Recherche 28. Juni 2022, von Rita Gianelli, Felix Reich

«In der Kirche hat vieles Platz, auch die Wunden»

Ökumene

Joseph Maria Bonnemain ist seit einem guten Jahr Bischof von Chur. Der Mediziner und Priester spricht über den Gesundheitszustand des Bistums und das Ringen um den Verhaltenskodex.

Sie sind seit gut einem Jahr Bischof von Chur. Welche Bilder kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an diese Zeit zurückdenken?
Joseph Maria Bonnemain: Ich erinnere mich zunächst an die Firmungen, die ich machen durfte, die Begegnungen mit den Jugendlichen. Oder wie ich kurz vor Weihnachten und am Karfreitag mit Schwester Ariane an der Zürcher Langstrasse unterwegs war. Die seelsorgerlichen Gespräche mit Flüchtlingen, Prostituierten und Drogenabhängigen haben mich tief beeindruckt. Hinzu kommt das geschwisterliche Unterwegssein in der Bischofskonferenz. Für mich ist das viel Neuland, ich bin auf einer Entdeckungsreise.

Nach Ihrer Bischofsweihe sprachen Sie die Konflikte an zwischen Bistumsleitung und Körperschaften unter Ihrem Vorgänger: Zu viel davon habe «die Diözese krank gemacht, diese Krankheit muss geheilt werden». Wie weit ist der Heilungsprozess vorangeschritten?
Offensichtlich sind wir noch nicht sehr weit gekommen. Als Mediziner kenne ich ganz heimtückische Hautkrankheiten. Auch Wunden, die vermeintlich verheilt sind, müssen sorgfältig gepflegt werden, sonst brechen sie wieder auf.

Der Verhaltenskodex hat den Graben zwischen Konservativen und Progressiven bereits wieder aufgerissen. Dahinter steht der Streit rund um Fragen der Sexualmoral. Denken Sie, dass diese Wunden bald vernarben werden?
Nein. Ich habe vielmehr die Hoffnung, dass wir erkennen, dass diese Wunden zum Leib Christi gehören. Auch der auferstandene Christus war verwundet. Das ist für mich ein Bild, dass wir geschwisterlich miteinander unterwegs sein und akzeptieren müssen, dass in der Kirche vieles Platz hat, auch die Wunden.

Der Verhaltenskodex, den Sie lanciert haben, sagt aber deutlich, was in der Kirche keinen Platz hat.
Wir befinden uns in einem Prozess. In der zweiten Jahreshälfte führen wir zahlreiche Informationsveranstaltungen durch. Kritiker können dort ihre Bedenken äussern. Die Präventionsmassnahmen gegen möglichen Missbrauch sind unbestritten, und das ist entscheidend. Der Verhaltenskodex wurde aus der Überzeugung heraus verfasst, dass alle Mitarbeitenden, vom Sigristen bis zum Priester, Macht als Verantwortung und als Dienst verstehen sollen. Dieser Kulturwandel auf allen Ebenen ist nötig, damit Macht nicht mehr missbraucht wird.

Verfügen Sie als Bischof über die Macht, um den Kodex umzusetzen?
Wenn ich den Kodex durchsetze, indem ich mit Konsequenzen drohe, verletze ich selbst die Regeln. Ich muss motivieren, überzeugen, die Menschen gewinnen, statt auf Macht zu setzen.

Joseph Maria Bonnemain, 73

Im Februar 2021 wurde Bonnemain von Papst Franziskus zum Bischof von Chur ernannt, zuvor hatte das Domkapitel auf sein Wahlrecht verzichtet. Der in Barcelona geborene Bonnemain ist Mitglied des Opus Dei. Vor der Karriere in der Kirche studierte er Medizin. Er war als Spitalseelsorger tätig und zuletzt als Bischofsvikar zuständig für die öffentlich-rechtlich anerkannten Körperschaften.

Ist auch die konfessionelle Spaltung eine Wunde am Leib Christi, mit der die Christenheit getrost leben kann, oder müssen die Kirchen in der Ökumene daran arbeiten, dass sie sich schliesst?Wir dürfen die Wunde nicht verdrängen. Die Spaltung schmerzt, sie steht im Widerspruch zu dem, was Jesus uns ans Herz gelegt hat. Zugleich dürfen wir darauf vertrauen, dass wir alle zum Leib Christi gehören und uns über die Konfessionsgrenzen hinaus verbunden wissen.

