Schwerpunkt 24. November 2021, von Noah Pilloud

Damit kein Schaf verloren geht

Das Schaf

1800 Schafe verbrachten im Berner Oberland zusammen den Sommer. Wie beim Abstieg Hirten und Hunde harmonieren müssen – und was biblische Geschichten zum Schaf erzählen.

Die Hirtin Barbara Gisiger sitzt hinter dem Steu­er ihres roten Pick-ups. Im Schritt­tempo fährt das Auto auf der kurvigen Landstrasse, die den Waldrand entlang hinunter zu einem Fluss führt. Rechts hinter der Leitplanke fällt die saftig grüne Wiese leicht ab. Vor dem Auto trottet eine unüberblickbare Kolonne aus rund 1800 Schafen her. Gisiger koordiniert den Alpabzug.

Nicht immer war die Hirtin bei einem Alpabzug so entspannt wie diesmal. Früher trug sie mit ihrem Partner Markus Nyffeler die Verant­wortung al­lein. Mittlerweile ist das Team gewachsen. Mareike Hehl und Simon Zaugg begleiten die Herde zu Fuss, weisen ihre Hunde an, die Tiere beisammenzuhalten. Zudem sind von Riffenmatt im Naturpark Gantrisch, der zur Berner Gemeinde Guggisberg gehört, bis zum Ziel in Rüsch­egg-Graben entlang des Weges Netze gespannt.

Ein Weg mit Zaun

Ohne Abschrankung seien die Scha­fe ständig auf die umliegenden Weiden ausgeschert, erzählt Gisiger. «Das war ein Riesenstress.» Die Bauern, denen die Wiesen gehören, hatten ihren Unmut über die ungebetenen Gäste lautstark kundgetan. Jetzt kann die Hirtin getrost anhalten für einen kurzen Schwatz mit einem Bauern. Er scheint zufrieden damit, dass die Schafe schnell vorübergezogen sind und seine Weiden nichts abbekommen haben.

Drei Monate verbrachten Simon Zaugg und Mareike Hehl mit der Schaf­­herde in den Bergen, zogen an der Grenze zwischen Freiburger Alpen und Berner Oberland unter den Gip­feln Schafarnisch und Kaiseregg um­­her. Sie übernachteten in einem Wohnwagen und einem umgebauten Baucontainer.

Da kommt die Brücke, jetzt dürfen die Hunde nicht zu viel Druck machen, sonst landen die Schafe im Bach.
Simon Zaugg, Hirte

An diesem frühen Freitagmorgen Mitte September geht es zurück ins Tal. Zwei Freunde aus Italien sind als Verstärkung am Tag zuvor angereist. Weiter unten stossen weitere Helferinnen dazu. Rund 23 Kilometer werden die Hirtinnen und Hirten mit ihrer Herde am Ende des Tages bis nach Rüschegg-Graben zu­rückgelegt haben.

In einer anderen Welt

Vor dem Aufbruch schien das Dorf noch weit entfernt. In der Abge­schie­­­denheit der Berge wähnte man sich in einer anderen Welt. Die Mor­gen­sonne drückte durch den zähen, sich nur langsam auflockernden Nebel, ver­moch­te aber erst die Spitzen der Gip­fel zu beleuchten.

Aus blechernen Tassen tranken die Hirten Kaffee, während die Hun­de herumtollten. Das Rudel besteht aus zwei Rassen mit unterschiedlichen Talenten: Die weissen Maremmen-Abruzzen-Schäferhunde eignen sich am besten dazu, die Herde zu bewachen. Und Border Collies haben die Aufgabe, die Schafe anzutreiben und beisammenzuhalten.

Es ist bereits halb neun Uhr, als der rote Pick-up um die Kurve auf die Alp einbiegt. Nyffeler und Gisiger steigen aus und beginnen mit den Vorbereitungen. Sie rollen die Zäune ein und verladen die Herdenschutzhunde in die Autos.

Kurz vor dem Aufbruch kommt plötzlich Hektik auf. Die Luft ist erfüllt vom lauten Blöken der Schafe. Die Kommandos der Hirten auf Englisch, Deutsch und Italienisch hallen von den Felswänden wider. Dazwischen die grellen Pfiffe der Hirten. Nach der Stille am frühen Morgen wirkt die Geräuschkulisse jetzt ohrenbetäubend. 

