Beim Thema Gewissen denkt man automatisch ans schlechte Gewissen. Muss ich zum Beispiel ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich Fleisch esse?
Monika Wilhelm: In der Frage steckt viel von dem drin, was das Gewissen ausmacht. Es ist einerseits etwas sehr Persönliches, hat mit den Werten und Haltungen zu tun, welche ich pflegen möchte. Andererseits wird das Gewissen von gesellschaftlichen Normen und Werten geprägt, die immer neu ausgehandelt werden. Beim Tieressen etwa befinden wir uns gerade in so einem Prozess. Im Ethikzentrum bin ich von Vegetarierinnen und Vegetariern umgeben, gehe ich abends an eine Grillparty von Freunden, findet man Fleischessen dort meist okay.
Wenn etwas zur gesellschaftlichen Norm wird, passt sich mein Gewissen dem automatisch an?
Das Gewissen ist nicht automatisch ein Spiegel der gesellschaftlichen Norm. Aber weil ich in einer Gesellschaft lebe, begegnen meine eigenen Werte und Haltungen den Normen dieser Gesellschaft. Was das für das Gewissen bedeutet, ist unterschiedlich. Wenn ich zum Beispiel überzeugt bin, dass jedes Wort in der Bibel wahr ist, kann mir ein Verstoss dagegen auch dann ein schlechtes Gewissen machen, wenn die Gesellschaft mit diesem Verhalten kein Problem hat. Breit akzeptierte Normen helfen aber als Kompass. Wenn ich dagegen verstosse, weiss ich meist, dass ich ein schlechtes Gewissen haben sollte.
Kann ich mein Gewissen reinwaschen, indem ich zum Beispiel Geld für einen guten Zweck spende?
Wenn ich ein schlechtes Gewissen habe, bedeutet das ja auch, dass ich nicht hinter meiner Handlung stehen kann. Wenn ich jemanden verletze, kann ich das erkennen, die Person um Vergebung bitten und mein Verhalten idealerweise nicht wiederholen. Trage ich einen Pelz und bereue das plötzlich, kann ich nicht um Vergebung bitten, denn das Tier ist ja tot. Stellvertretend könnte ich 50 Franken für den Tierschutz spenden. Ob das mein Gewissen dann wirklich beruhigt, kann nur ein Selbsttest zeigen.
So funktioniert es ja mit der CO₂ - Kompensation beim Fliegen.
Hier frage ich mich, ob man sie aus schlechtem Gewissen zahlt oder weil man es sinnvoll findet, einen Beitrag für die Umwelt zu leisen. Mit einem schlechten Gewissen weiterzufliegen und weiterzubezahlen, ist wenig sinnvoll.
Sollte man das Gewissen, das auch die Gefühle berührt, nicht vermehrt in die Ethik einbeziehen? Vielleicht könnte es helfen, moralische Normen, die einem einleuchten, auch wirklich zu befolgen?
Im 20. Jahrhundert scheute man sich in der ethischen Diskussion vor den Gefühlen, weil man sie für irrational hielt. Heute sieht man eher wieder, wie Vernunft und Emotio-nen zusammenspielen können. Zur zweiten Frage: Vielleicht, aber das Gewissen kann sich auch irren, und es kann manipuliert werden.
Ist das Gewissen angeboren oder entwickelt es sich erst mit der Zeit?
Beides. Die Vorstellung einer Grundkonstitution ist verbreitet, so auch in der Philosophie. In der Theologie ist insbesondere Paulus wichtig. Er sagt, dass alle Menschen, also nicht nur Christinnen und Christen, von Geburt an eine Art Urgewissen haben, das sie etwa davon abhält, einfach jemanden umzubringen. Diese Grundkonstitution wird durch Erzählungen und Erfahrungen weiter verfeinert. Heute wird der Begriff Gewissen im wissenschaftlichen Diskurs allerdings eher selten verwendet. Lieber spricht man von moralischem Bewusstsein oder von der Entwicklung moralischer Positionen.
Warum?
Vielleicht weil das Gewissen, wie etwa auch die Tugend, eine Geschichte hat, die stark mit Verboten verbunden ist. In der Ethik verwendet man deshalb lieber einen unbelasteten Begriff. Mit dem Gewissen kann auch Missbrauch getrieben werden. Man macht den Menschen ein schlechtes Gewissen, um eigene Interessen durchzusetzen.