Pfingsten ist wunderbar. Pfingsten verstört. Am fünfzigsten Tag nach der Auferstehung Christi an Ostern feiern die Christen, wie der Heilige Geist über die Apostel kam. Plötzlich waren alle Sprachbarrieren beiseitegeschoben. In verschiedenen Sprachen erzählten die Jesus-Jünger «von den grossen Taten Gottes» (Apostelgeschichte 2, 1–13). Die Multikulti-Gemeinde, die zuhört, ist «fassungslos und ratlos», sie staunt über das Wunder. Die Spötter hingegen sagen: «Sie sind voll süssen Weins.»
Staunen über das Pfingstwunder oder die Skepsis, ob dies alles nur eine rauschhafte Illusion ist – diesem Gegensatz wollen wir Autoren nachgehen. Was uns von vornherein für den Geist einnimmt: Er weht, wo er will, wirbelt festgefahrene Vorstellungen durcheinander, wirkt inspirierend und antihierarchisch. Mit dem Pfingstwunder wird aber oft eine Glaubenserfahrung verbunden, die wir nicht teilen, die uns bedenklich stimmt: Bilder zuckender Körper, Zungenreden, Ekstase. Wir fragen uns, ob das Ergriffensein vom Heiligen Geist auch in Besessenheit durch einen ganz anderen Geist kippen kann.
Gelöste Zungen. Wir machen uns auf die Suche nach dem Heiligen Geist, versuchen, uns über die Befragung von drei Menschen ihm anzunähern. Wir beginnen mit jemanden, der sich mit charismatischen Kirchen auskennt. Jenen Kirchen, die sich ausdrücklich auf den Heiligen Geist berufen, und in deren Gottesdiensten die Gläubigen oftmals ekstatische Verzückung erleben. Dass das pfingstlich inspirierte Christentum eine Boomreligion ist, vergessen wir zur Verzagtheit neigenden Schweizer Reformierten gerne und lamentieren stattdessen über die schrumpfende Kirche.
Unser Mann in Hongkong, der gebürtige Schweizer Tobias Brandner, lebt seit zwanzig Jahren mit seiner Familie in der Handelsmetropole. Dort hat er nicht nur in der ehemaligen britischen Kronkolonie das Wachsen der christlichen Kirche vor Augen, sondern auch auf dem chinesischen Festland. Brandner kennt die Gottesdienste, in denen charismatische Prediger in Verzückung geraten, in denen Gemeindemitglieder mitten im Ansturm religiöser Gefühle anfangen zu stammeln und Zungen reden.
Der Hongkonger Gefängnis-Seelsorger und Dozent für Theologie an der dortigen Chinese University sagt, er sei «viel offener geworden» gegenüber charismatischen Christen. Mit «calvinistischer Skepsis» sei er zuerst den ekstatischen Gottesdiensten begegnet. Ohne Sympathie, aber ohne Ablehnung besucht er heute solche erweckte Gottesdienste. «Ich anerkenne, dass charismatische Gemeinden ein wichtiger Bestandteil der christlichen Kirchen im asiatischen und insbesondere im chinesischen Kontext sind.»
Für die gleiche Unvoreingenommenheit plädiert Christina Aus der Au. Das Büro der Theologin und Geschäftsleiterin des Zentrums für Kirchen- entwicklung an der Universität Zürich ist unsere zweite Station auf der Suche nach dem Heiligen Geist. Aus der Au sitzt im Präsidium des deutschen Kirchentags, der Anfang Juni in Stuttgart stattfindet. Und wenn der Heilige Geist nicht an diesem evangelischen Grossanlass weht, wo denn sonst in den evangelischen Kirchen? Doch als erstes erzählt die Theologin eine Geschichte von der Fortbildung für Prediger von Migrationskirchen meist charismatischer Orientierung. Als Dozentin im Ethikunterricht habe sie darüber gestritten, ob die Bibel homosexuelle Beziehungen verbiete. Vergeblich versuchte sie, die Afrikaner und Asiatinnen dank einer historisch-kritischen Bibelauslegung davon zu überzeugen, die Homosexualität in einem anderen Licht zu sehen.
