Schwerpunkt 11. Juni 2020, von Christa Amstutz Gafner, Sandra Hohendahl-Tesch

Woran sich der moralische Kompass orientiert

Ethik

Ein Gepräch mit der Zürcher Ethikerin Monika Wilhelm über das schlechte Gewissen und Gewissenskonflikte, CO₂-Kompensationen, Rachegöttinen, Grillpartys und das Herz.

Beim Thema Gewissen denkt man automatisch ans schlechte Gewissen. Muss ich zum Beispiel ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich Fleisch esse?

Monika Wilhelm: In der Frage steckt viel von dem drin, was das Gewissen ausmacht. Es ist einerseits etwas sehr Persönliches, hat mit den Werten und Haltungen zu tun, welche ich pflegen möchte. Andererseits wird das Gewissen von gesellschaftlichen Normen und Werten geprägt, die immer neu ausgehandelt werden. Beim Tieressen etwa befinden wir uns gerade in so einem Prozess. Im Ethikzentrum bin ich von Vegetarierinnen und Vegetariern umgeben, gehe ich abends an eine Grillparty von Freunden, findet man Fleischessen dort meist okay.

Wenn etwas zur gesellschaftlichen Norm wird, passt sich mein Gewissen dem automatisch an?

Das Gewissen ist nicht automatisch ein Spiegel der gesellschaftlichen Norm. Aber weil ich in einer Gesellschaft lebe, begegnen meine eigenen Werte und Haltungen den Normen dieser Gesellschaft. Was das für das Gewissen bedeutet, ist unterschiedlich. Wenn ich zum Beispiel überzeugt bin, dass jedes Wort in der Bibel wahr ist, kann mir ein Verstoss dagegen auch dann ein schlechtes Gewissen machen, wenn die Gesellschaft mit diesem Verhalten kein Problem hat. Breit akzeptierte Normen helfen aber als Kompass. Wenn ich dagegen verstosse, weiss ich meist, dass ich ein schlechtes Gewissen haben sollte. 

Kann ich mein Gewissen reinwaschen, indem ich zum Beispiel Geld für einen guten Zweck spende?

Wenn ich ein schlechtes Gewissen habe, bedeutet das ja auch, dass ich nicht hinter meiner Handlung stehen kann. Wenn ich jemanden verletze, kann ich das erkennen, die Person um Vergebung bitten und mein Verhalten idealerweise nicht wiederholen. Trage ich einen Pelz und bereue das plötzlich, kann ich nicht um Vergebung bitten, denn das Tier ist ja tot. Stellvertretend könnte ich 50 Franken für den Tierschutz spenden. Ob das mein Gewissen dann wirklich beruhigt, kann nur ein Selbsttest zeigen. 

So funktioniert es ja mit der CO₂ - Kompensation beim Fliegen.

Hier frage ich mich, ob man sie aus schlechtem Gewissen zahlt oder weil man es sinnvoll findet, einen Beitrag für die Umwelt zu leisen. Mit einem schlechten Gewissen weiterzufliegen und weiterzubezahlen, ist wenig sinnvoll.

Sollte man das Gewissen, das auch die Gefühle berührt, nicht vermehrt in die Ethik einbeziehen? Vielleicht könnte es helfen, moralische Normen, die einem einleuchten, auch wirklich zu befolgen? 

Im 20. Jahrhundert scheute man sich in der ethischen Diskussion vor den Gefühlen, weil man sie für irrational hielt. Heute sieht man eher wieder, wie Vernunft und Emotio-nen zusammenspielen können. Zur zweiten Frage: Vielleicht, aber das Gewissen kann sich auch irren, und es kann manipuliert werden. 

Ist das Gewissen angeboren oder entwickelt es sich erst mit der Zeit?

Beides. Die Vorstellung einer Grundkonstitution ist verbreitet, so auch in der Philosophie. In der Theologie ist insbesondere Paulus wichtig. Er sagt, dass alle Menschen, also nicht nur Christinnen und Christen, von Geburt an eine Art Urgewissen haben, das sie etwa davon abhält, einfach jemanden umzubringen. Diese Grundkonstitution wird durch Erzählungen und Erfahrungen weiter verfeinert. Heute wird der Begriff Gewissen im wissenschaftlichen Diskurs allerdings eher selten verwendet. Lieber spricht man von moralischem Bewusstsein oder von der Entwicklung moralischer Positionen. 

Warum?

Vielleicht weil das Gewissen, wie etwa auch die Tugend, eine Geschichte hat, die stark mit Verboten verbunden ist. In der Ethik verwendet man deshalb lieber einen unbelasteten Begriff. Mit dem Gewissen kann auch Missbrauch getrieben werden. Man macht den Menschen ein schlechtes Gewissen, um eigene Interessen durchzusetzen.