«Die klassischen Kommandos sind auf Englisch», erklärt Mareike Hehl später auf dem Weg. Sie war lange in Irland tätig und erlernte dort das Hirtenhandwerk. Nun ruft sie ihren Hunden «That’ll do!» zu, wenn sie von den Schafen ablassen und zu ihr zurückkehren sollen. Oder «Come by!», wenn sie im Uhrzeigersinn, und «Away!», wenn sie gegen den Uhrzeigersinn einen Bogen auf die Schafe zu machen sollen.

Jedem Hund seinen Ton

Auch mit Pfiffen kommunizieren die Hirtinnen und Hirten mit den Hunden. Dafür verwenden sie spezielle Pfeifen, deren hoher Ton meh­rere Hundert Meter weit zu hören ist. Für jeden Hund haben sie eigene Tonabfolgen, die für einen bestimmten Befehl stehen. So können die Hirtinnen und Hirten mehrere Hunde zur selben Zeit unter Kontrolle halten, ohne dass es zu Verwirrungen kommt.

Die ersten Kilometer des Alpabzugs sind schnell zurückgelegt. Das Gefälle ist gross, die Schafe rennen regelrecht. Ausserdem können sie sich auf den weiten Weiden gut verteilen. Von den Hirten und ihren Hunden verlangt es jedoch höchste Aufmerksamkeit, sie dürfen kein Schaf aus den Augen verlieren.

Wie jeder andere Beruf auch hat die Arbeit als Hirtin eine wirtschaftliche Seite. Am Ende muss die Rechnung aufgehen.
Barbara Gisiger, Hirtin

Das hohe Tempo zu Beginn birgt noch weitere Gefahren. «Da unten kommt der Bach mit der Brücke, wir müssen schauen, dass wir mit den Hunden nicht so viel Druck machen, sonst landen die Schafe im Bach», warnt Simon Zaugg jetzt.

In dieser Situation wird deutlich, wie wichtig die Kommunikation innerhalb des Teams ist. Ständig werden Informationen ausgetauscht. Auch aus den Autos ganz am Ende des Zuges werden Auskünfte zu aus­scherenden Schafen oder Tieren, die zurückbleiben, gebrüllt: «Dort drüben, in Rich­tung Wald!» Oder: «Da hinten auf dem Hügel!»

Ein Schaf im Bachbett

Die Strategie scheint aufzugehen. Alle Schafe haben es offensichtlich über die Brücke geschafft. Doch der Schein trügt: Ein Schaf ist im Bachbett gelandet. Von allein scheint es nicht wieder hochzukommen, also schickt Simon Zaugg den Hund los. Zuerst ist das Schaf nicht mehr zu sehen, weil es unter die Brücke gelaufen ist. Angetrieben von einem Hund, kämpft es sich schliesslich doch die Uferböschung hoch.

Als das Schaf dann oben auf dem Weg ankommt, wird offensichtlich, weshalb sich das Tier verirrt hat: Es ist blind. Ein milchig weisser Film überzieht die Augäpfel des Tiers.

«Eine Krankheit, die sich nach ein paar Tagen wieder legt», erklärt Zaugg. Da sich das verlorene und nun wieder in die Herde integrierte Schaf mit seinem Gehör am Rest der Herde orientieren kann, lässt er es vorerst weiter mitlaufen. Doch bald schon fällt es wieder zurück. Also wird es eingefangen und in den Anhänger des Pick-ups verladen.

Im Anhänger statt zu Fuss

Es wird nicht das letzte Schaf sein, das von der Herde getrennt wird und den Rest des Weges im Anhänger verbringt. Je länger der Alpabzug dauert, umso mehr Schafe können nicht mehr mit dem Tempo der Herde mithalten. Um die Schafe einzufangen, haben die Hirtinnen und Hirten einen speziellen Stab mit einer Krümmung am oberen Ende, wie man ihn von Hirten auf antiken und mittelalterlichen Abbildungen kennt. Nur ist dieser Stab wesentlich kürzer – kaum mehr als einen Meter lang – und aus Metall. Am geraden Ende sorgt ein Gummigriff für den nötigen Halt.

