Sie sind seit gut einem Jahr Bischof von Chur. Welche Bilder kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an diese Zeit zurückdenken?
Joseph Maria Bonnemain: Ich erinnere mich zunächst an die Firmungen, die ich machen durfte, die Begegnungen mit den Jugendlichen. Oder wie ich kurz vor Weihnachten und am Karfreitag mit Schwester Ariane an der Zürcher Langstrasse unterwegs war. Die seelsorgerlichen Gespräche mit Flüchtlingen, Prostituierten und Drogenabhängigen haben mich tief beeindruckt. Hinzu kommt das geschwisterliche Unterwegssein in der Bischofskonferenz. Für mich ist das viel Neuland, ich bin auf einer Entdeckungsreise.
Nach Ihrer Bischofsweihe sprachen Sie die Konflikte an zwischen Bistumsleitung und Körperschaften unter Ihrem Vorgänger: Zu viel davon habe «die Diözese krank gemacht, diese Krankheit muss geheilt werden». Wie weit ist der Heilungsprozess vorangeschritten?
Offensichtlich sind wir noch nicht sehr weit gekommen. Als Mediziner kenne ich ganz heimtückische Hautkrankheiten. Auch Wunden, die vermeintlich verheilt sind, müssen sorgfältig gepflegt werden, sonst brechen sie wieder auf.
Der Verhaltenskodex hat den Graben zwischen Konservativen und Progressiven bereits wieder aufgerissen. Dahinter steht der Streit rund um Fragen der Sexualmoral. Denken Sie, dass diese Wunden bald vernarben werden?
Nein. Ich habe vielmehr die Hoffnung, dass wir erkennen, dass diese Wunden zum Leib Christi gehören. Auch der auferstandene Christus war verwundet. Das ist für mich ein Bild, dass wir geschwisterlich miteinander unterwegs sein und akzeptieren müssen, dass in der Kirche vieles Platz hat, auch die Wunden.
Der Verhaltenskodex, den Sie lanciert haben, sagt aber deutlich, was in der Kirche keinen Platz hat.
Wir befinden uns in einem Prozess. In der zweiten Jahreshälfte führen wir zahlreiche Informationsveranstaltungen durch. Kritiker können dort ihre Bedenken äussern. Die Präventionsmassnahmen gegen möglichen Missbrauch sind unbestritten, und das ist entscheidend. Der Verhaltenskodex wurde aus der Überzeugung heraus verfasst, dass alle Mitarbeitenden, vom Sigristen bis zum Priester, Macht als Verantwortung und als Dienst verstehen sollen. Dieser Kulturwandel auf allen Ebenen ist nötig, damit Macht nicht mehr missbraucht wird.
Verfügen Sie als Bischof über die Macht, um den Kodex umzusetzen?
Wenn ich den Kodex durchsetze, indem ich mit Konsequenzen drohe, verletze ich selbst die Regeln. Ich muss motivieren, überzeugen, die Menschen gewinnen, statt auf Macht zu setzen.