Schwerpunkt 29. Mai 2024, von Anouk Holthuizen, Mirjam Messerli

Der demografische Wandel macht kreativ

Altersfreundliche Gemeinschaft

Ältere Menschen verursachen Kosten – zugleich sorgen sie für Zusammenhalt und helfen, Kosten einzusparen. Wie das gehen kann, zeigen Beispiele in diesem Schwerpunkt ganz konkret.

Wer die öffentlichen Diskussionen zum demografischen Wandel verfolgt, bekommt zuweilen den Eindruck, dass die Schweiz in absehbarer Zeit ins Chaos stürzt. Der wachsende Anteil von Menschen, die über 65 Jahre alt sind, wird vor allem mit Kosten assoziiert. Als Belastung für das Rentensystem, das Gesundheitswesen und den Fachkräftemarkt. 

Gebetsmühlenartig wird vorgerechnet, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auf einen Menschen im Pensionsalter sechs Erwerbstätige kamen, derweil es in 30 Jahren nur noch zwei sein werden. Und dass bald Zehntausende Pflegebetten fehlen könnten. 

Handeln, nicht jammern

Es sind Debatten, die nicht eben motivierend wirken, weder auf jene, die bereits zum «Alter» gehören, noch auf die Jüngeren, die darauf zugehen. Wer will schon permanent damit konfrontiert werden, dass man qua Jahrgang ein ungelöster Kostenfaktor ist? Dass man auf eine homogene Gruppe reduziert wird, der spezifische Vorstellungen über das Leben im Alter aufgestempelt werden?  

Wie wohltuend ist da ein Blick in die vielen Initiativen, die in der Schweiz aus dem Boden spriessen und die Umkehr der Alterspyramide lustvoll angehen. 

Die älteren Menschen sorgen nicht nur für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sie helfen auch, riesige Kosten einzusparen.

Einerseits sind unzählige Fachleute daran, an Lösungen für eine Gesellschaft zu tüfteln, in der Menschen möglichst lange autonom leben können. Architektinnen und Architekten entwickeln hinder­nisfreie Wohnprojekte, wo ältere Menschen Tür an Tür mit jüngeren zusammenwohnen und Ressourcen teilen, Fachhochschulen arbeiten an Lösungen, um Menschen mit Einschränkungen zu unterstützen, soziokulturelle Animatorinnen und Animatoren gestalten die soziale Teilhabe in Quartieren, Gemeindebehörden schliessen sich mit Altersvereinen zusammen und errichten eine neue Kultur von Beteiligung.  

Der unsichtbare Kitt

Andererseits sind da die älteren Menschen selbst. Sie bleiben länger denn je fit, mobil und in der Gesellschaft aktiv. Sie fungieren als Mentorinnen und Mentoren, hüten Enkelkinder und pflege­bedürftige Verwandte, bringen Geflüchteten Deutsch bei, leiten Wandergruppen, diskutieren in Kirchenpflegen, engagieren sich im Naturschutz. Damit sorgen sie nicht nur für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sie helfen auch, riesige Kosten einzusparen. 

Apropos Kirchenpflegen: Für die Kirchen war es schon immer selbstverständlich, sich für die Würde jedes Menschen unabhängig von seinem Alter einzusetzen. Viele kirchliche Angebote richten sich an ältere Menschen. Sie stärken ihre Ressourcen und fördern ihre Teilhabe in der Gemeinschaft.

Verknüpfen sich all diese Initiativen in einem grossen Netzwerk, kann sich eine grosse Kraft entfalten und es lässt sich optimistischer in die demografische Zukunft blicken. Ja, es kann sogar richtig Lust auf die Zukunft machen, wie die zwei Beispiele in diesem Schwerpunkt zeigen. 