Später beim gemeinschaftlichen Singen und Gebet breitete sich indes «das Gefühl der Verbundenheit aus», sagt Aus der Au. «Es erinnerte daran, wie aus den verschiedenen Gliedern ein Körper entstehen kann, wie ihn der Apostel Paulus beschreibt.» Kaum überwindbare Differenzen und unterschiedliche Wertvorstellungen sind damit nicht erledigt, aber über sie hinaus wird das Verbindende spürbar.
Trotzdem verfällt Christina Aus der Au nicht der Harmoniesucht. Sie postuliert, dass sich der Heilige Geist auch in der kontroversen Diskussion und sogar im Streit zeigen kann. Das gilt besonders für das Lesen biblischer Texte. Erst in der offenen Diskussion über Bibelstellen offenbart sich die darin liegende Geistkraft. Obwohl sich der Apostel Paulus in seinen Briefen auf die inspirierende Kraft des Heiligen Geistes beruft, hält Aus der Au fest: «Der Heilige Geist hat keine Ghostwriter.» Die Autoren biblischer Schriften mag die Geistkraft beflügelt haben, in das verschriftlichte Wort einsperren lässt sie sich aber nicht. Denn die Schrift fixiert, doch der Geist ist flüchtig, er setzt uns in Bewegung. Erst im Hören auf das Wort und in der Auslegung erlangt er wieder seine Präsenz. Nicht umsonst redete Jesus in Gleichnissen vom Reich Gottes. Weil diese Erzählungen die Zuhörenden berühren und sie verwandeln wollen.
Singen im Gefängnis. Über Bibelstellen streiten reicht jedoch nicht, um den Heiligen Geist zu spüren. «Der Geist weht da, wo Menschen guten Willens sind», sagt Aus der Au. Eine offene Diskussion ist für sie die Prämisse. Die Wahrheit lässt sich nur erahnen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Denn nur die offen geführte Debatte verhindert, dass sich jemand zum Richter über letzte Wahrheiten aufschwingt.
Das Prinzip der Offenheit und Gemeinschaft betont auch Tobias Brandner, wenn er den schwer fassbaren Heiligen Geist definieren soll. Er erlebt als Gefängnisseelsorger Ähnliches wie Aus der Au in der Migrationskirche: «Wenn wir im Gefängnis in einer grossen Gruppe von Männern gemeinsam Gottesdienst feiern, singen und beten, spüre ich den Heiligen Geist gelegentlich.»
Eine revolutionäre Kraft. Ganz deutlich spürte Brandner die Geistkraft im Herbst letzten Jahres, als er sich unter die Studenten und Demokratiebewegten mischte. Damals besetzte eine Bürgerbewegung Plätze und Hauptverkehrsachsen Hongkongs. Der Einfallsreichtum der Protestkultur, die ausgeprägte Friedfertigkeit, die der Repression standhielt, wie auch die Beharrlichkeit der Demonstrierenden, 74 Tage gegenüber einer kompromisslosen Stadtregierung auszuharren – das faszinierte ihn: «In der Kreativität und in der Verbundenheit der Menschen untereinander spürte ich das Wirken des Heiligen Geistes.» Die Geistkraft, so ist der Theologe überzeugt, «unterspült Gewissheiten und Hierarchien, rüttelt an Strukturen und Traditionen». Sie stehe für «die ständige Verflüssigung unseres Glaubens».
