Schwerpunkt 29. Mai 2024, von Constanze Broelemann, Mirjam Messerli

«Der Mensch ist ein genialer Aufpasser»

Altersfreundliche Gemeinschaft

Glück hat, wer in der Schweiz alt werden kann. Das sagt Altersforscher François Höpflinger. Für ein «gutes Alter» müsse man aber auch selber etwas tun.

Sie sind 76 Jahre alt. Fühlen Sie sich alt?

François Höpflinger: Zum Teil. Alle anderen sind plötzlich viel jünger.

Ab wann ist man denn alt?

Menschen in der Schweiz fühlen sich heute später alt als die letzte Generation. Aus Sicht der Jungen ist man mit 65 Jahren alt – wenn man pensioniert wird. Aber aus Sicht der Menschen im Alter 65 plus fängt das Alter erst mit über 80 Jahren an. Die 65- bis 74-Jährigen fühlen sich in der Schweiz gleich häufig innovativ wie die 15- bis 24-Jährigen. Altern ist ein körperlicher Prozess, kein seelisch-geistiger.

Alt zu sein, scheint in unserer Gesellschaft zu bedeuten: Jemand ist weniger leistungsfähig, nicht mehr gesund oder schön. Weshalb hat das Alter einen so schlechten Ruf?

Obwohl wir immer älter werden, ist es nicht gelungen, das Bild des Alters zu verbessern. Es bleibt die Frage: Wie kann ich das Defizit des Alters verringern? Ein Beispiel dafür ist das Label «Anti-Aging».

In afrikanischen oder asiatischen Ländern werden Alte verehrt.

So pauschal stimmt das nicht. In China oder in afrikanischen Ländern werden Menschen mit Demenz stärker ausgegrenzt als bei uns. Dafür haben aber alte Angehörige in diesen Kulturen eine wichtigere Stellung in der Familie.

François Höpflinger, 76

Der Soziologe ist einer der führenden Altersexperten der Schweiz. Der Titularprofessor an der Uni Zürich forscht seit 2009 selbstständig zu Alters- und Generationenfragen. Seine aktuellen Forschungsthemen sind Strukturwandel des Alters, Wohnen im Alter oder Arbeit in späteren Erwerbsjahren. Höpflinger ist verheiratet, Vater zweier erwachsener Kinder und Grossvater.

Wurden bei uns früher Ältere nicht stärker von ihrer Familie umsorgt?

Früher gab es gar nicht so viele Menschen, die so alt wurden wie heute. Und die Versorgung von alten und kranken Menschen war eine kommunale Aufgabe. Wer es sich leisten konnte, wohnte selbstständig. Haushalte mit drei Generationen waren bei uns nie die Norm.

Und heute?

Heute liegen generationenübergreifende Wohnprojekte im Trend. Der Grund ist, dass sich fitte Seniorinnen und Senioren eben gerade nicht zu den «Alten» zählen. Deshalb interessieren sie sich mehrheitlich auch nicht für «Alters-WGs», das Wohnen in Alterssiedlungen oder Angebote wie Senioren-Nachmittage.

Kann das Altern Angst machen?

Demenz ist die grösste Angst im Alter. Ein Hörgerät oder einen Rollator benützen heute viele alte Menschen selbstbewusst. Aber Demenz heisst, dass man die Kontrolle verliert. Das macht Angst.

Und schämen sich Menschen, wenn sie Altersgebrechen haben?

Ja. Gewisse seelische oder körperliche negative Folgen des Alters werden versteckt: die Einsamkeit etwa, Anzeichen von Vergesslichkeit, Inkontinenz, Schwerhörigkeit.

Was tut die Schweiz für eine altersfreundliche Gesellschaft?

Wir sind auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft, was auch altersfreundlich bedeutet. Beim Wohnen wird «altersfreundlich» durch «hindernisfrei» ersetzt. Wohnraum ist so auch für junge Menschen mit einer Beeinträchtigung nutzbar. Im öffentlichen Verkehr plant man ähnlich: Eine einfache Sprache und einfache technische Lösungen kommen allen Menschen zugute.

Eine positive Einstellung zur nachfolgenden Generation hilft beim Altern in Würde. Nicht nach dem Motto leben «Früher war alles besser».

2025 wird jede fünfte Person in der Schweiz älter als 65 Jahre sein. Wie bindet man diese Menschen und ihre Ressourcen gut ein?

Zu einer altersfreundlichen Politik gehört, dass man die Kompetenzen der «jungen» Pensionierten einsetzt. Ich denke dabei an Mentoring-Projekte in der Berufswelt oder auch an die Freiwilligenarbeit.

Was heisst das für das Rentenalter?

