Der Entscheid vom 2. November war erstaunlich klar. Mit 49 gegen 11 Stimmen folgten die Abgeordneten des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes den Anträgen des Rats. Sie befürworteten die zivilrechtliche Einführung der Ehe für alle. Und sie empfehlen: Wenn Homosexuelle heiraten dürfen, sollen auch die Landeskirchen in Zukunft Traugottesdienste für homosexuelle Paare ermöglichen.
Die Debatte im Berner Rathaus war kontrovers, aber trotz der aufgeheizten Stimmung im Vorfeld versöhnlich. Aus christlicher Sicht sei die Ehe Mann und Frau vorbehalten, hiess es in zwei Schreiben zuhanden der Abgeordneten.
Sorge um das Kindswohl
Dass die konservativen Gegner der Ehe für alle überstimmt wurden, überrascht Matthias Walder, Pfarrer und Dekan aus Hinwil, nicht. Er ist Mitunterzeichner der gegnerischen Erklärung «Habt ihr nicht gelesen ...?» von 221 Pfarrpersonen und neu Ordinierten. Ihn stört, dass die Ehe für alle in der Kirche «nicht debattiert, sondern nur gepusht wird». Nie sei das zugrundeliegende Problem des Bibelverständnisses ausdiskutiert worden.
Walder lehnt die Ehe für alle ab. Die Gesetzesvorlage werfe Fragen nach dem Kindswohl und der Fortpflanzungsmedizin auf. «Diese betreffen auch heterosexuelle Paare, stellen sich aber verschärft bei homosexuellen.» Darum sei er «für eine restriktive Regelung zugunsten der traditionellen Ehe».
Die aktuelle politische Vorlage will gleichgeschlechtlichen Paaren die Adoption von Kindern ermöglichen. Die Fortpflanzungsmedizin ist freilich ausgeklammert, das Thema soll später geregelt werden.
Walder tut sich schwer, seine Haltung zur Homosexualität zu erklären. Niemand dürfe wegen seiner sexuellen Ausrichtung Unrecht erleiden, sagt er. «Sehr problematisch ist jedoch die ständige unreflektierte Gleichsetzung der Liebe zwischen zwei Menschen mit dem Willen Gottes.» Die Befürworter der Ehe für alle argumentieren, im Namen der Liebe Gottes dürfe die Kirche zwei liebenden Menschen den Segen nicht verwehren.
Ganz anders die von Walder unterzeichnete Erklärung: Für sie ist die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare gar ein Missbrauch von Gottes Namen. Die Bülacher Pfarrerin Yvonne Waldboth ist überrascht von dieser «theologischen Keule». Heiraten sei ein Menschenrecht, so die Pfarrerin, die seit Jahren mit ihrer Partnerin zusammenlebt. Sie führt regelmässig Segnungen für gleichgeschlechtliche Paare durch, wie sie schon seit 20 Jahren möglich sind. «Ich freue mich sehr, bald allen Paaren in der Kirche eine Hochzeitsfeier anbieten zu können.»
Auch Michael Wiesmann freut sich über das Signal des Kirchenbundes in der laufenden politischen Debatte. Der Pfarrer in Buchs für die Gemeinde Furttal ist Mitinitiant des Manifests für die Ehe für alle von 450 Pfarrerinnen und Pfarrern. Die Empfehlung an die Kantonalkirchen sieht er als «angemessene Reaktion auf die Tendenz der Gegner, die Ehe wie in der katholischen Kirche zum Sakrament zu erheben».
Wiesmann findet es richtig, dass Pfarrpersonen nicht gezwungen werden sollen, gleichgeschlechtliche Paare zu trauen, wenn es ihrem Gewissen widerspricht. «Ich wünsche mir mit solchen Kollegen aber eine Diskussion über die Werte, die wir als Kirche vertreten», betont er.
Wie es nun weitergeht, hängt von der Politik ab. Der Nationalrat wird voraussichtlich in der Frühjahrssession 2020 über die Gesetzesvorlage beraten. In der Vernehmlassung haben sich ausser der SVP und der EVP alle Parteien für die Ehe für alle ausgesprochen. Bis zur Volksabstimmung könnte es indes noch zwei Jahre dauern.
Nach dem Ja des Kirchenbundes muss nun jede Kantonalkirche entscheiden, wie sie vorgeht. Die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn planen eine Gesprächssynode. Und die Thurgauer Kirche will nach dem politischen Entscheid debattieren. «Wir sind nicht einfach ein zweites Zivilstandsamt», sagt Kirchenratspräsident Wilfried Bührer.
Stillschweigende Öffnung
Der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller hat sich in der politischen Vernehmlassung für die Gesetzesvorlage ausgesprochen. Die Zürcher Kirche werde die zivilrechtliche Änderung abwarten, sagt er. «Ich gehe davon aus, dass die Kirchenordnung nicht geändert werden muss, sondern die Trauung für gleichgeschlechtliche Paare stillschweigend eingeführt wird.»
Über Homosexualität brauche es keine Diskussion mehr, sagt Müller. «Die Zürcher Kirche hat schon vor 20 Jahren festgehalten, dass Homosexualität und Heterosexualität gleichwertig sind.» Theologische und ethische Debatten seien jedoch nötig zu Fragen der Fortpflanzungsmedizin.