Clara Ragaz-Nadig kämpfte für den globalen Frieden

Geschichte

Clara Ragaz-Nadig kämpfte für Frieden und Gleichberechtigung unter den Menschen. Im Interview erklärt die Geschlechterforscherin Geneva Moser, was heute noch von ihr nachwirkt.

Geschlechtergerechtigkeit war einer von Clara Ragaz-Nadigs Schwerpunkten in ihrer Arbeit. Sie bezeichnen sich als queer. Was, denken Sie, wäre Clara Ragaz-Nadigs Reaktion darauf?
Geneva Moser: Im Freundeskreis von Clara Ragaz lebten viele Frauen mit Frauen zusammen. Menschen aus dem Umfeld von Clara Ragaz waren an dem Versuch beteiligt, eine Kommune aufzubauen und neue gemeinschaftliche Formen des Zusammenlebens zu finden. Ich vermute, mein Queersein wäre für sie gar kein Thema gewesen. Sie hätte das einfach so stehen lassen.

Der Queer-Community ist es heute dagegen wichtig, wahrgenommen zu werden.
Clara Ragaz betonte immer wieder, wie politisch das Private ist – ein Slogan, den die spätere Frauenbewegung auch vertrat. Die Art, wie wir unsere Beziehungen gestalten und uns auf Augenhöhe begegnen können, ist eine politische Frage. Die Forderung, Frauen hätten sich auf das Häusliche, Private zu beschränken, war für Clara Ragaz inakzeptabel. Sie hat Frauen ermutigt, eigene Themen zu setzen, Meinungen zu äussern, raus aus dem Privaten in die Öffentlichkeit zu gehen.
Ich glaube nicht, dass zwischen ihrer stillen Akzeptanz damals und den Forderungen, die wir heute als LGBTQ-Community stellen, ein Widerspruch besteht. Rechtliche Sicherheit und politische Teilhabe, ein amtliches drittes Geschlecht sind Forderungen, die über das Private hinausgehen und öffentlich debattiert werden müssen.

Für Clara Ragaz’ Arbeit war die Theologie, der Glaube immer auch Richtschnur. Das Reich Gottes verband sie mit einer gerechten Welt und sprach dabei vom «grossen Tempelbau».
Es ging ihr darum, dass unterschiedliche politische Strömungen und Befreiungsbewegungen zusammen gedacht werden. Laut ihr kann es nicht sein, dass die Sozialdemokratie, die Frauen- oder Friedensbewegung ihre eigenen Tempelchen bauen. Wir müssen gemeinsam an einer gerechten Gesellschaft arbeiten. Der grosse Tempelbau ist bei ihr theologisch unterfüttert mit der Idee des Reiches Gottes. Ragaz verstand dieses nicht als etwas, das erst nach dem Tod im Himmel eintritt, sondern als etwas, das sich hier und jetzt verwirklicht. In einem Brief an Emma Pieczynska-Reichenbach schreibt sie: «Wir müssen Gott bei unserer Rettung behilflich sein.»

Welche Rolle spielte dabei ihre «Naturerfahrung», über die sie auch Gedichte verfasste?
Sicher war ihre Heimat Graubünden, der sie verbunden blieb, prägend. Mit ihrem Mann Leonhard formulierte sie eine Schöpfungsethik, in der sie die Verbundenheit von allem mit allem betonen. Für Clara ist die Rolle der Frau, die sie in der Gesellschaft hat, die der Mutter, Altenpflegerin, Arbeiterin, ein zentraler Aspekt, der in die Politik einfliessen muss. Frauen lernen in dieser Rolle, Verbundenheit zu stiften, sind beziehungsorientiert. Aus dieser Verbundenheit müssen politische Entscheidungen erfolgen: Die Werte, welche die Frau den Kindern mitgibt, prägen später auch die Gesellschaft.

Alles, woran Clara Ragaz-Nadig ar-beitete, ist noch immer aktuell. Welches Thema hat Ihrer Meinung nach heute am meisten Priorität?
Die Relevanz von Care-Arbeit. Clara Ragaz sagte klar, die Gesellschaft müsse sich von der Profitwirtschaft hin zu einer Bedarfswirtschaft entwickeln, die die grundlegenden Bedürfnisse aller Menschen deckt. Das ist der ursprüngliche Sinn von Wirtschaft. Dazu gehören für Ragaz bezahlbarer Wohnraum, faire Löhne, ein Anrecht auf Pausen, Erholung und Schutz vor Krieg. Da hat Ragaz ein Umdenken gefordert. Ich finde es erstaunlich, dass sich unter dem Begriff «Wirtschaft ist Care» in der Gegenwart eine globale Bewegung formiert, die genau das einfordert: Eine zukunftsfähige Wirtschaft muss die Fürsorge für Menschen ins Zentrum stellen. 

150 Jahre Clara Ragaz-Nadig

Anlässlich des 150. Geburtstages von Clara Ragaz wird die Stadt Chur den Museumsplatz zwischen der St. Martinskirche und dem Rätischen Mu-seum in «Ragazplatz» umbenennen. Initiiert wurde die neue Namensgebung von der Reformierten Kirche Chur. Die Wanderausstellung «hof-fen.kämpfen.lieben – 150 Jahre Clara Ragaz» gastiert vom 3. August bis 16. September in der Klosterkirche Ilanz.

Geneva Moser, 36

Geneva Moser hat einen Bachelor in literarischem Schreiben, ist Philosophin, Geschlechterforscherin und Co-Redaktionsleiterin der Zeitschrift «Neue Wege». 1906 gründeten sozial, politisch und pazifistisch engagierte Theologen die Zeitschrift, die sich mit den Entwicklungen in Politik, Wirt­schaft, Gesellschaft und Kirche kritisch auseinandersetzt.