Kinder sind nicht immer glücklich.
Genau. Jesus meint keine Romantisierung der Kindheit. Er denkt wohl auch nicht in erster Linie an die innere Glaubenshaltung des Kindes, sondern an dessen prekären sozialen Status. Er verlangt, dass die Jünger ihren sozialen Status radikal hinterfragen und statt Macht und Einfluss andere Massstäbe anlegen. Dennoch lässt sich in der Wirkungsgeschichte eine ziemliche Romantisierung beobachten. Indem Jesus dem Kind keine Eigenschaften zuschreibt, wird es zum Platzhalter. So heisst es im berühmten Abendlied von Matthias Claudius, wir sollen «wie Kinder fromm und fröhlich sein». In all diesen Auslegungen spiegeln sich weniger die tatsächlichen Wesenszüge der Kinder als unsere Ansprüche an sie.
Dachten die Interpreten vor allem an die gut erzogenen Kinder?
Der Theologe Ulrich Lutz schrieb in seinem Matthäus-Kommentar, wer die Auslegungen seit der alten Kirche lese, müsse den Eindruck bekommen, Jesus habe gesagt: Werdet wie die braven Kinder. Wir sollen unschuldig werden, sanftmütig, bescheiden, nicht rachsüchtig, nicht frech. Alles Ansprüche an Kinder aus der Sicht eines patriarchalen Gesellschaftsmodells.
Und heute?
Neuere Auslegungen betonen, wir sollen so neugierig und staunend durch das Leben gehen wie Kinder. Hier wird vor allem beschrieben, was wir seit der Kindheit verloren zu haben glauben. Die Auslegung der Bibelstelle explodiert förmlich in den Vorstellungen, was Kindsein eigentlich bedeutet.