Schwerpunkt 19. Juli 2022, von Karin A. Wenger, Mitarbeit: Alaa Mohammed

Vom zaghaften Erwachen des christlichen Lebens

Rückkehr nach Mossul

Rabia, Sarab und Nada Sami flüchteten vor dem Terror des IS. Die Heimkehr der Christen war ein Zeichen, dass die Stadt im Nordirak wieder sicher war.

Da standen sie jetzt, dreieinhalb Jahre nach der Flucht, mitten im Haus, in dem sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatten. Und nichts fühlte sich vertraut an. Die Türen und Fenster fehlten, in einer Wand klaffte ein grosses Loch, die Zimmer waren geplündert, und an den Sofas klebten Blutflecken. 

Das Haus von Rabia Sami (48), seinen Schwestern Sarab (43) und Nada (51) hatten Kämpfer des selbst ernannten Islamischen Staates (IS) während ihrer Herrschaft besetzt. So erzählten es später die Nachbarn.

Eine multikulturelle Stadt

Die Geschwister waren sich vor der Heimreise Anfang 2018 bewusst, dass sich ihr Zuhause kaum mehr wie ein Zuhause anfühlen würde. Trotzdem wollten sie zurück. Sie sind eine Ausnahme unter den Tausenden von Christen, die vor dem IS aus Mossul geflohen sind. 

Die Stadt im Nordirak war jahrhundertelang eine der vielfältigsten im ganzen Land. Hier lebten Menschen, die unterschiedlichen Religionen und Ethnien angehörten. Dann, am 10. Juni 2014, hisste der IS seine schwarzen Flaggen auf den Regierungsgebäuden. Eine halbe Million Menschen flüchtete, darunter mit ganz wenigen Ausnahmen auch alle Christen.

Fünf Jahre ist es nun her, seit die Menschen, die in der Stadt ausgeharrt hatten, auf den Strassen die Freiheit feierten. Eine grosse Militäroffensive hatte den IS vertrieben. Mossul ist heute so sicher wie nie zuvor seit der US-Invasion 2003, sogar der Papst fuhr in seinem offenen Golf-Cart durch die Trümmer der Altstadt. Trotzdem sind bisher erst einige Hundert Christinnen und Christen zurückgekehrt.

Der Tod nach der Rückkehr

«Der Anfang war hart, aber wir hielten an der Hoffnung fest, unsere Leben neu aufbauen zu können», erzählt Rabia Sami im Wohnzimmer an einem Sonntag Mitte Mai. Seine Mutter hingegen, die mit dem Sohn und den zwei Töchtern heimkehrte, habe den Anblick des kaputten Zuhauses nicht ertragen. Sie starb kurz nach der Rückkehr. 

Die Geschwister Sami liehen sich Geld von Verwandten, renovierten die Mauern, liessen neue Türen und Fenster einsetzen. Während Sarab und Nada durch die Räume führen, leuchten ihre Augen. Ihr Zuhause mag bescheiden sein, sie schlafen alle drei im gleichen Zimmer, doch es fühlt sich wieder an wie daheim.

Nada arbeitet in einer Kleiderfabrik, und Rabia ist Wächter auf der Baustelle der syrisch-katholischen Kirche al-Tahira, die zurzeit von der Unesco wiederaufgebaut wird. Vor ihren Trümmern hielt der Papst bei seinem Besuch im März 2021 eine Rede. Stolz zeigt Rabia auf seinem Handy Videos davon.

Den Kontakt zu ihren muslimischen Nachbarn schätzen die Rückkehrer. Während der IS-Herrschaft hätten diese versucht, ihr Haus zu beschützen: Der Nachbarssohn sei eingezogen und habe dem IS gesagt, er wohne hier, erzählt Rabia. Doch der IS wusste, vermutlich durch Zugang zu Eigentumsregistern, dass das Haus Christen gehörte.

Die Terroristen konfiszierten es. Zuerst habe die Hisba, die Sittenpolizei des IS, das Gebäude genutzt. Später, während der Schlacht um Mossul, seien verletzte Kämpfer hergebracht worden. Das erzählten ihnen die Nachbarn am Telefon, als die Geschwister noch in der kurdischen Stadt Erbil wohnten. 

Diese Gespräche bargen ein grosses Risiko: Der IS wollte verhindern, dass Informationen aus dem besetzten Mossul nach aussen drangen. Deshalb stellte er die Türme für den Mobilfunk in der Stadt ab. Die Nachbarn versteckten die SIM-Karte des Handys in einem Blumentopf. Um etwas ausserhalb der Stadt telefonieren zu können, brauchten sie jeweils eine taugliche Ausrede.  

