«Ich will überzeugen statt überstimmen»

Kirche

Christina Aus der Au ist neue Kirchenratspräsidentin im Thurgau. Sie will machen statt jammern und kündigt an, dass man ihren Kanton bald mehr spüren wird in der Kirchenlandschaft.

Warum will man eigentlich Kirchenratspräsidentin der Thurgauer Landeskirche werden?

Christina Aus der Au: Gute Frage. Ich wurde angefragt und merkte schnell, dass ich jetzt nicht mehr einfach darüber jammern kann, dass es zu wenige Frauen in Führungspositionen gibt. Nun war mein Engagement gefragt. Zudem bin ich ein Fan der Thurgauer Landeskirche. Und mir liegt dieser Kanton am Herzen. Er gilt zwar als konservativ, aber man kennt sich. Das gefällt mir.

Der Thurgau gilt nicht nur als konservativ, er ist doch auch konservativ.

Natürlich ist der Thurgau ein Landkanton und bürgerlich geprägt. Wir sind nicht radikal. Aber die Kirche ist durchaus innovativ. So hat sie eine Stelle für eine Start-Up-Kirche geschaffen ohne Pflichtenheft, sondern mit dem Auftrag: «Überrasche uns!» Das ist doch mega cool. Zudem haben wir eine Gesprächssynode organisiert und da nicht einfach über Finanzen und Strukturen debattiert, sondern über unsere reformierte Identität. Wir mögen konservativ sein, aber wir sind auch innovativ.

Überraschend deutlich gewählt

Die Synode der Thurgauer Landeskirche wählte am 5. Juli Christina Aus der Au zur neuen Kirchenratspräsidentin. Die Theologin und Hochschuldozentin erhielt im Kirchenparlament 67 Stimmen und entschied das Rennen gegen Paul Wellauer überraschend deutlich für sich. Der Pfarrer von Bischofszell, der von 1996 bis 2009 in Zürich-Altstetten Pfarrer war und drei Jahre als Seelsorger und Projektleiter für das Sozialwerk Pfarrer Sieber arbeitete, bekam 46 Stimmen. Der bisherige Kirchenratspräsident Wilfried Bührer geht in den Ruhestand. Er präsidiert die Exekutive der Thurgauer Landeskirche seit 18 Jahren. Der Wechsel von Bührer zu Aus der Au wird im Juni 2022 vollzogen.

Sie reiben sich nicht am konservativen Profil?

Doch. Ich merke dennoch immer wieder: Es hat für sehr unterschiedliche Menschen Platz in dieser Landeskirche. Wir haben konservative Kirchgemeinden mit einem Profil, das in Richtung evangelikal geht, es engagieren sich auch viele in der freikirchlich geprägten evangelischen Allianz. Zugleich hat zum Beispiel die Kirchgemeinde Kreuzlingen einen Open Place eingerichtet, ein innovativer Ort, wo Randständige willkommen sind. 

Was muss sich in der Thurgauer Landeskirche in Zukunft ändern?

Wir haben eine starke föderalistische Struktur, die Kirchgemeinden geniessen viele Freiheiten. Ich werde mich deshalb hüten, den Kirchgemeinden Vorschriften zu machen. Ich möchte ihnen den Rücken freihalten, damit sie sich auf ihre Aufgabe, Kerngemeinde zu sein, konzentrieren können. Als Landeskirche müssen wir die Menschen im Blick haben, die sich nicht aktiv am kirchlichen Leben beteiligen, aber sich interessieren für unsere Inhalte, vielleicht eher intellektuell. Und wir müssen den Dialog pflegen mit Politik, Kultur und Wissenschaft. 

Ein Ostgipfel kann ein Gegengewicht bilden zu Zürich und Bern.

Woran wird man ausserhalb des Kantons merken, dass der Thurgau eine neue Kirchenratspräsidentin hat?

Man wird den Thurgau mehr spüren. Ich möchte die Zusammenarbeit mit den Nachbarskantonen ausbauen. Wo nötig kann ein Ostgipfel aus Thurgau, St. Gallen, Appenzell, Schaffhausen und vielleicht Graubünden ein Gegenwicht bilden zu Zürich und Bern. Als Grenzkanton müssen wir auch den Kontakt mit unseren deutschen Nachbarn suchen. Wir wollen mitreden und präsent sein. 

Die Kirche wird politischer?