Und wie lautet Ihre Diagnose zum Zustand der Ökumene? 
Sicher muss ich jetzt ehrlich sein.

Unbedingt.
Es gibt viele ermutigende Zeichen. Reformierte und katholische Kirche gehen Herausforderungen gemeinsam an, arbeiten eng zusammen. Wir schätzen einander. Aber für mich geschieht die ökumenische Arbeit zu wenig mystisch. Zu schnell geben wir uns mit der versöhnten Vielfalt zufrieden. Doch wir sollten die Sehnsucht danach haben, dass wir als Christen, die eine persönliche, tiefe Beziehung zu Christus haben, mit allen anderen Christen, die ebenfalls diese Beziehung pflegen, die Einheit finden. 

Auch beim Abendmahl? 
In der Ökumene geht es nicht um das Tun. Es geht um das Sein: dass wir in der Eucharistie erfassen, dass Gott nicht einfach vor 2000 Jahren Mensch geworden ist, sondern dass er in seiner Liebe so weit geht, dass diese Einswerdung mit allem, was menschlich, was irdisch ist, ebenso jetzt geschieht. Die Frage lautet: Glaube ich an diese wirkliche, reale Präsenz Jesu in der Eucharistie? 

Unabhängig von der Konfession? 
Sicher.

Der Verhaltenskodex des Bistums Chur

Die katholische Kirche im Kanton Zürich und das Bistum Chur haben einen Verhaltenskodex zur «Prävention von spirituellem Missbrauch und sexueller Ausbeutung» ausarbeiten lassen. Er soll von allen Mitarbeitenden der Kirche unterschrieben werden. Das 30 Seiten starke Papier brachte dem Bistum viel Lob ein. Der Churer Priesterkreis hingegen übte scharfe Kritik. Er sieht einen Konflikt mit dem Katechismus der katholischen Kirche. So steht im Kodex: «Ich verzichte auf pauschal negative Bewertungen von angeblich unbiblischem Verhalten aufgrund der sexuellen Orientierung.» Der Katechismus bezeichne Homosexualität jedoch als «schlimme Abirrung», erklärten die konservativen Kritiker. Karin Iten, Präventionsbeauftragte des Bistums Chur, konterte: Mit dem Kodex bewege sich die katholische Kirche «weg von diskriminierender Sexualmoral hin zu einer angst-freien Kirche». Bonnemain «bedauerte» darauf gegenüber dem Onlineportal Kath.net, dass Iten sich «über theologische Zusammenhänge geäussert» hat. Den Satz kritiserte wiederum die Zürcher Synodalratspräsidentin Franziska Driessen-Reding: «Dass sich der Bischof auf Druck einiger weniger anonymer Priester öffentlich von unserer Präventionsbeauftragten distanziert, irritiert mich sehr», sagte sie Kath.ch.

Mentari Baumann über den Reformbedarf in der Kirche.

Wäre es nicht endlich an der Zeit, dass die katholische Kirche auch Frauen zum Priesteramt zulässt? Die katholische Kirche braucht vermehrt Frauen, die ihr Priestersein von ihrer Taufberufung ableiten. Das Amtspriestertum der Geweihten steht in erster Linie im Dienste des Priestertums aller Getauften.

Das lässt sich als Mann leicht sagen. Denn die Weihe beruft die Priester nicht nur in den Dienst, sie verleiht ihnen auch Macht.
Den Einwand akzeptiere ich. Aber die Kirche bewegt sich in die richtige Richtung. So hat der Papst jüngst ein Dekret erlassen, das ihm erlaubt, Frauen ins oberste Gremium des Vatikans zu berufen. Jetzt kann eine Frau eine Aufgabe erfüllen, zu der bisher nur Kardinäle Zugang hatten.

Zum Schluss noch ein wenig Prophetie: Werden in 50 Jahren Frauen zu Priesterinnen geweiht?
Es ist eine jahrhundertelange Überzeugung der Kirche, dass der Wille Christi anders ist. Er hat bewusst Männer für das Dienstamt auserwählt. Bis in der Kirche eine andere Überzeugung reifen könnte, braucht es sicher länger.

Welche Überzeugung haben Sie?
Ich anerkenne, dass die katholische Kirche und die ganze Orthodoxie dies als Glaubensgrundsatz betrachten. Ich will dazu keine eigene Meinung haben, sondern bin eins mit der Überzeugung der Kirche.