Mit ihrem Stab packen die Hirtinnen und Hirten die Schafe an einem Hinterbein und halten es so zurück. Dann drehen sie die Schafe auf den Rücken, so dass die Tiere regungslos verharren. Zwei Hirten packen jeweils ein Schaf und tragen es in den Anhänger.

Die Romantik nervt

Wie die Tiere eingefangen und zum Fahrzeug geschleppt werden, passt nicht zum romantischen Bild des Hirten, der das Schaf auf seinen Schul­tern trägt. Der Umgang mit den Schafen wirkt unzimperlich.

Das kümmert Barbara Gisiger we­nig. Vielmehr ärgert sie sich über das «romantische Bild, das die Medien vom Hirtenleben zeichnen». Wie jeder andere Beruf habe auch die Arbeit als Hirtin ihre wirtschaftliche Seite. Die Schafe seien nun einmal eine Investition und ihr Fleisch ein Produkt, durch das Umsatz generiert werden müsse. Unter dem Strich muss für die Hirten die Rechnung aufgehen.

Auch diese Herde muss Gewinn abwerfen. Die Lämmer, die im Frühling zur Welt gekommen waren, verbrachten ihren Sommer auf der Alp, weil ihr Fleisch durch den Aufenthalt von besonderer Qualität ist und sich als Alpfleisch gut verkaufen lässt. Der Weg von der Alp bedeutet für die meisten von ihnen den Gang zur Schlachtbank.

Auch im Winter unterwegs

Die Winterwanderherde hingegen ist kleiner. Sie besteht beinahe ausschliesslich aus Mutterschafen. Mit ihr ziehen Gisiger und Nyffeler von November bis März zwischen Thun und Bern umher. Die Wanderherden haben eine lange Tradition, doch viele gibt es in der Schweiz nicht mehr. Schätzungen gehen von rund 30 Herden aus. Zentral erfasst werden sie nicht.

Weil die Zersiedelung den Schafen immer mehr Platz nimmt, sind weniger Wanderherden unterwegs. Dabei ist die Wanderschaft während der kalten Jahreszeit eine besonders praktische Form der Schafhaltung. Anders als Viehherden können sich die Schafe von den brachliegenden und schnee­­bedeckten Weiden her­vor­ra­gend ernähren.

Und dann im gemächlichen Trott

Die Mittagspause stellt im Verlauf des Alpabzugs eine Zäsur dar. War der Vormittag noch hektisch, der Weg von starkem Gefälle und breiten Weiden geprägt, so bietet der Nachmittag danach gemächlichen Trott, enge Strassen. Rechts und links des Weges ist lange nichts zu sehen als ein dichter Nadelwald.

Die Spitze der Herde ist von hinten nicht mehr zu sehen. Mit der Landschaft ändert sich auch die Arbeit der Hirtinnen und Hirten. Zuvor hatten sie die gesamte Herde im Blick und waren damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass die Schafe zusammenbleiben. Nun besteht ihre Aufgabe hauptsächlich darin, die Herde anzutreiben und müde Schafe einzufangen und in den Anhänger zu verfrachten. 

Es ist wichtig, den Charakter eines Hundes genau zu kennen, damit er richtig eingesetzt werden kann.
Mareike Hehl, Hirtin

Freilich büxen auch jetzt einzelne Schafe immer wieder aus oder bleiben am Wegrand stehen, um Gras und Blätter von Büschen zu fressen. Dann schicken die Hirtinnen und Hirten jeweils einen Hund los, um die Schafe wieder zur Herde zu treiben. Ansonsten laufen die Hunde vor allem im Zickzack hinter der Herde und treiben sie an.

Das grosse Gedränge

Auf der enger werdenden Strasse herrscht unter den Schafen ein gros­­ses Gerangel, insbesondere wenn die hintersten Schafe von den Hunden angetrieben nach vorne preschen, jene in der Mitte aber gemütlich vor sich hertrotten.