Ja. Aber ich mache keine Parteipolitik. Die Kirche sollte sich für politische und soziale Fragen interessieren und über diese Fragen einen Diskurs aus evangelischer Sicht ermöglichen. Sie muss zeigen, dass sie relevant ist für die Politik, die Gesellschaft, die Wissenschaft. 

Liest man also häufiger Interviews mit Ihnen in der Thurgauer Zeitung?

Da ginge es ja nur um mich. Ich will keine Monologe halten. Ich denke dialogisch. Eine bereits aufgegleiste Tagung zusammen mit der Pädagogischen Hochschule, wo wir aus kirchlicher und bildungspolitischer Perspektive fragen, was wir eigentlich unter Bildung – ein Uranliegen der Reformation! – verstehen, ist ein guter Anfang. 

Ich sehe das Problem nicht, wenn sich zwei Menschen lieben und für ihre Liebe den Segen Gottes erbitten.

Hätte sich der Thurgau in der Debatte um Trauungen für homosexuelle Paare, die in der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) geführt wurde, mit Ihnen anders positioniert?

Ich sehe das Problem nicht, wenn sich zwei Menschen lieben und für ihre Liebe den Segen Gottes erbitten. Tatsächlich finde ich mich da in der Mehrheitsposition in der EKS wieder. Wenn homosexuelle Paare zivilrechtlich heiraten können, sehe ich weder kirchliche noch biblische Argumente, ihnen die kirchliche Hochzeit zu verweigern. 

Im Kirchenrat braucht es zwei ordinierte Pfarrpersonen. Statt dass nun ein Mitglied weichen muss, wird der Kirchenrat einfach auf sechs Mitglieder aufgestockt. Eine kreative Lösung oder ein Kuriosum?

Ich hätte es schwierig gefunden, wenn jemand hätte abgewählt werden müssen, damit ich Präsidentin werden kann. Vielleicht sind wir im Thurgau da etwas harmonisch veranlagt. Wir sind extrem schlank aufgestellt, es gibt keine Landeskirche in unserer Grösse mit nur fünf Exekutivmitgliedern. Ein zusätzliches Mitglied finde ich gar nicht so schlecht. Das tut dem Gremium gut. 

Christina Aus der Au (55)

Die neue Kirchenratspräsidentin ist seit 2013 im Vorstand des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Im Jahr des Reformationsjubiläums vor vier Jahren präsidierte sie den Kirchentag in Berlin und Wittenberg. Einer der Höhepunkt war ihre Moderation eines Gesprächs mit Barack Obama und Angela Merkel in Berlin. Aus der Au schrieb ihre Habilitation über das Menschenbild in Theologie und Neurowissenschaften und arbeitete von 2010 bis 2018 als Geschäftsführerin des Zentrums für Kirchenentwicklung an der Universität Zürich. Seit Februar 2019 ist sie Dozentin für Religion, Ethik und Politik an der Pädagogischen Hochschule Kreuzlingen. Sie sitzt auch im Verwaltungsrat der Alternativen Bank. 

Bedeutet das auch einen Ausbau der Stellenprozente?

Ich denke nicht. Ich möchte meine Stelle an der Pädagogischen Hochschule behalten. Ich werde also als Präsidentin 60 statt 80 Prozent arbeiten. Da werden Stellenprozente frei.

Dass Sie nicht ordinierte Pfarrerin sind, ist kein Manko?

Im Gegenteil. Ich möchte mit meiner Tätigkeit an der Pädagogischen Hochschule bewusst einen Aussenblick bewahren. Da lag wohl auch die grösste Differenz zu meinem Konkurrenten Paul Wellauer, der die Landeskirche eher leiten wollte wie ein Pfarrer seine Gemeinde.

Der Wahlkampf wirkte sehr harmonisch. Täuscht der Eindruck?

Paul Wellauer und ich kennen uns seit der Kantonsschule. Wir haben damals bereits in der Bibelgruppe miteinander diskutiert. Ich schätze ihn menschlich sehr und anerkenne seine Arbeit im Pfarramt und sein grosses Engagement in der Diakonie.

Mit sechs Mitgliedern droht ein Patt bei Abstimmungen. Stimmen Sie bei 3:3 einfach doppelt oder gehen Sie in die Verlängerung?

Hoffentlich vermeiden wir das Elfmeterschiessen. Doppelt stimmen werde ich sicher nicht. Ich vertraue der Kraft des Arguments und will überzeugen statt überstimmen.