Schwerpunkt 15. September 2022, von Anouk Holthuizen

Endlich ist er nicht mehr unantastbar

Lebensgeschichte

Seit sechs Jahren zieht der Seelsorger Matthias Fischer als Clown durch ein Zürcher Pflegezentrum. Ludwig und die Kunst helfen ihm, ein Trauma zu bewältigen. 

«So, und jetzt links.» Matthias Fischer zieht die Augenbrauen hoch, während er mit einem Schwamm weisse Gesichtsfarbe auf seine Augenlider aufträgt. Es ist ein heisser Sommertag, die feuchte Haut erschwert das Schminken. 
Der 62-Jährige sitzt vor einem Klappspiegel am Tisch in einem Therapieraum des Pflegezentrums Bachwiesen in Zürich. Zuvor ist er in ein gestreiftes T-Shirt, schwarze Bundfaltenhosen und weisse Lederschuhe geschlüpft. Nun fehlen nur noch zwei rote Tupfer auf den Backen, die Clownnase und ein blauer Hut. Als er sich im Spiegel begutachtet, schaut eine Frau zur Tür herein. «Ludwig, bist du bereit?»  

Er nickt. Ludwig ist bereit. In dieser Rolle zieht der reformierte Seelsorger an zwei Nachmittagen pro Monat mit der Aktivierungstherapeutin Dominique Jirat, alias Hulda, durchs Pflegezentrum. In offizieller Mission bringen sie seit 2016 Poesie und Leichtigkeit in den still gewordenen Alltag der rund 150 Bewohnerinnen und Bewohner, von denen die meisten eine Form von Demenz aufweisen.  

Clownerie statt Zen 
Mit Clowns hatte Matthias Fischer früher nichts am Hut. Doch dann nahm er 2011 zufällig an einer Einführung in Clownerie teil, die als Ersatz für ein ausgefallenes Seminar in Zen-Meditation stattfand. Die Erfahrung überwältigte ihn. Während er sich erstmals in einen Clown hineinfühlte, strömte gänzlich unbekannte, sprudelnde Energie durch seinen Körper, und er spürte deutlich: Er wollte nicht länger nur der liebe Gemeindepfarrer sein und Erwartungen erfüllen, sondern aus der Rolle fallen, mit dem Augenblick spielen und sein Gegenüber darin verwickeln.  

So bildete Matthias Fischer sich 56-jährig nach 27 Jahren Pfarramt in Aargauer und Zürcher Kirchgemeinden zum Clown aus, machte eine Weiterbildung in Spitalseelsorge und im Umgang mit demenzbetroffenen Menschen. Die Richtung war klar, er wollte in die Langzeitpflege. Im Jahr 2014 startete er als Seelsorger im Gesundheitszentrum für das Alter Bachwiesen. Inzwischen gibt er selbst Kurse in Clownerie für kirchliche Mitarbeitende und Pflegefachpersonen, die mit Menschen mit Demenz arbeiten. 

Jetzt ziehen Ludwig und Hulda los. Er mit einer Ukulele, sie mit einem grossen Putzwagen mit bunten Staubwedeln, Tüchern, einer Schiffssirene, Jonglierteller und einem rosa Plastikschwein darauf. Sie gehen auf direktem Weg zum Lift und stimmen, während die Türen aufgehen, «Marmor, Stein und Eisen bricht» an. Singend fahren sie in den dritten Stock hinauf.  
Am Morgen hat das Pflegeteam sie gebeten, heute auch Frau F. in ihrem Zimmer zu besuchen. Sie sei sehr unruhig. Unterwegs begegnen die beiden Clowns der Reinigungsfrau, sie fegt den Flur. Mit übertrieben vorsichtigen Schritten tapsen sie an ihr vorbei, die Reinigungsfrau lacht und haut Hulda neckisch mit dem Besen auf den Po. Hulda rennt ihr empört hinterher.  

Eine Puderquaste für die Zähne
Ludwig geht unterdessen zum Zimmer von Frau F. Langsam öffnet er die Tür und schaut hinein. «Hallo?» Frau F. sitzt auf dem Bett. Sie schaut ihn mit zuckendem Mund an und streicht sich nervös durch ihre langen Haare. Als sie kaum merklich nickt, nimmt Ludwig ihr gegenüber auf einem Rollator Platz. Sofort zeigt Frau F. auf ein Foto auf ihrem Nachttisch und sagt: «Tochter, Sohn!» Ludwig schaut es bewundernd an. «Oooohhh!»  

Er entdeckt neben dem Foto eine Puderquaste. Er nimmt sie und tut so, als würde er sich damit bepinseln, auch die Zähne und Achseln. Frau F. kichert. Ein rund 20 Minuten dauerndes Spiel beginnt, in dem Frau F. mit einer Taschenlampe die Rachen der beiden Clowns ausleuchtet und mit Hulda zur Musik von Ludwig hin und her schunkelt. Als die Clowns «Bella ciao» singend ihr Zimmer verlassen, winkt Frau F. ihnen lächelnd nach. Dann nimmt sie wieder das Foto zur Hand. 