Im Moment ist eine Erhöhung nicht realistisch. Es gibt aber zunehmend Unternehmen, die Angestellte nach der Pensionierung weiter beschäftigen. Wirtschaftlich kann das attraktiv sein, da diese Leute flexibel sind und mit der AHV über ein Grundeinkommen verfügen.

«Gut älter werden» ist ein Trend. Wie altert man gut?

Indem man sich ausgewogen ernährt und genug bewegt – hier ist Muskeltraining wichtig. Auch das Gedächtnis sollte trainiert werden. Man kann zum Beispiel eine neue Sprache lernen. Und die sozialen Kontakte tragen viel zum Wohlbefinden im Alter bei. 70 bis 80 Prozent des Alterungsprozesses sind durch diese Faktoren bestimmt.

Dürfen wir uns nicht einmal im Alter einfach ausruhen?

Es ist halt schon so, dass unsere Leistungsgesellschaft sich auch ins Alter verschoben hat.

Ein weiteres Schlagwort lautet: Altern in Würde. Wie geht das?

Aus der Sicht der Gerontologie kann Würde heissen, dass man Sachen akzeptiert, die nicht zu ändern sind. Wichtig ist die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen. Es bedeutet aber auch, dass man die Optionen, die man noch hat, ausschöpft. Ebenso hilft eine positive Einstellung zur nachfolgenden Generation. Nicht nach dem Motto leben «Früher war alles besser».

Die Kirche macht viel, aber die Vernetzung mit anderen Anbietern ist leider noch zu gering.

Ist eine älter werdende Gesellschaft überhaupt noch bezahlbar?

Die Altersvorsorge kostet, aber sie ist auch eine wichtige Konjunkturstütze. Menschen, die AHV beziehen, geben auch Geld aus.

Und wie geht es den Pensionierten in der Schweiz wirtschaftlich?

Der Anteil von wohlhabenden Menschen im Rentenalter ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Eine Mehrheit der Pensionierten besitzt Wohneigentum. Gleichzeitig hat sich der Anteil der einkommensschwachen älteren Menschen in den letzten Jahren nicht reduziert.

Sind die Menschen im Pensionsalter zufrieden mit ihrer Situation?

Studien zeigen, dass sich die Situation einer Mehrheit der Älteren in den letzten 50 Jahren subjektiv und objektiv stark verbessert hat. Sie haben bessere Sozialbeziehungen, sind gesünder und haben so gute Wohnsituationen, dass sie nicht ausziehen wollen. Und die Pflegeeinrichtungen sind gut.

Die Kirche beansprucht für sich eine wichtige gesellschaftliche Rolle. Ist sie für die älteren Menschen da?

Die Kirche macht viel, aber die Vernetzung mit anderen Anbietern ist leider noch zu gering.

Und wie wird das kirchliche Angebot von Älteren angenommen?

Auch ältere Menschen sind zunehmend weniger kirchlich orientiert: Die Zahl der konfessionslosen Senioren nimmt stark zu. Das muss aber nicht heissen, dass sie weniger religiös oder spirituell sind.

Meine Frau ist nicht begeistert, in eine Alterswohnung zu ziehen. Der Mensch ist eben evolutionsbiologisch kein guter Planer.

Viele Migrantinnen und Migranten kommen nun ins Pensionsalter. Gibt es für sie spezielle Angebote?

Solche Angebote gibt es vor allem in Städten. Was auffällt, ist, dass es überraschend wenige Angebote spezifisch für Frauen gibt.

Wo unterscheiden sich denn Frauen und Männer im Alter?

Die Frauen sind demografisch in der Mehrheit. Sie sind auch oft besser in Netzwerke eingebunden. Männer leben öfter nur in Zweierbeziehungen. Ältere Männer sind wettbewerbsorientierter, das kann im Sportverein sein oder in einer Kochgruppe. Interessant ist, dass Männer im Alter eine stärkere Emotionalisierung erleben. Das geschieht zum Beispiel oft, wenn sie Grossväter werden.

Sie sagten, dass viele Angebote erst in Anspruch genommen werden, wenn es nicht mehr anders geht. Verdrängen wir das Älterwerden?

Ein Stück weit schon. Es gibt wenige Menschen, die sich darauf vorbereiten. Viele denken erst an den Umzug, wenn das Treppensteigen nicht mehr geht, der Garten zu viel wird. Oft wäre es sinnvoll, etwas zu ändern, bevor es notwendig ist.

Machen Sie das?

Ich habe schon daran gedacht, aber meine Frau ist nicht begeistert, in eine Alterswohnung zu ziehen. Der Mensch ist eben evolutionsbiologisch kein guter Planer.

Also ist es menschlich, dass wir nicht früh darüber nachdenken.

Ja. Aber dafür gelingt es oft schnell, die neuen Lebensbedingungen zu akzeptieren. Der Mensch ist ein genialer Anpasser.