Mit dem Gewissen kann auch Missbrauch getrieben werden. Man macht den Menschen ein schlechtes Gewissen, um eigene Interessen durchzusetzen.

Wie ist das Konzept des Gewissens eigentlich entstanden?

Es gab den Begriff schon in der griechischen Tradition. Wer ein schlechtes Gewissen hatte, bekam es mit den Erinnyen, den Rachegöttinnen und Schutzgöttinnen der sittlichen Ordnung zu tun. Mit der Zeit wanderten diese ins Innere des Menschen und verbunden mit der orientalischen Tradition entstand ein ähnlicher Begriff des Gewissens, wie wir ihn heute haben.

Und wie war denn die orientalische Vorstellung?

Im alten Orient, also auch im Alten Testament, sah man das Herz als Zentrum des Menschen. Es war nicht nur ein Organ, das Blut pumpt, sondern auch der Sitz von Emotionen und Verstand. Alles kam im Herzen zusammen. Das Herz galt auch als jener Ort, wo die Verbindung zu Gott am stärksten ist. Dort spürte man, ob man Gottes Gesetzen Folge leistet oder nicht.

Können Sie ein Beispiel nennen?

König David etwa führte eine Volkszählung durch und missachtete dabei das Gesetz, was den Zorn Gottes weckte. David hat das gemerkt, weil sein Herz laut zu klopfen begann. Heute würde man sagen, es war eine körperliche Reaktion auf sein schlechtes Gewissen. Er sagte: Gott, ich habe einen Fehler gemacht, es tut mir leid (2 Sam 24,10

Wie haben sich die griechische Tradition des Gewissens und die orientalische des Herzens vereint?

Bei Paulus sieht man das sehr schön. Er hat griechische und jüdische Glaubenselemente verbunden. Die Göttinnen, die einem von aussen zeigen, was richtig und was falsch ist, und das Herz, das im inneren Dialog mit Gott steht.

Die Reformatoren beriefen sich auch auf das Gewissen.

Ja, sie waren wichtige Wegbereiter der Glaubens- und Gewissensfreiheit, wie sie seit 1874 in unserer Verfassung verankert ist. Martin Luther hätte 1521 vor dem Wormser Reichstag widerrufen sollen, was er predigte. Er sagte: «Solange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen.» Zwingli hat das ähnlich ausgedrückt: «Das Gewissen wird nur dann verletzt, wenn es weiss, dass es gegen Gott gehandelt hat. Das weiss es, wenn es seinem Wort nicht folgt.»

Doch wer bestimmt, was das Wort Gottes verlangt?

Vor der Reformation war dies das katholische Lehramt. Die Reformatoren haben den grossen Schritt hin zum individuellen Lesen von Gottes Wort ermöglicht. Dabei zeigt sich aber bis heute, dass jeder und jede die Bibel anders liest. Zum Beispiel in Bezug auf Homosexualität. Wenn ein Pfarrer ein homosexuelles Paar aus Gewissensnot nicht segnen will, kann er sich in der Zürcher Kirche davon befreien lassen.

Sollte er nicht eher ein schlechtes Gewissen haben?

Da sind wir wieder beim Anfang: der Beziehung vom Persönlichen zur Norm. Er handelt ja gerade aus Gewissensnot. Wenn eine andere Norm gilt in der reformierten Kirche, kann man mit ihm diskutieren. Sein Gewissen aber kann und will man ihm nicht absprechen, weil es seiner persönlichen Interpretation von Gottes Wort entspricht.  

Das Gewissen kann einen auch zu Gesetzesverstössen zwingen.

«Zwingen» ist etwas stark. Denn auch wenn sich unser Gewissen meldet, haben wir eine Wahl. Aber es stimmt: Das Gewissen treibt uns an, manchmal gegen das Gesetz. Das kann auch ein Segen sein. Die Verbrechen des Naziregimes wären noch viel verheerender gewesen, hätten nicht viele Menschen nach ihrem Gewissen gehandelt. 

Welche Gewissensentscheide interessieren Sie aktuell?

Bei der Nothilfe für Flüchtlinge etwa kann ich gut nachvollziehen, dass Leute vom Gewissen her gegen das Gesetz verstossen. Ist die Person bereit, die juristischen Konsequenzen zu tragen, handelt es sich wohl um einen Gewissensentscheid. Der ist nicht billig zu haben. 

Wann haben Sie selbst ein schlechtes Gewissen?

Wenn ich mein Wort nicht halten kann. Kürzlich versprach ich einer Freundin, mit ihr zu zweit ihren Geburtstag zu feiern. Dann wurde ich für den gleichen Zeitpunkt zu -einer zweitägigen Wanderung eingeladen und sagte ihr ab. Die Wanderung konnte ich wegen meines schlechten Gewissens nicht geniessen. Ich habe die Freundin dann um Vergebung gebeten, die sie mir zum Glück gewährt hat.