Er wollte nicht mehr nur der liebe Gemeindepfarrer sein und Erwartungen erfüllen.

Ludwig lässt nicht nur die Menschen im Pflegezentrum Bachwiesen aufleben. Er ist auch für Matthias Fischer zum heilsamen Alter Ego geworden. In der Rolle des Clowns erlebt er Gefühle, die in ihm schon vor langer Zeit erstickt wurden: Lebenslust und Unbeschwertheit. Ludwig hilft, ein Trauma zu bewältigen, das ihn seit dem Spätsommer 2019 erneut heftig durchschüttelt.  

Am 25. September trat der Bischof von Hildesheim im deutschen Bundesland Niedersachsen vor die Medien und berichtete, dass Priester des Bistums während Jahrzehnten Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht hatten, überwiegend in den 60er- und 70er-Jahren. Man wusste von 153 Opfern, betroffen waren vor allem Knaben. 46 Priester wurden beschuldigt, 36 von ihnen waren inzwischen gestorben. Es wurden keine Namen genannt, aber Matthias Fischer kennt drei von ihnen. Als Kind nannte er einen dieser Priester «Onkel Doktor M.». Der hohe geistliche Würdenträger ging damals in der Wohnung in Braunschweig, in der er mit seinen Eltern und vier Geschwistern lebte, ein und aus. 

Im Zweiten Weltkrieg hatte er Matthias Fischers Vater, der zu der Zeit als 15-Jähriger allein auf der Flucht war, unter seine Fittiche genommen und fortan massgeblich das Schicksal des Heranwachsenden und später dessen Familie bestimmt. Alles, was Matthias Fischer aus seiner Kindheit weiss, stammt aus Erzählungen. Die Erinnerungen an die ersten elf Jahre sind ausradiert. Er weiss nicht mehr, wie die Wohnung aussah, wo er schlief, ass, seine Schularbeiten machte. Nur ein Bild blitzt immer wieder im Kopf auf, auch wenn er gar nicht daran denkt. Dann sieht er für eine Sekunde ganz nah vor sich den Onkel Doktor M. auf einem Stuhl sitzen, nackt. Jedes Mal zieht sich seine Brust zusammen, Abscheu und Ohnmacht durchfluten ihn.  

Das Lied und die Kugel  
Im Essensraum vor Frau F.s Zimmer begegnen Ludwig und Hulda einer Bewohnerin, die im Rollstuhl am Tisch sitzt. Ludwig legt ihr ein Schokoladeherz hin, die Frau schaut mit grossen Augen auf. Sanft stimmt Ludwig ein Lied auf der Ukulele an, während Hulda auf einem Stab den Jonglierteller anschwingt. Auffordernd lächelnd reicht sie der alten Frau den Stab mit dem rotierenden Teller. Diese hält ihn steif von sich weg und schaut zu, wie der Teller langsamer und langsamer wird und schliesslich auf den Boden fällt. «Entschuldigung!», sagt sie, als Hulda mit gespielt empörter Miene den Teller aufhebt. 

Ludwig verwickelt sie sogleich ins nächste Spiel. Er fasst vorsichtig eine Hand der Frau und legt eine durchsichtige Kugel hinein. Geheimnisvoll raunt er: «Darin sehen Sie die Zukunft!» Sie blickt mit zusammengekniffenen Augen hinein und schüttelt nach einer Weile den Kopf. «Ich sehe nichts.» Ludwig nimmt wieder die Kugel und rollt sie langsam über den nackten Arm der Frau. Sie schliesst die Augen und holt tief Atem. «Wunderbar!» Ludwig lächelt still.  

Die Kunst hat ihn befreit  
Im Versuch, seinen Kindheitserinnerungen näher zu kommen, begann Fischer im März 2020 zu malen. Seine vier Kinder, die heute zwischen 24 und 35 Jahre alt sind, hatten ihm zum 60. Geburtstag eine Staffelei geschenkt. Er malte intuitiv drauflos, entdeckte einen beglückenden Rausch, der neue Kräfte freisetzte. Nach einigen Monaten begann er den sexuellen Missbrauch in seiner Kindheit in seiner Kunst darzustellen. Zunächst in Bildern, dann auch in Installationen. Er probierte verschiedene Techniken aus, leerte auch einmal Farbe auf dem Boden aus, drehte sich nackt darin und legte sich auf eine Leinwand. Der Körper, Sexualität, Nacktsein, auch seelisch, wurden in seiner Kunst immer mehr zum Thema, oft überschattet von dem, was sich in seinen ersten Lebensjahren brutal in seinen Körper eingebrannt hatte.  