Neue Hotels und Trümmer

Die Rückkehr der christlichen Familie ein halbes Jahr nach dem Sieg über den IS verstanden die Nachbarn als Zeichen dafür, dass die Stadt nun endlich wieder sicher war. Doch die Samis sind bis heute die einzigen Christen im Quartier, in dem früher mehrere Familien der religiösen Minderheit lebten. 

Sonntags fahren die Geschwister quer durch die Stadt, auf die andere Seite des Tigris, wo die einzige Kirche steht, in der zurzeit regelmässig eine Messe gefeiert wird.

Vor dem Altar steht Priester Emmanuel, auf Arabisch nennen sie ihn Abu Raid. Er streckt die Arme aus und stimmt ein Gebet an. Rund 40 Personen besuchen an diesem Sonntag die Messe in der syrisch-katholischen Kirche al-Bichara. Der Priester empfängt hier alle Gläubigen, egal welcher Konfession. Die Samis gehören wie die Mehrheit der Christen im Irak zur chaldäisch-katholischen Ostkirche.

Nach dem Gottesdienst lädt der Priester die Gemeinde in einem grossen Raum gleich nebenan zu Kaffee und einem Schokoladenstück ein. Der ganze Gebäudekomplex ist modern, er wurde nach dem Abzug des IS neu aufgebaut.

An hohen Feiertagen kämen bis zu 200 Personen in die Kirche. Die meisten Iraker müssen sonntags arbeiten, weil das Wochenende wie in vielen islamischen Ländern am Freitag beginnt. Mossul brauche mehr Arbeitsplätze, Krankenhäuser, Fabriken, der Flughafen müsse wieder eröffnet werden, sagt Priester Emmanuel, sonst würden die Menschen kaum zurückkehren. 

Viele der Christen, die nicht ins Ausland geflüchtet sind, leben noch immer in Lagern für Binnenvertriebene. Zwar schreitet in Mossul der Wiederaufbau voran. Besonders im Osten erinnert wenig an den Krieg. Restaurants sind bis spät in die Nacht geöffnet, Leuchtreklamen blinken an den Strassen, Hotels empfangen erste Touristen. Doch andere Viertel der Stadt bestehen bis heute weitgehend nur aus Schutthaufen.  

Die Spuren des Terrors

Neu aufgebaut werden muss auch das Gefühl von Sicherheit. Im persönlichen Gespräch erzählen viele Leute in Mossul, sie hätten Mühe, zu vertrauen. Fast alle kennen jemanden, der den IS unterstützte.  

Um den anfänglichen Rückhalt des IS in der Bevölkerung zu verstehen, braucht es einen Blick zurück: Nach der US-Invasion begannen al-Qaida und andere Milizen die Stadt wie eine Mafia zu kontrollieren. Das Leben war geprägt von Entführungen, Morden und Bombenanschlägen, die teilweise gezielt religiöse Minderheiten trafen. Damals verliessen viele Christen die Region. Für die Bewohner der Stadt kam hinzu, dass die meisten irakischen Soldaten, die patrouillierten, Schiiten waren. Die Militärs behandelten die mehrheitlich sunnitischen Männer, als wären diese Mitglieder sunnitischen Milizen. Sie schlugen sie, sperrten sie ein. In dieser Willkür erhofften sich manche von den Gesetzen des IS, so barbarisch sie auch waren, etwas Stabilität.

Anders als andere Christen haben die Geschwister Sami keine Mühe, wieder zu vertrauen. «Die Menschen, mit denen wir nun zusammen sind, litten viel mehr als wir, denn sie mussten unter dem IS leben», sagt Sarab. Sie, ihre Schwester und ihr Bruder sind froh, wieder in Mossul zu sein. «Wir haben unsere Erinnerungen hier», sagt Rabia. «Dies ist unsere Heimat.»

Der Fall und die Befreiung von Mossul

Im Frühsommer 2014 startete der IS seinen Siegeszug über die irakischen Städte Tikrit und Mossul, vor dem Hunderttausende, darunter viele Christen und andere religiöse Minderheiten fliehen mussten. Auf dem Höhepunkt der Macht kontrollierten die Extremisten einen Drittel des Iraks. Mossul, die zweitgrösste Stadt des Landes, war rasch gefallen, das irakische Militär hatte seine Posten nach wenigen Tagen Widerstand verlassen. Die Stadt stand in den Schlagzeilen, als der damalige IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi sein Kalifat in der grossen Nuri-Moschee ausrief. Während seiner Herrschaft zerstörte der IS das kulturelle Erbe. Was die Terroristen verschonten, wurde bei der Rückeroberung der Stadt zerbombt. Die irakischen Truppen starteten ihre Offensive Mitte Oktober 2016. Mit einer internationalen Koalition befreiten sie zuerst den Osten der Stadt, später rückten sie in den Westen vor. Am 9. Juli 2017 erklärte Iraks Regierung den Sieg über den IS in Mossul.