Recherche 26. Oktober 2021, von Noah Pilloud

Was die «Christen von rechts» wollen

Populismus

Nicht alle identifizieren sich mit der linksliberalen Haltung mancher Kirchen. Als Reaktion darauf formulieren Vertreter der soge­nannten «Neuen Rechten» ein rechtes Christentum.

Während der Nürnberger Prozesse 1946 berief sich Julius Streicher, Verleger des nationalsozialistischen Hetzblatts «Der Stürmer», auf den deutschen Reformator Martin Luther. Völkisches sowie antisemitisches Gedankengut mit christ­licher Theologie zu verbinden, ist somit nicht neu. Mit dem Aufkommen der sogenannten «Neuen Rechten» seit den späten Neunzigerjahren entstand auch eine neue, rechte Deutung des Christentums. Dieser Strömung widmet sich der Sammelband «Christentum von rechts» aus theologischer Perspektive. In fünf Aufsätzen erklären die Autoren die charakteristischen Grundzüge und Argumentations­muster des «rechten Christentums» und schätzen deren Gefährlichkeit ein.

Kirche im Kampfmodus

Die Autoren des Sammelbands beschreiben das «Christentum von rechts» nahezu durchweg als Gegen­entwurf zum «Mehrheitschristentum». Gemeint ist damit die Haltung der offiziellen evangelischen Kirchen und eines Grossteils der christlichen Zivilgesellschaft. Diese Haltung ist gekennzeichnet durch eine liberale Bibelauslegung, moralisch motiviertes Engagement in gesellschaftspolitischen Bereichen und interreligiösen Dialog.

Johann Hinrich Claussen, Martin Fritz, Andreas Kubik, Arnulf von Scheliha, Rochus Leonhardt: Christentum von rechts. Mohr Siebeck, 2021, 232 Seiten.

Von politisch rechts stehenden Chris­ten wird sie jedoch als verfehlt, moralisierend und politisch ins­­trumentalisiert kritisiert. Damit weist das rechte Christentum Überschneidungen zum konservativen Christentum auf. Auch dort wird Kritik an der politischen Positionierung der Kirchen und explizit christlichen moralischen Standpunkten geäussert. In der «neuen Rechten» werden diese Fragen jedoch zum Anlass, in einen Kulturkampf zu ziehen. Konstruiert wird eine christlich-europäische Identität, die es zu verteidigen gelte.

Im Kulturkampf wird konservative Theologie zu entschieden politisierter Fronttheologie.
Martin Fritz, Co-Autor «Christentum von rechts»

Neurechte Christen, welche am «Mainstream-Christentum» kritisie­ren, dass dieses zu sehr auf die Moral poche, mögen in Teilen recht haben. Doch diesen Vorwurf muss sich das «Christentum von rechts» ebenso gefallen lassen, so die Autoren.

Selektive Auswahl

Zum einen kritisieren die rechten Ideologen, dass die offiziellen Kirchen wegen des christlichen Liebesgebotes eine moralische Pflicht darin erblicken, sich für Geflüchtete einzusetzen. Zugleich fordern sie aber in einer ebenso moralisch aufgeladenen Art und Weise, die «europäische Identität» gegen Einflüsse von aussen zu verteidigen. In die­sem Kulturkampf wird dem Co-Autor Martin Fritz zufolge «konservative Theologie zu entschieden politisierter Fronttheologie».

Manche Vertreter des neurechten Christentums sehen sich in der Tradition der Konservativen Revolution.

Diese Fronttheologie führt zu ei­ner selektiven Auswahl, wenn es um die Frage geht, welche Einflüsse zur christlich-europäischen Identität ge­hören und welche nicht. So rechnet der neurechte Theologe Karlheinz Weissmann der germanisch-heidni­schen Kultur grossen Einfluss auf das Christentum zu, während er das jüdische Erbe als gering erachtet und die Einflüsse der altgriechischen Philosophie gar nicht erst erwähnt.

Gefährliche alte Ideen

Wenn auch das «Christentum von rechts» wählerisch einzelne Aspekte aus der christlichen Tradition herausgreift und seine innere Logik bei genauerer Betrachtung in sich zusammenfällt, ist seine Wirkung nicht zu unterschätzen. Andreas Ku­bik spricht von unterschwelliger Ge­waltbereitschaft in der Rhetorik. Manche Vertreter des neurechten Christentums sehen sich in der Tradition der Konservativen Revolution. Diese Strömung aus der Zeit der Weimarer Republik half, dem Nationalsozialismus den Weg zu bereiten. Eine Denktradition folglich, an deren Ende die eingangs erwähnte Rechtfertigung antisemitischer Het­ze eines Julius Streicher steht.

Von undemokratischen und faschistischen Richtungen sollte man sich klar abgrenzen.
Andreas Kubik, Co-Autor «Christentum von rechts»

Gefühle anerkennen

Ein liberales Christentum, das un­ter­schiedliche Auslegungen zulässt und willkommen heisst, steht nun vor einem Dilemma: Wie soll es mit einer Auslegung umgehen, die sich explizit gegen die eigenen Grundprinzipien we­ndet? Eine Lösung bie­tet Andreas Kubik an: Kirchenpolitisch fordert er eine deutliche Abgrenzung zu undemokratischen Richtungen. Doch in der Seelsorge soll anerkannt werden, dass autoritäre Gefühle und identitäre Sehnsüchte nun einmal vorhanden seien. Diese sollen ernst genommen werden, denn sonst läuft die Kirche Gefahr, dass diese Leute sich abwenden und radikalisieren.