühlen», sagt die Sonntagsschul-Lehrerin. Ein kleines Hoffnungszeichen im von religiösen Gräben durchzogenen Syrien. Delf Bucher

Heks hilft in Syrien und im Libanon

Reformierte Partnerkirchen in Osteuropa zu stärken, das hat bei Heks, dem Hilfswerk der Evangelischen Kir-

chen Schweiz, seit den 1950er-Jahren Tradition. 2016 startete Heks nun verschiedene

Pilotprojekte, um die kirchliche Zusam­menarbeit auf Syrien und Libanon auszudehnen. Unterstützt wer­den kirchliche Akti­vitäten für Kinder und Jugendliche in zwölf protestantischen Kirchgemeinden in Syrien, Nachmittagsschulen und ein Animationsprogramm der Armenier

in Beirut. Zudem ist geplant, ein Stipendienprogramm für kirchliche Schulen in Syrien aufzubauen.

Langfristig. «Sollten sich die Projekte bewähren, wollen wir unsere Zusammenarbeit langfristig anlegen», sagt der Heks-Projektverantwortliche für die nahöstliche Kirchenprojekte, Matthias Herren. Neben den kirchenorientierten Projek-

ten engagiert sich Heks auch in der humani­tären Hilfe. Zusammen mit der Partnerorganisation Najdeh wurde ein Nothilfeprojekt

im Flüchtlings­lager Shatila lanciert. Hier bekommen arme Familien einen monatlichen

Zustupf. Aber auch mit gemeinnütziger Arbeiten können sie Geld verdienen.

Spenden: Heks PK 80-1115-1 Stichwort: Kirchliche Zusammen­arbeit Syrien/Libanon