«So, und jetzt links.» Matthias Fischer zieht die Augenbrauen hoch, während er mit einem Schwamm weisse Gesichtsfarbe auf seine Augenlider aufträgt. Es ist ein heisser Sommertag, die feuchte Haut erschwert das Schminken.
Der 62-Jährige sitzt vor einem Klappspiegel am Tisch in einem Therapieraum des Pflegezentrums Bachwiesen in Zürich. Zuvor ist er in ein gestreiftes T-Shirt, schwarze Bundfaltenhosen und weisse Lederschuhe geschlüpft. Nun fehlen nur noch zwei rote Tupfer auf den Backen, die Clownnase und ein blauer Hut. Als er sich im Spiegel begutachtet, schaut eine Frau zur Tür herein. «Ludwig, bist du bereit?»
Er nickt. Ludwig ist bereit. In dieser Rolle zieht der reformierte Seelsorger an zwei Nachmittagen pro Monat mit der Aktivierungstherapeutin Dominique Jirat, alias Hulda, durchs Pflegezentrum. In offizieller Mission bringen sie seit 2016 Poesie und Leichtigkeit in den still gewordenen Alltag der rund 150 Bewohnerinnen und Bewohner, von denen die meisten eine Form von Demenz aufweisen.
Clownerie statt Zen
Mit Clowns hatte Matthias Fischer früher nichts am Hut. Doch dann nahm er 2011 zufällig an einer Einführung in Clownerie teil, die als Ersatz für ein ausgefallenes Seminar in Zen-Meditation stattfand. Die Erfahrung überwältigte ihn. Während er sich erstmals in einen Clown hineinfühlte, strömte gänzlich unbekannte, sprudelnde Energie durch seinen Körper, und er spürte deutlich: Er wollte nicht länger nur der liebe Gemeindepfarrer sein und Erwartungen erfüllen, sondern aus der Rolle fallen, mit dem Augenblick spielen und sein Gegenüber darin verwickeln.
So bildete Matthias Fischer sich 56-jährig nach 27 Jahren Pfarramt in Aargauer und Zürcher Kirchgemeinden zum Clown aus, machte eine Weiterbildung in Spitalseelsorge und im Umgang mit demenzbetroffenen Menschen. Die Richtung war klar, er wollte in die Langzeitpflege. Im Jahr 2014 startete er als Seelsorger im Gesundheitszentrum für das Alter Bachwiesen. Inzwischen gibt er selbst Kurse in Clownerie für kirchliche Mitarbeitende und Pflegefachpersonen, die mit Menschen mit Demenz arbeiten.
Jetzt ziehen Ludwig und Hulda los. Er mit einer Ukulele, sie mit einem grossen Putzwagen mit bunten Staubwedeln, Tüchern, einer Schiffssirene, Jonglierteller und einem rosa Plastikschwein darauf. Sie gehen auf direktem Weg zum Lift und stimmen, während die Türen aufgehen, «Marmor, Stein und Eisen bricht» an. Singend fahren sie in den dritten Stock hinauf.
Am Morgen hat das Pflegeteam sie gebeten, heute auch Frau F. in ihrem Zimmer zu besuchen. Sie sei sehr unruhig. Unterwegs begegnen die beiden Clowns der Reinigungsfrau, sie fegt den Flur. Mit übertrieben vorsichtigen Schritten tapsen sie an ihr vorbei, die Reinigungsfrau lacht und haut Hulda neckisch mit dem Besen auf den Po. Hulda rennt ihr empört hinterher.
Eine Puderquaste für die Zähne
Ludwig geht unterdessen zum Zimmer von Frau F. Langsam öffnet er die Tür und schaut hinein. «Hallo?» Frau F. sitzt auf dem Bett. Sie schaut ihn mit zuckendem Mund an und streicht sich nervös durch ihre langen Haare. Als sie kaum merklich nickt, nimmt Ludwig ihr gegenüber auf einem Rollator Platz. Sofort zeigt Frau F. auf ein Foto auf ihrem Nachttisch und sagt: «Tochter, Sohn!» Ludwig schaut es bewundernd an. «Oooohhh!»
Er entdeckt neben dem Foto eine Puderquaste. Er nimmt sie und tut so, als würde er sich damit bepinseln, auch die Zähne und Achseln. Frau F. kichert. Ein rund 20 Minuten dauerndes Spiel beginnt, in dem Frau F. mit einer Taschenlampe die Rachen der beiden Clowns ausleuchtet und mit Hulda zur Musik von Ludwig hin und her schunkelt. Als die Clowns «Bella ciao» singend ihr Zimmer verlassen, winkt Frau F. ihnen lächelnd nach. Dann nimmt sie wieder das Foto zur Hand.