Ist die Kirche dem Glauben im Weg?

Kirche

Das Christentum sei nicht am Schwinden. Vielmehr stehe es vor einem Aufschwung. Das westliche Kirchenmodell sei jedoch ein Hindernis, so der deutsche Theologe Alexander Garth.

Die Grosskirchen in der Schweiz und in Europa schrumpfen, die Säkularisierung schreitet voran. Und nun kommt einer, der frisch behauptet, das Christentum stehe vor einem Aufschwung, sogar im längst verweltlichten Europa. Künder dieser Botschaft ist der deutsche evangelische Theologe und Buchautor Alexander Garth. Seine kühne These «Warum der christliche Glaube seine beste Zeit noch vor sich hat» führt er in einem Aufsatz im «Vatican Magazin» aus.

Vom Zwang zur Option

Die Tatsache, dass viele Leute der Kirche den Rücken kehren, sieht Garth im Wesen der Volkskirche begründet. Gemäss diesem Modell gehört jeder Bürger, jede Bürgerin von Geburt an automatisch zur Kirche. Im Gegensatz dazu sei Glaube heute zur Option geworden, zur frei wählbaren Möglichkeit. Garth: «Genügte es früher, einfach mit der Kirche und mit der Gesellschaft irgendwie an Gott zu glauben, brauchen die Menschen heute Gründe für den Glauben und persönliche Zugänge zum Glauben.» Leider habe die liberale Theologie der Grosskirchen in der westlichen Welt den Glauben so entzaubert, dass seine Strahlkraft geschwunden sei, «ohne Wunder, ohne Mysterien, ohne das Hereinbrechen des Göttlichen in unsere Lebenswelt».

Die libarele Theologie hat den Glauben entzaubert.
Alexander Garth

Garth empfiehlt deshalb den Kirchen, das «Betriebsmodell Volkskirche» umzubauen und sich wieder – auch wenn es für einige «schrecklich evangelikal» klinge – auf die Verkündigung der apostolischen Botschaft zu besinnen. Ein Mensch, der sich bewusst für den christlichen Glauben entscheide, «wird diesen authentischer und begeisternder leben und verkündigen». Eine Utopie? Garth verneint – und verweist auf den Aufschwung der christlichen Religion, die «in unvorstellbarem Ausmass in Asien, Afrika und Südamerika» boome.

«Kirche bleibt in der Mitte»

Für David Plüss, Professor für Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie an der Universität Bern, greift die Fundamentalkritik an der Volkskirche zu kurz. Zwar sagt auch er: «Die Säkularisierung in Europa ist ein klarer Megatrend.» Auf der anderen Seite bedeute dies aber nicht, dass die Volkskirche aus der Mitte der Gesellschaft verschwinde. Zumal der Begriff «Volkskirche» gerade nicht mit der obrigkeitlichen «Staatskirche» gleichzusetzen sei. Die Volkskirche sei theologisch breit aufgestellt, unabhängig vom Staat und basisorientiert, kurz: eine offene Kirche für alle.

Die Volkskirche wird als Kitt der Gesellschaft wahrgenommen.
David Plüss

«Studien zeigen: Sogar säkularisierte, also kirchenferne Christinnen und Christen sind mehrheitlich der Ansicht, dass es eine breit verankerte Kirche braucht, auch wenn sie selbst deren Angebote kaum nutzen», sagt Plüss. Mit ihrer sozialdiakonischen Arbeit, dem ethischen Gewissen und der gelebten Spiritualität werde die Volkskirche als Kitt der Gesellschaft wahrgenommen und entsprechend mitgetragen. Zumal von einer blutleeren liberalen Theologie, wie sie Alexander Garth kritisiere, wenig zu spüren sei.

Im Gegenteil: «Wenn ich mich unter den Pfarrerinnen und Pfarrern im Kanton Bern umsehe, erblicke ich engagierte Leute, die viel vom gelebten biblischen Geist in ihre Gemeinden tragen.» Im Übrigen seien laut einer Untersuchung bloss 2 bis 5 Prozent der Bevölkerung an einer sehr verbindlichen Form von Frömmigkeit interessiert. «Wer sie sucht, findet sie schon heute.»

Somit sieht David Plüss die Zukunft der Volkskirche nicht grundsätzlich gefährdet. Auch wenn die Grenze von der Mitgliedschaft zur Nichtmitgliedschaft heute schmal sei. Und die Menschen gute Gründe brauchten, um der Kirche treu zu bleiben.