Schwerpunkt 05. Oktober 2023, von Sandra Hohendahl-Tesch

Kein Fleisch zu essen, ist die neue Freiheit

Theologie

Die Arche Noah als Artenschutzprogramm: Bernd Kappes’ Buch «Mitgeschöpfe» bietet eine theologische Perspektive für eine tierfreundlichere Kirche und Gesellschaft.

Sie sind evangelischer Theologe. Fleischessen war für die Reformierten einst ein Akt der Freiheit. Zeit, die historische Symbolik der Wurst zu überdenken?

Bernd Kappes: Ich frage mal zurück: Wenn Reformierte heute Wurst essen, tun sie das noch als Ausdruck und Akt der Freiheit in Abgrenzung zu den Katholikinnen und Katholiken? Heute bringt den Verzehr einer Wurst niemand mehr mit der Reformation in Verbindung. Die neue Freiheit ist, kein Fleisch zu essen. Es ist Zeit, über die Selbstverständlichkeit, die das Fleischessen für viele noch ist, nachzudenken, auch aus theologischer Sicht.

In der Schöpfungsgeschichte heisst es doch ziemlich deutlich: «Macht euch die Erde untertan» (Gen 1,28).

In der Tat. Der Mensch soll über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alles Getier herrschen, heisst es weiter. Aus diesem sogenannten Herrschaftsauftrag wurde lange ein uneingeschränktes Nutzungsrecht an Tieren abgeleitet. Dabei wurde der Vers meist isoliert betrachtet. Bemerkenswert ist aber, dass unmittelbar darauf das Gebot einer vegetarisch-veganen Ernährung folgt.

Wie lautet dieses?

«Und Gott sprach: Siehe, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise» (Gen 1, 29). In der Vorstellung der Schöpfungserzählung soll sich der Mensch pflanzlich ernähren wie die Tiere. Das steht in Spannung zu dem, was lange unter «untertan machen» verstanden wurde. Manche Exegeten und Exegetinnen haben den Ausdruck geradezu als Aufruf zum Krieg gelesen, als brutales Niedertreten und Plattmachen.

Was ist Ihre Deutung?

Wenn auf «untertan machen und herrschen» unmittelbar das Gebot einer pflanzlichen Ernährung folgt, dann ist der «Herrschaftsauftrag» offensichtlich keine biblische Lizenz zum Töten! In Anlehnung an den Theologen Klaus Koch kann der Ausdruck auch das alltägliche Sorgen eines Hirten um seine Herde beschreiben. Das Wort «herrschen» verstehe ich daher als sich kümmern um die Tiere, Verantwortung für sie übernehmen, für Nahrung und Sicherheit sorgen. «Untertan machen» bedeutet in dieser Auslegung den Auftrag, das Land zu bearbeiten und zu bebauen. Es geht also um Ackerbau und Viehzucht, um eine theologische Reflexion der Sesshaftwerdung des Menschen.

Sind die Menschen somit aus christlicher Perspektive dazu verpflichtet, sich vegetarisch oder sogar vegan zu ernähren?

Die Frage ist ja: Was ist die Bibel für uns? Ich würde niemals biblizistisch argumentieren: Da steht es, deswegen gilt es für uns. Das mache ich an anderen Stellen ja auch nicht. Wir müssen uns aber mit den biblischen Texten auseinandersetzen und uns fragen, welche Impulse sie uns heute für unsere gesellschaftlichen Herausforderungen geben können. Dabei konfrontiert uns die erste Schöpfungserzählung mit der Vision einer gewaltfreien Welt und auch einer gewaltfreien Ernährung. Denn die Geschichten «vom Anfang» wollen ja nicht nur erzählen, wie die Welt mal war, sondern auch Orientierung geben, wie die Welt gedacht war, wie sie sein soll.

Obwohl es später in Genesis 9,3 heisst: «Alles, was sich regt und lebt, sei eure Speise, wie das grüne Kraut habe ich es euch gegeben.»

Dass der Fleischverzehr nach der Sintfluterzählung freigegeben wurde, kann man so interpretieren, dass die Welt eben nicht so ideal ist, wie wir uns das wünschen. Gewalt ist eine Realität. Weil Gewalt nicht komplett verhindert werden kann, wird das Mensch-Tier-Verhältnis nach der Sintflut neu beschrieben und der Fleischverzehr gewissermassen als Notlösung zugestanden.

Bernd Kappes, 51

Bernd Kappes, 51

Bernd Kappes ist Kommissarischer Direktor der Evangelischen Akademie Hofgeismar und Mitglied im Kuratorium des Instituts für Theologische Zoologie in Münster. Sein Buch geht der Frage nach einem verantwortungsvollen Umgang mit Tieren nach. Dabei vereint das Werk biblische und naturwissenschaftliche, ethische und politische Perspektiven.

In Ihrem Buch deuten Sie viele Geschichten aus dem Alten Testament aus tierethischer Sicht. Zum Beispiel Jona und der Walfisch.