Natürlich hoffe sie auch am Kirchentag auf die Präsenz des Heiligen Geistes, sagt Aus der Au. Schliesslich versteht sich die Veranstaltung nicht einfach als Festwoche, sondern als Ort, an dem aus christlicher Perspektive politische Forderungen aufgestellt werden. Aber Aus der Au formuliert sogleich einen klaren Vorbehalt: «In einem Massenerlebnis ist immer auch Menschliches und nie nur Göttliches.» Auf den Kirchentag übertragen heisst dies: Promikult und persönliche Eitelkeiten finden sich hier genauso wie ein berührendes Gemeinschaftsgefühl. Und selbst ein gemeinsam gesungenes Taizélied oder ein parteiübergreifendes Manifest für eine humane Flüchtlingspolitik garantiere noch nicht die Präsenz des Heiligen Geistes. Das manipulative und suggestive Moment, das sich einstellt, wenn sich Menschen zu Massen zusammenballen, dürfe nie ausser Acht gelassen werden. Der Geist selbst sei zwar unkorrumpierbar. «Doch der Mensch ist in der Rezeption des Geistes sehr verführbar. Unser Gehirn ist zu unzähligen Kombinationen fähig, um uns etwas vorzugaukeln», sagt die Theologin, die sich vertieft mit Neurobiologie beschäftigt hat.
Die Voraussetzungen, dass sich der Pfingstgeist am Kirchentag trotz dieser Vorbehalte offenbart, sind gegeben. Das zeigt schon das Durcheinander der
beteiligten Organisationen, das dem Sprachgewirr aus der Apostelgeschichte in nichts nachsteht: vom ökumenischen Arbeitskreis Sadomasochismus und Christsein über die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten bis zur Arbeitsgemeinschaft Plattdüütsch in de Kark. Sie alle berufen sich auf das Evangelium. Wenn hier Verständigung gelingt und in der Vielfalt das Verbindende aufscheint, weht wohl tatsächlich der Geist.
Der Geist im Streit. Szenenwechsel: Vom Büro der Theologischen Fakultät beim Grossmünster geht es mitten in den Kreis 5, ins Spital Sune-Egge der Sieber Werke. In dieser Fachklinik für Suchtkranke treffen wir im Sitzungszimmer unter dem Dach die Pfarrerin Katharina Zimmermann. Täglich besucht sie die Krankenzimmer, setzt sich in die Cafeteria, immer offen für ein Gespräch. Katharina Zimmermann drängt sich nicht auf. Sie habe das Privileg, die Süchtigen weder mit Therapieplänen noch mit Verboten zu konfrontieren. Das schafft Vertrauen. Der Sune-Egge ist ein guter Ort für uns: Wenn der Heilige Geist Gemeinschaft stiftet, dann finden wir ihn hier,
wo Menschen aufgenommen und angenommen werden, die von vielen längst aufgegeben wurden.
Dass die Seelsorgerin nicht nur von Harmonie und Friedensliebe spricht, wenn sie das Wirken des Heiligen Geistes umschreiben soll, überrascht uns. «Manchmal zeigt sich der Geist im Streit.» Zimmermann erzählt, wie sie im Betreuungsteam manchmal darum ringen, was für den Patienten das Beste sei. Physiotherapeutin, Pfleger, Ärztin, Seelsorgerin: Alle haben einen anderen Blick auf den Menschen, dem geholfen werden soll. Im Konsens, der sich einstellt, «aber auch in der Auseinandersetzung davor», spüre sie Gottes Wirken. Entscheidend ist für Zimmermann, dass «die Geistkraft zum Leben drängt». Und vor allem: «Sie ist untrennbar verknüpft mit dem Leben Jesu.» Der Aufruf zur Christusnachfolge ist jetzt ganz nah: «Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan» (Mt 25,40). Die Pfarrerin verweist aber auch auf die Lebenskraft, den göttlichen Atem aus Genesis 2,7: «Da bildete der Herr, Gott, den Menschen aus Staub vom Erdboden und blies Lebensatem in seine Nase. So wurde der Mensch ein lebendiges Wesen.» Der Geist als göttlicher Funke, den alle Menschen in sich tragen. Katharina Zimmermann sagt: «Er verbindet uns mit allen Menschen über gesellschaftliche, nationale und religiöse Grenzen hinweg.»
