Schwerpunkt 29. Juni 2022, von Nadja Ehrbar, Sandra Hohendahl-Tesch

«Diese Arbeit sollte ein Teil des Pfarramts sein»

Influencerinnen

Die Theologin Sabrina Müller erklärt im Interview, warum es christliche Influencer in der Schweiz eher schwer haben und wo Potenzial und Gefahren von Social Media liegen.

Religiöse Influencer sind in der Schweiz kaum bekannt. Und wenn, dann stammen sie aus freikirch­lichen Kreisen. Weshalb ist das so?

Sabrina Müller: Die Zielgruppe der Frei­kirchen ist generell jünger. Die Adressatinnen sind hier Digital Natives, sie sind mit den sozialen Medien aufgewachsen. Einige Kanäle werden auch professionell bedient. Die Verantwortlichen der Landeskirchen hingegen richten sich in der Tendenz eher an die traditionellen, bürgerlichen Milieus und machen das oft in der Freizeit.

Liegt es daran, dass wir keinen Per­sonenkult betreiben wollen?

Das ist typisch schweizerisch. Wir wollen niemanden zu sehr hochjubeln. Deshalb wird auch eher Geld für ein Reflab gesprochen, das für die Zürcher Kantonalkirche Podcasts, Reels und Blogs produziert, als ein digitales Pfarramt für eine einzelne Person eingerichtet.

Pastorin Josephine Teske betreibt in Deutschland einen Instagram-Account mit 37'000 Followern. Da­von sind wir noch weit entfernt. 

Es gibt verschiedene digitale Logiken: Teske ist Sinnfluencerin, der Kanal hängt von ihr ab. Sie ist nicht austauschbar, sonst «stirbt» der Account. Während das Reflab, wo nun der bisherige Leiter Stephan Jütte aufhört, ein Kollektiv ist, das auch mit mehreren Aushängeschildern funktioniert. Die eine Logik ist das Personale wie bei Teske, die andere die einer Marke wie beim Reflab.

​Sabrina Müller, 42

Die Theologin ist Geschäftsleiterin des Universitären Forschungsschwerpunkts Digital Religion(s) und Mitglied der Leitung des Zentrums für Kir­chenentwicklung an der Universität Zürich. Seit zwei Jahren beobachtet sie religiöse Influencer und leitet in diesem Jahr ein Seminar unter dem Titel «Öffentliche Kommunikation religiöser Influencer*innen».

Braucht unsere Kirche ebenfalls jemanden wie Teske?

Ich hoffe eher, dass diejenigen, die das bei uns bereits machen, überhaupt Stellenprozente dafür erhalten oder diese Arbeit auch als pfarramtliche Tätigkeit wahrgenommen wird. Teske standen in ihrer vorherigen Gemeinde 25 Prozent zur Verfügung, die deutschen Pastorinnen Ellen und Steffi von «Anders Amen» haben je 50 Prozent. Das Potenzial ist grösser, wenn wir in mehr als nur eine Person investieren. Es gibt auch bei uns Pfarrpersonen, die jetzt schon zwischen 900 und 3000 Followerinnen haben.

Wie müssen diese Influencerinnen sein, damit sie erfolgreich sind?

Digital-authentisch: Sie müssen bereit sein, sich ins Leben und in ihre religiöse Praxis blicken zu lassen. Erreichbarkeit ist gerade auf Insta­gram sehr wichtig. Und man braucht eine gewisse Frequenz in den Storys, Posts und Reels. Wer nur alle zwei Wochen etwas postet, kommt nicht weit. Was Kirchgemeinden häufig posten und nicht funktioniert, sind Agenda-Infos. Emotionen funk­tionieren besser.

Müsste die Ausbildung der Pfarrpersonen das Verhalten im Netz thematisieren?

An der Universität haben wir in jedem Semester Angebote, in denen die Digitalisierung eine Rolle spielt. Dieses Jahr biete ich etwa ein Seminar zur Kommunikation von religiösen Influencerinnen an. Die Studie­renden forschen und beobachten sol­che Personen und die Struktur ihrer öffentlichen Kommunikation. Doch die praktische Ausbildung fin­det im Vikariat statt.

Gehört die Sensibilisierung also dort­hin?

Ja. Die angehenden Pfarrpersonen sollen die digitale Welt verstehen. Das ist die Voraussetzung, damit sie auch die Gesellschaft verstehen. Es geht nicht darum, zu wissen, wie ich einen Instagram-Account eröffne, sondern wie eine theologische, religiöse Kommunikation im Digitalen funktioniert, die durchdacht und men­schennah ist.