Die Schafe im Zentrum anzu­trei­ben, ist die Aufgabe der Hündin Em­­­ma. Sie ist ein Neuseeländischer Huntaway. Anders als die Border Collies bellt sie, um den Schafen Bei­ne zu machen. Gerade bei einer solch grossen Herde seien die lauten Hunde ganz praktisch, weil die Border Collies nicht ausreichten, um Druck zu machen.

Die Hirtinnen und Hirten verfügen nicht nur über ein grosses Wissen über die Schafe, sie sind auch Expertinnen und Experten für ihre Hunde. «Es ist wichtig, den Charakter der einzelnen Hunde gut zu kennen und sie entsprechend einsetzen zu können», erzählt Hehl. Die älteren Hunde beispielsweise seien in der Regel geduldiger. Wenn ein Schaf bockt und sich schlecht zurücktrei­ben lässt, ist es besser, einen jüngeren Hund loszuschicken, der nicht so schnell lockerlässt.

«Cracker, jetzt reicht es aber, ver­dammt noch mal!», weist Hehl mit­ten im Gespräch ihren Hund zurecht. Mit zunehmender Müdigkeit würden die Hunde generell ungeduldiger. «Dann müssen wir sie häu­figer zurückpfeifen.»

Zwei Schafe auf dem Fels

Dem Border Collie Cracker scheint der Geduldfaden endgültig gerissen. Immer wieder prescht er in die Herde hinein, zwickt einem Schaf in die Flanke. Damit er zur Ruhe kommt, lässt ihn Simon Zaugg auf die Ladefläche seines Quads – eines vierrädrigen Motorrads, mit dem er hinter der Herde herfährt – springen, und ein anderer Hund kommt zum Einsatz.

Immer mal wieder legen die Hirtinnen und Hirten kleine Pausen ein, je näher das Ziel rückt. Sie essen etwas, wechseln ihre Positionen oder tauschen die Hunde aus. Wer zuvor im Auto war, läuft hinter der Herde her und umgekehrt. Auch die Schafe nutzen die Pausen, um sich zu stärken. In den langen Pausen dringen die Schafe jedoch weit in den Wald ein. Die verstreute Herde muss wieder mühsam zusammengetrieben werden.

Als die Herde nach einer längeren Rast aufbricht, zeigt sich, wie gut die Hunde auf die Befehle ihrer Besitzerinnen und Besitzer hören. Auf der Suche nach saftigen Blättern sind zwei Scha­­fe eine steile Böschung hochgestiegen. Nun stehen sie auf einem rund drei Meter hohen Sandsteinfelsen, von dem es nur einen Weg hinunter gibt.

Mareike Hehl weist ihren Hund an, sich von hinten an die Schafe anzuschleichen. Jetzt darf er ja nicht zu viel Druck machen, sonst rennen die Schafe aufgescheucht davon und laufen Gefahr, den Felsen hinunterzustürzen.

«Away! Stand! Away! Stand!», ruft Hehl, sichtlich angespannt, immer wieder und lässt den Hund so die Schafe Schritt für Schritt den Weg hinuntertreiben. Dann sind die Schafe endlich auf sicherem Boden. Das Manöver hat Zeit gekostet, die restliche Herde ist schon nicht mehr zu sehen. Im Laufschritt geht es also weiter, bis das Ende des langen Umzugs erreicht ist.

Nochmals Hektik zum Ende

Auf den letzten Kilometern geht es wieder steiler bergab. Die Herde ist nicht mehr so arg im Trott und etwas schneller unterwegs. Doch leider ist der Weg eine Hauptstrasse, so müssen die Hirtsleute immer wieder Autos anhalten, damit der Tross vorüberziehen kann.

Das Ende des Alpabzugs gestaltet sich nochmals hektisch. Zum Glück bleiben aber Zwischenfälle aus. Entsprechend zufrieden sind alle mit dem Verlauf des Tages, als die Schafe endlich eingezäunt auf ihrer Weide stehen.

Neben der Weide mit der grasenden Herde brausen auf der Strasse die Autos vorbei, von etwas weiter weg ist das Rauschen eines Flusses zu hören. Die Ruhe, die zehn Stunden zuvor hoch oben auf der Alp geherrscht hat, ist jetzt nur noch eine weit entfernte Erinnerung.