Der Funke mag verschüttet sein, doch leuchtet er auf, wenn nichts mehr möglich scheint. «Wir haben Patienten hier, die auf dem Sterbebett eine unglaubliche Lebenskraft entwickeln.» Oder der Funke springt im Gespräch. Zimmermann erzählt von einem Patienten. Wir nennen ihn Bastian. Er sitzt eines Tages in der Cafeteria im Sune-Egge. Ein Auge ist erblindet, blickt ins Leere, die Zähne sind wie bei vielen Suchtkranken kaputt. Er ist völlig abgemagert, sein Körper ausgemergelt. Doch im Gespräch spürt Katharina Zimmermann unverhofft Bastians Wille zum Leben. Sie erfährt seine Kindheitsgeschichte, sein Herumgeschobenwerden vom einen Heim ins andere. Und sie erkennt dieses Leuchten in Bastians unversehrtem Auge, wenn er auf der Eckbank beim Kachelofen in der Cafeteria erzählt. Plötzlich spricht er über Ideen und Pläne, von seinen Hoffnungen, Träumen und Sehnsüchten. Von der Zukunft. «Hier wirkt eine enorme Auferstehungskraft, die heilende Gegenwart Christi.»
Keine schnellen Wunder. Aber auch hier gilt: Mit dem Heiligen Geist wird nicht einfach alles gut. Zu Zimmermanns Alltag gehören die trostlose Leere, Hilflosigkeit, Scheitern. Wieder erzählt sie eine Geschichte. Von Eva, einer Schwerstkonsumentin, die singen kann wie ein Engel. Sie geht einen Schritt vor, bringt die Energie auf, Gesangsstunden zu besuchen. Sie organisiert kleine Konzerte. Aber immer wieder erlischt die Kraft, auf den Schritt vorwärts folgen drei zurück.
Erweckungserlebnisse und Wunderheilungen hat Zimmermann nie erlebt. Die Erfolgsgeschichte «von der Nadel zu Jesus über Nacht» entspricht nicht ihrer Erfahrung. «Der Heilige Geist löst Prozesse aus, er wirkt auf Dauer hin.»
Irrtum vorbehalten. Was bleibt nun nach unserer Suche? Haben wir den Geist gefunden? Und wenn ja, hätten wir es gemerkt? «Ich kann nur in der Vergangenheit sagen, dass der Heilige Geist gewirkt hat, und auch das nur mit Vorbehalt», sagt Christina Aus der Au. Was wir sicher entdeckt haben, sind Spuren des Wirkens der Geistkraft: in der bunten Gemeinschaft der Kirche, in der Diakonie, in der Demokratiebewegung. Den lebendigen Geist haben wir gespürt im Zuhören und im Erzählen.
Dennoch bewahren wir uns unsere Vorsicht. Sie läuft dem Glauben nicht zuwider. Im Gegenteil: Die Unsicherheit, die eigentlich Demut ist, anerkennt die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis. Sie markiert die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem unsagbaren und unverfügbaren Göttlichen. Dass es nicht gutkommt, wenn Menschen meinen, den Geist gepachtet zu haben und ihn bei sich einsperren wollen, zeigt die blutige Spur durch die Kirchengeschichte.
Nur: Der Zweifel kommt nicht zuerst. «Als kirchliche Gemeinschaft sollten wir durchaus den Mut haben, wie der Prophet Jesaja zu sagen: Sein Geist hat mich gesandt», sagt Aus der Au. Im Büro an der Kirchgasse ist das einfach ein Predigtsatz. Nach unserem Versuch aber liest sich die Stelle im Alten Testament wie ein Fazit: «Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir. Denn der Herr hat mich gesalbt, um den Elenden frohe Botschaft zu bringen, er hat mich gesandt, um die zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, um Freilassung auszurufen für die Gefangenen und Befreiung für die Gefesselten.» (Jesaja 61, 1). Ob in chinesischen Gefängnissen oder im Zürcher Sune-Egge, in der Auflehnung gegen Diktaturen oder in der Gemeinschaft des Kirchentags: Der Pfingstgeist ermutigt und befreit.