«Ich bin eine Jung-Rentnerin. Zuletzt war ich Kommunikationsfachfrau und habe für die Stadt Bern gearbeitet – dort ist das Pensionsalter 63. Ich fühle mich nicht alt. Aber älter. Das Gedächtnis, die Motorik, das alles funktioniert nicht mehr wie mit 40 oder 50. Und das Leben hat seinen Tribut gefordert, körperlich und seelisch. Aber mein Grundgefühl ist Dankbarkeit. Ich bin dankbar, dass ich gesund bin, dass ich interessiert bin, dass ich Familie und Freun­deskreis um mich habe. Ich geniesse es sehr, langsamer leben zu können, mehr Zeit zu haben für die kleinen Dinge. Ich bin aktiv, treibe Sport, lese viel, arbeite als Freiwillige – ich mache nur Sachen, die mir Freude bereiten. Was für ein Geschenk! Eine Gesellschaft ist für mich dann altersfreundlich, wenn sie grundsätzlich freundlich ist. Wenn Menschen respektvoll miteinander umgehen. Wir sollten mehr aufeinander achten, uns unterstützen: die Jungen die Alten und die Alten die Jungen.» 

«Ich engagiere mich in der Alterspolitik – im Vorstand des Seniorenvereins meiner Wohngemeinde sowie im Vorstand des Vereins ProSenior Bern. Wir begleiten die Alterspolitik im Kanton, organi­sieren Tagungen und setzen uns für altersfreundliche Strukturen in den Gemeinden ein. Mit 70 Jahren habe ich meine Kommunikati­onsfirma aufgelöst. Ich wollte meine Fähigkeiten weiter einbringen, es war mir aber wichtig, ein neues Themengebiet zu finden. ProSe­nior kümmert sich um Themen, die mich selber betreffen, das macht also Sinn und ist interessant. Wenn man älter wird, kommen hin und wieder Schwellen, an denen einem das Alter bewusst wird. Der 75. Geburtstag ist für mich so ein Moment. Darum habe ich mein ehrenamtliches Engagement etwas reduziert. Ich wollte mehr Zeit haben für Familie, Freundeskreis oder zum Lesen. Ausserdem besuche ich gern Ausstellungen. Im Alter lerne ich, mehr auf meine Bedürfnisse zu achten.» 

«In meiner Agenda ist kein Tag leer. Ich bin in der Politik, Kirchen­pflege und Nachbarschaftshilfe aktiv, habe einen Gemüsegarten und hüte regelmässig vier Enkelkinder. Aktivität macht mich glücklich, gibt mir Sinn. Nun bin ich 70 und ich möchte aufmerksam sein, ob ich alles noch gut schaffe – um loszulassen, wenn es nötig ist. Dar­auf freue ich mich auch. Ich will Zeit haben für Natur, Sport und Nachbarn. Das kam immer zu kurz. Institutionell sind alte Menschen in der Schweiz gut versorgt, aber viele trauen sich nicht, um Hilfe zu bitten, auch nicht die Nachbarn. Eher klappen sie zusammen. Da sollten wir offener sein. Viele helfen gern, Geben ist sinnstiftend für beide. Von der Gesellschaft wünschte ich mir eine positivere Haltung gegenüber Alten. Wenn jemand nicht mehr alles gut versteht, liegt das oft am Gehör und nicht am Denkvermögen. Alt ist nicht gleich unzurechnungsfähig. Begegnen wir uns auf Augenhöhe!» 

«Ich danke jeden Tag Gott, dass es mir noch so gut geht, und bete dafür, dass meine Kraft noch lange reicht. Ich kümmere mich um meinen Mann, der gesundheitliche Probleme hat. Das Wichtigste für mich ist, dass wir beide noch lange zusammen und in unserer Wohnung bleiben können. Dieses Jahr sind wir seit 65 Jahren verheiratet. Gross gefeiert haben wir das nicht, aber daran gedacht. Traurig macht mich, dass viele Menschen, die uns lieb waren, nicht mehr da sind. In solchen Momenten gibt mir der Glaube Halt. Ich denke an diejenigen, die nach uns kommen. Ich habe drei Urenkel. Ein wenig reduzieren musste ich in letzter Zeit: Im Garten lasse ich mir helfen und mit dem Velo fahre ich nur noch im Quartier. Was mich ärgert, ist, dass vieles nur noch digital möglich ist. Ich bin seit Jahren in einem Verein aktiv, der sich gegen Folter einsetzt. Seit man die Briefe als Mail verschicken muss, kann ich das nicht mehr machen.»