Schwerpunkt 16. Dezember 2021, von Felix Reich

«Kinder hatten einen sehr niedrigen Status»

Theologie

Theologieprofessorin Christiane Tietz erkennt in der Bibelstelle, wo Jesus ein Kind zu sich ruft, soziale Brisanz. Doch in der Interpretation sei sie glattgebügelt worden.

Umkehren und werden wie die Kinder verlangt Jesus. Was bedeutet das für eine Theologieprofessorin?

Christiane Tietz: Dass ich mir nichts darauf einbilden sollte, Theologieprofessorin zu sein. Jesus reagiert ja auf den Rangstreit unter den Jüngern. Sie wetteifern, wer im Himmelreich der Grösste sein werde.

Wir sollen in der Kirche und an der Universität also nicht darum wetteifern, wer die beste Theologie hat?

Doch, wir sollten darüber streiten, wer die beste Theologie hat. Aber ich muss wissen, dass mich auch die beste Theologie Gott nicht näherbringt. Das Himmelreich ist ein Geschenk, das ich mir nicht verdienen kann. Diese Aussage ist zentral im Evangelium, und darauf weist Jesus auch an dieser Stelle hin.

Da rief er ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sprach: Amen, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich hinein­kommen.
Matthäus 15,2–3

Verlangt Jesus von uns einen naiven, kindlichen Glauben?

Nein. In der Antike hatten Kinder einen sozial sehr niedrigen Status. Jesus sagt auch: «Und wer ein Kind wie dieses in meinem Namen aufnimmt, nimmt mich auf» (Mt 18,5). Jesus lenkt den Blick weg von den Menschen, die im Scheinwerferlicht stehen, und nimmt jene, die in der zweiten Reihe oder noch viel weiter hinten sitzen, in die Mitte. Die Radikalität der Aussage liegt zudem darin, dass Jesus etwas verlangt, was nicht möglich ist: Wenn ich kein Kind mehr bin, kann ich nicht werden wie ein Kind. Ich kann nicht in die Kindheit zurück.

Jesus hat es auf Irritation angelegt? 

Offenbar war die Stelle auch für die Zeitgenossen schwierig zu verstehen. Sie ist in den Evangelien in drei verschiedenen Versionen überliefert. Wir sollten aber nicht bei der Irritation stehen bleiben. Bei Gott ist vieles möglich.

Woran denken Sie? 

Ich bewundere an Kindern die Fähigkeit, ganz im Moment zu leben. Wenn sie in einer Pfütze spielen, denken sie nicht an morgen, nicht an die schmutzige Wäsche. Sie spielen einfach in der Pfütze. Solche Momente auch als Erwachsene zu erleben, ist ein Glück und ein Geschenk. Aber natürlich ist das jetzt meine Projektion.

Kinder sind nicht immer glücklich. 

Genau. Jesus meint keine Romantisierung der Kindheit. Er denkt wohl auch nicht in erster Linie an die innere Glaubenshaltung des Kindes, sondern an dessen prekären sozialen Status. Er verlangt, dass die Jünger ihren sozialen Status radikal hinterfragen und statt Macht und Einfluss andere Massstäbe anlegen. Dennoch lässt sich in der Wirkungsgeschichte eine ziemliche Romantisierung beobachten. Indem Jesus dem Kind keine Eigenschaften zuschreibt, wird es zum Platzhalter. So heisst es im berühmten Abendlied von Matthias Claudius, wir sollen «wie Kinder fromm und fröhlich sein». In all diesen Auslegungen spiegeln sich weniger die tatsächlichen Wesenszüge der Kinder als unsere Ansprüche an sie. 

Dachten die Interpreten vor allem an die gut erzogenen Kinder? 

Der Theologe Ulrich Lutz schrieb in seinem Matthäus-Kommentar, wer die Auslegungen seit der alten Kirche lese, müsse den Eindruck bekommen, Jesus habe gesagt: Werdet wie die braven Kinder. Wir sollen unschuldig werden, sanftmütig, bescheiden, nicht rachsüchtig, nicht frech. Alles Ansprüche an Kinder aus der Sicht eines patriarchalen Gesellschaftsmodells. 

Und heute? 

Neuere Auslegungen betonen, wir sollen so neugierig und staunend durch das Leben gehen wie Kinder. Hier wird vor allem beschrieben, was wir seit der Kindheit verloren zu haben glauben. Die Auslegung der Bibelstelle explodiert förmlich in den Vorstellungen, was Kindsein eigentlich bedeutet.

Christiane Tietz (54)

Seit August 2013 ist Christiane Tietz Professorin für Systematische Theo-logie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Zuvor lehrte sie fünf Jahre in Mainz. Tietz hat in Frankfurt am Main und Tübingen Mathematik und Theologie studiert und war danach sechs Jahre wissenschaftliche Assistentin beim bedeutenden Theologen Eberhard Jüngel (1934–2021).

Geht es überhaupt um den gesellschaftlichen Status? Die Jünger streiten ja darüber, wer im Himmelreich der Grösste sei. 

Mein im September verstorbener Lehrer Eberhard Jüngel hat das Wesen des Himmelsreichs schön ausgedrückt: «Schon jetzt, dann erst recht.» Es ist durch Jesus bereits angebrochen und wird im Leben nach dem Tod vollendet. Dem Aufruf, uns nichts auf unseren Status einzubilden und Menschen in die Mitte zu nehmen, die am Rand stehen wie damals die Kinder, gilt es jetzt schon zu folgen. Aber Hierarchien dauerhaft zu beseitigen und wahre Gerechtigkeit herzustellen vermag nur Gott allein.