Diese Erzählung gehört nicht zu den Schlüsseltexten einer theologischen Zoologie, da das Verhältnis zwischen Mensch und Tier nicht das zentrale Thema darstellt. Doch der letzte Vers dieses kurzen Buches enthält eine wichtige Pointe.

Nämlich?

In der Geschichte ändert Gott seinen ursprünglichen Plan, die Stadt Ninive zu zerstören. Jona ist verärgert darüber, dass Gott Mitgefühl für die Menschen zeigt, dass Gott so gnädig ist. Dabei ist bemerkenswert, dass Gottes Barmherzigkeit nicht nur den Menschen, sondern auch den Tieren gilt. Und so lautet der letzte Satz: «Und ich, sollte ich mich nicht um Ninive sorgen, diese grosse Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen leben, die nicht wissen, was rechts und links ist, und dazu noch so viele Tiere?» (Jon 4,11). Das bedeutet: Tiere sind in Gottes Augen von Bedeutung, rühren sein Mitgefühl an.

Die Geschichte von der Arche Noah bezeichnen Sie als «Gottes Artenschutzprogramm». Sie passt somit bestens in unsere Zeit.

Absolut. Das Besondere liegt in der Rettung aller Tierarten, indem von jeder Art ein Paar gerettet wird. Alle Arten soll leben: Das Auswahlkriterium ist offenbar nicht der Nutzen für den Menschen. Das steht im Kontrast zu unserer üblichen Sichtweise im Umgang mit Tieren, die für uns entweder als Nutztiere oder Haustiere von Interesse sind. Auf der Arche werden aber nicht nur Kühe, Schweine und Hühner gerettet, die wir essen oder von denen wir Produkte beziehen. Oder Haustiere wie Hunde, Katzen und Vögel, die wir lieben. Nein, alle Arten von Tieren, einschliesslich solcher, auf die wir vielleicht gern verzichten würden, wie etwa Schlangen und Skorpione.

Wie ist es im Neuen Testament, welche Rolle spielen die Tiere da?

Im Neuen Testament sind Tiere nicht so präsent wie im Alten Testament. Eine bemerkenswerte Passage ist das Gleichnis vom Senfkorn, das das Reich Gottes symbolisiert (Mk 4,30–32). Wenn es gesät wird, ist es winzig, aber es wächst zu einer grossen Pflanze heran, «so dass Vögel in seinem Schatten leben können». Die Tiere gehören in diesem Bild ganz selbstverständlich zum Reich Gottes. Eine wichtige Spur ist auch die Vorstellung von der Inkarnation.

Inwiefern?

«Gott wurde Mensch», sagen wir normalerweise. In den griechischen Texten des Neuen Testaments steht aber nicht das Wort «Mensch», sondern «Fleisch». Das bedeutet, dass Gott Fleisch wurde, nicht nur Mensch. Dies lenkt den Fokus auf das gesamte geschöpfliche, materielle Leben. Gott ist nicht nur im Menschen Jesus gegenwärtig, sondern in allen Lebensformen als Schöpfer präsent. Die gesamte Schöpfung wird somit zum Ort der Gegenwart Gottes.

Das leuchtet ein. Aber was erwarten Sie konkret von der Kirche?

Sie muss tierfreundlich werden, und das bedeutet zuerst, die Würde der Tiere zu achten. Dass wir nicht nur von der Menschenwürde sprechen, sondern auch von der Tierwürde: Tiere haben einen Eigenwert, unabhängig vom menschlichen Nutzen. Konkret sind wir wieder bei der Wurst: Warum machen wir nicht mal ein vegetarisch-veganes Gemeindefest?

Hat nicht bereits ein Umdenken stattgefunden? ich kenne viele, die etwa Eier aus Biohaltung kaufen.

Tierschutz und Tierrechte sind nicht das Gleiche. Beim Tierschutz geht es darum, das Leben der Tiere zu verbessern, bevor sie getötet werden. Es stellt sich in der Tierethik aber ganz grundsätzlich die Frage, ob wir Tiere überhaupt halten und nutzen dürfen. Denn Tiere existieren ja zunächst einmal nicht für uns, sondern für sich selbst. Tiere haben Rechte – vor allem auf Leben, Freiheit und Unversehrtheit.

Die Primatenforscherin Jane Goodall hat das Vorwort zu Ihrem Buch geschrieben. Sollten Primaten Menschenrechte haben?

Es gibt verschiedene Arten von Menschenrechten, politische etwa oder soziale. Auch das Recht auf Nahrung, Wohnen und Kleidung gehört dazu. Es ist nicht sinnvoll, Schimpansen das Recht auf Kleidung zuzuerkennen. Daher würde ich sagen, dass Primaten keine Menschenrechte haben sollten, aber sie brauchen Tierrechte. Wie auch Schweine oder Kühe und mit ihnen alle empfindungsfähigen Tiere.

Kappes, Bernd: Mitgeschöpfe. Vom Umgang mit Tieren aus christlicher Sicht. Patmos, 2023, 264 Seiten, Fr. 36.90