Eine Nachricht im Netz zu ver­fassen ist einfacher, als die Pfarrperson im Dorf anzurufen.

Was heisst das für die Seelsorge?

Seelsorge findet breit statt, nicht nur im Gottesdienst oder in der Gemeinde, sondern auch per Whatsapp und in den sozialen Medien. Die Personen identifizieren sich mit Influencerinnen, mit denen sie sich verbun­den fühlen. Sie schreiben sie an. Eine Nachricht im Netz zu verfassen ist einfacher, als die Pfarrperson im Dorf anzurufen.

Hat die Pandemie die Digitalisierung in der Kirche vorangetrieben?

Die Kirchgemeinden haben begonnen, ihre Anlässe zu streamen, live zu übertragen und auch digitale Tools zu nutzen. Eine Übertragung des Geschehens vor Ort ist oft integrativ, aber nicht unbedingt innovativ. Die sozialen Medien leben vom Interaktiven, von den Posts, Likes und Kommentaren der Follower.

Lauern für die Followerinnen auch Gefahren? Gerade Christfluencer transportieren häufig konservative Werte wie «kein Sex vor der Ehe».

Es gibt Gefahren, aber ebenso gibt es Chancen. Wäh­rend der Pandemie habe ich be­o­bachtet, dass sich Verschwörungstheorien viel schneller verbreiteten. Extremismus nimmt ebenfalls zu. Wich­tig ist, dass es keine klar abgegrenzte Terminologie zwischen religiösen Influencerinnen, Sinnfluencern und Christfluen­cerinnen gibt. Die Letzteren stammen tenden­ziell häufiger aus dem evangelikalen Milieu, sie vertreten eine klare Botschaft. Es ist einfacher, klare Positionen wie zum Beispiel «kein Sex vor der Ehe» digital zu verbreiten, als die zahlreichen theologischen Grautöne zu thematisieren. Eine Gefahr für Jugendliche sehe ich aber nicht.

Dann bewegen sich Christfluencer eher in einem evangelikalen Umfeld mit dem Ziel, ihre theologische Position weiterzugeben?

So klar lässt sich das nicht sagen. Ich folge zwei post-evangelikalen Pastoren aus den USA, die haben eine hohe Followerzahl und werben für Inklusion und LGBTIQ+. «Scott the Painter» und «nakedpastor» etwa visualisieren christliche Themen und setzen sie provokativ um. Sie kritisieren weisse US-Evangelikale, weil sie das Milieu kennen und selbst mal dazugehörten. Doch nicht alle gehören in diesen Topf.

Nur Mitglieder gewinnen zu wollen, hat keinen Inhalt, das spüren die Leute.

Kann die Kirche über Social Media neue Mitglieder gewinnen?

Nein. Eine Josephine Teske kann vielleicht Austritte aus ihrer digita­len Community verhindern oder hi­nauszögern. Sicherlich kann es auch zu Eintritten kommen. Umgekehrt müss­te ich aber kritisch zurückfragen, was mit «Mitglieder gewinnen» gemeint ist. Sollen die in den Gottes­dienst kommen? Das können wir ver­gessen. Nur Mitglieder gewinnen zu wollen, hat keinen Inhalt, das spüren die Leute.

Ich muss also zeigen, was mir das Evangelium im Leben bringt.

Genau. Teske tut dies, indem sie zeigt, wie es ihr bei Schwierigkeiten hilft. Und wo selbst sie an Gott zweifelt. Und dann gibt es weitere Anknüpfungspunkte: wenn ich beispielsweise ein Kind verloren habe. Dann finde ich bei Teske vielleicht ein Gebet, das mir hilft.

Kann ich als Sinnfluencerin reich werden?

Ja, in den USA durchaus. Dort gibt es evan­gelikale Christfluencerinnen, die von ihrer digitalen Präsenz leben. Hier jedoch müssten Influencerinnen hoch­deutsch sprechen und mit ihrem Ka­nal eine breite Öffentlichkeit erreichen. Der bekannteste Sinnfluencer in der Schweiz ist derzeit Dean Schnei­der. Der ehemalige Unterneh­mer lebt in Südafrika und setzt sich für den Tierschutz ein.

Könnten Sie sich vorstellen, Sinnfluencerin zu sein?

Ich bin auf Twitter und Instagram, poste dort über meine Arbeit und mein Leben, die Klimakrise, den Feminismus, Veganismus und kombiniere das mit theologischen Inhalten. Es ist nicht geklärt, ab wann man Sinnfluencerin ist.