Die Kunst ist für Fischer zur Befreiung geworden. Sie hat ihm geholfen, die Opferhaltung hinter sich zu lassen und seine Verachtung für die gewalttätigen Menschen und die Institution, die sie geschützt hat, auszudrücken. Unter anderem baute er einen Beichtstuhl, in dessen Zentrum ein Schweinekopf ist, der sich in Dutzenden Spiegeln vermehrt, je tiefer man niederkniet und in die Spiegel schaut.  


Im Winter 2021 beschloss er, nachdem ihn einige Menschen dazu ermuntert hatten, mit seiner Kunst an die Öffentlichkeit zu gehen. Seit Mai werden seine Bilder und Installationen auf Boldern in Männedorf unter dem Titel «Kunst als Widerstand» ausgestellt, für einige Monate verlegte Matthias Fischer auch sein Malatelier dorthin. Gern lässt er sich dort mit Gästen auf Gespräche ein. Mit der Ausstellung will er einen Impuls in der Debatte um sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch im kirchlichen Kontext setzen. Doch längst nicht jedes Werk steht im Zeichen dieses Themas. 

Eine zauberhafte Stunde 
Nach der Runde durch den dritten Stock beschliessen Ludwig und Hulda, sich in der Cafeteria umzusehen. Als sie im ersten Stock aus dem Lift treten, ruft jemand: «Kommt ihr auch zu uns?» Ein altes Ehepaar sitzt vor dem Stationszimmer in grossen Sesseln und winkt die Clowns zu sich. Ludwig ruft Hulda, die bereits ihren Putzwagen in die Cafeteria schiebt. «Huuulda!» In der kommenden Stunde wird sich ein besonderer Zauber auf den kleinen Raum legen.  

Die beiden Clowns stellen sich vor das Ehepaar hin, und Ludwig zieht sich ein Sennechutteli über sein Streifenshirt. Hulda versteht. Gemeinsam stimmen sie «Vo Luzern uf Weggis zue» an. Der Mann singt laut mit, die Frau wiegt den Kopf. Ein Haustechniker kommt vorbei und bleibt grinsend stehen. Als ihm Hulda eine Rassel in Form einer Zitronenpresse in die Hand drückt, fängt auch er an zu singen und rasselt im Takt.

Die Kunst half ihm, die Opferhaltung hinter sich zu lassen und seine Verachtung auszudrücken.

Und plötzlich tanzen alle 
Beim zweiten Lied, dem «Kriminal-Tango», kommen weitere Menschen hinzu. Eine Frau spaziert am Rollator durch den Flur herbei. Eine Pflegerin schiebt einen grimmig dreinblickenden Mann im Rollstuhl heran. Still schaut er zu, wie die Menschen um ihn herum immer ausgelassener werden. Die Pflegerin beginnt mit einem Bewohner ein Tänzchen. Und auch Ludwig bittet eine Frau zum Tanz, abwechselnd lacht und weint sie, während er sie vorsichtig im Kreis dreht.  
Ein Pfleger schwenkt die Arme einer Frau im Rollstuhl hin und her, und der Haustechniker lässt rhythmisch das Plastikschwein grunzen. Irgendwann sind es 13 Bewohner und ein halbes Dutzend Pflegeleute, die nach jedem Lied euphorisch «noch eins!» rufen, bis Ludwig japst: «Ich brauche eine Pause!» 

Stiller Dank an Ludwig
Warum bist du trotz allem Pfarrer geworden? Matthias Fischer muss diese Frage immer wieder beantworten. Nach seinen Erlebnissen mit katholischen Priestern hätte er allen Grund gehabt, sich für alle Zeit vom Glauben zu verabschieden. Die Wut und der Schmerz kamen jedoch erst viele Jahre später auf. Als junger Mann wechselte er die Konfession, doch vor allem, weil er während des Zivildiensts mit einem evangelischen Pfarrer zu tun hatte, der ihm ein Kirchenverständnis näherbrachte, das freier war als «all der katholische Unfug».  
Pfarrer zu sein erschien ihm ein schöner Beruf, vor allem auch deshalb, weil für ihn die Figur des Pfarrers unantastbar schien. Das wollte auch Matthias Fischer sein. Es dauerte lange, bis er sich von diesem Bild befreite und menschliche Nähe als beglückend zu erfahren begann. Ludwig half ihm dabei. 

Als die Clowns zurück im Umkleideraum sind, setzen sie sich erschöpft auf Stühle. Ludwig schüttelt mit geschlossenen Augen den Kopf: «Das waren wieder so schöne Momente!» Nach einer Weile geht er vor den Spiegel. Bevor er sich die Clownnase abnimmt, sagt er zu sich selbst: «Danke.» 

Kunst als Widerstand. Bis 27. November, Boldern, Männedorf, www.tangentiale.com