Schwerpunkt 16. Dezember 2021, von Christa Amstutz Gafner

Der Glaube beginnt mit dem Staunen

Essay

Hilflos wie ein Kind liegt Gott in der Krippe. Kinder brauchen Schutz. Und sie leiden unter Flucht und Krieg. Manchmal sind Kinder auch einfach nervig. Und sie können staunen.

Vielleicht ist es die Sehnsucht nach dem kindlichen Staunen, die uns im Advent und an Weihnachten befällt. Jedenfalls suchen Erwachsene unter dem Jahr kaum so sehr nach gefühlvollen Erlebnissen, schwelgen in Kindheitserinnerungen, zelebrieren alte Familienrituale, lieben Romantik, ja sogar Kitsch. Man wünscht sich Entschleunigung, Innehalten, obwohl dies paradoxerweise oft nicht gelingt, weil das Fest zugleich viele Ansprüche erfüllen sollte, die wenig mit Staunen zu tun haben.

Und doch ist gerade jetzt die Erinnerung an das eigene Kindsein besonders wach. Sie führt zurück in eine Welt, in der Zeit ebenso wenig eine Rolle spielte wie vorgefasste Vorstellungen von dem, was möglich ist und was nicht. Zurück in eine Welt, in der es für die Seele immer etwas zu staunen gab.

Der funkelnde Christbaum

Mit kleinen Kindern kann man sich nicht nur an Weihnachten, sondern das ganze Jahr über auf eine Entdeckungsreise des Staunens mitnehmen lassen. Dahinter steckt viel mehr als die viel zitierten «strahlenden Kinderaugen» vor dem glänzenden, funkelnden Weihnachtsbaum. Platon und Aristoteles bezeichneten das Staunen als Anfang der Philosophie und damit jeder Wissenschaft. 

Albert Einstein meinte: «Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.» Und der Religionsphilosoph Karl Jaspers erkannte im Staunen die «Gucklöcher der Metaphysik». 

Harte Weihnachtsrealität

Lässt man sich als Erwachsene auf die Herangehensweise von Kindern an die Welt ein, begegnet man Schönem, Grossartigem, Überraschendem, Unerklärlichem, Rätselhaftem, Verstörendem und Erschreckendem. Vielen Eindrücken jedenfalls, die man im getakteten Alltagsmodus übersieht oder auch vorschnell in eine vertraute Schublade steckt.

Dabei kann uns das Staunen, die Bereitschaft, offen zu sein für Ungewohntes und Wundersames, direkt zum Gott in der Krippe führen. Die Geschehnisse um die Geburt Jesu stehen in schroffem Gegensatz zu den verbreiteten romantisierenden Darstellungen von Weihnachten. Eine ungeklärte Vaterschaft, eine lebensgefährliche Geburt im Stall, ein Säugling in einer Futterkrippe. Und eine Familie, die kurz darauf ins Ungewisse flüchten muss.

Die Bibelwissenschaft ist sich heute zwar weitgehend einig, dass die Flucht nach Ägypten eine Legende ist. Und damit wahrscheinlich auch der Kindermord, den der Herrscher Herodes angeordnet haben soll, um den neugeborenen Konkurrenten gleich am Anfang auszuschalten. Die Weisen aus dem Morgenland hatten ihn nach dem Weg zum neuen König der Juden gefragt. 

Die Ohnmacht Gottes

Die Jünger Lukas und Matthäus berichten in ihren Evangelien trotzdem von der Flucht. Die Botschaft, die ihnen am Herzen liegt: Unser Gott ist Mensch geworden, ist verletzlich wie ein neugeborenes Kind, den Umständen ausgeliefert, ohnmächtig, wie auch wir es sind. In der Gestalt dieses Kindes und späteren Mannes möchte Gott unter den Menschen wohnen, ihnen nahe sein.

Ob die Heilige Familie nun geflüchtet ist oder nicht, Jesus war sein Leben lang ein Unbehauster, der durch Galiläa zog und nach Jerusalem, um zu sterben. Immer stand er auf der Seite der Geflüchteten und der Aussenseiter. Neusten Angaben der UNO zufolge befinden sich heute mehr als 84 Millionen Menschen auf der Flucht. Über 40 Prozent von ihnen sind Kinder und Jugendliche. Und rund eine Million Kinder weltweit sind in einem Flüchtlingslager zur Welt gekommen. 

Wie ein Kind zu sein, bedeutet vieles: Die Kleinen sind authentisch, neugierig, bezaubernd, zärtlich, anarchistisch, nervig, fordernd, chaotisch, selbstbezogen, gemein. Immer aber sind Kinder schutzbedürftig und verletzlich – wie der neugeborene Jesus.

Der Wert der Kindheit

Es hat lange gedauert, bis der Wert der Kindheit erkannt wurde. Jahrhundertelang sollten Kinder nur eines: möglichst rasch erwachsen werden, und zwar so, wie sich das Erwachsene vorstellen.

Erst Jean-Jacques Rousseaus Entwicklungsroman «Émile» brachte 1762 die Erkenntnis: Kinder sind Menschen mit einer ganz eigenen Art zu sehen, zu denken, zu empfinden. Damit wurde Pädagogen wie Pestalozzi oder Montessori der Weg geebnet zur kindgerechten Erziehung. 1989 einigte sich die UNO auf eine Kinderrechtskonvention, die acht Jahre später von der Schweiz ratifiziert wurde. 

Und dann dieser Zauber

Das verletzliche Kind in der Stallkrippe fordert uns weiterhin auf, auch über unangenehme Fragen nachzudenken. Und meine persönliche Erkenntnis ist, dass Weihnachten ohne kleine Kinder nie mehr diesen schwer zu beschreibenden Zauber hat.