Recherche 30. Januar 2020, von Cornelia Krause

«Hier sollte die Gesellschaft ganz klar eine Linie ziehen»

Abstimmung

Die Schweizer Juden befürworten die Erweiterung der Rassismus-Strafnorm. Für SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner ist das eine Frage des Prinzips.

Warum hat der SIG entschlossen, sich öffentlich für die Erweiterung der Rassismus-Strafnorm auszusprechen?

Jonathan Kreutner: Das ist für uns eine Prinzipienfrage. Die Strafnorm schützt verschiedene Gesellschaftsgruppen. Wir setzen uns ganz grundsätzlich gegen Diskriminierung und Hetze ein, deswegen halten wir diese Erweiterung auch für zielführend.

Sind homosexuelle Menschen tatsächlich besonders schutzbedürftig?

Homosexuelle Menschen sind eine besonders betroffene Opfergruppe. Sie haben über lange Zeit unter massiven Einschränkungen gelitten und sie werden auch heute noch Opfer von Anfeindungen und körperlichen Angriffen. Es schlägt ihnen Hass und Hetze entgegen, wie diese auch Juden immer wieder erleben. Hier sollte die Gesellschaft ganz klar eine Linie ziehen. Die Erweiterung der Strafnorm bietet diese Möglichkeit. 

Warum reicht das jetzige Strafgesetzbuch nicht aus?

Die bestehende Gesetzgebung lässt bislang nur die Ahndung von Angriffen gegen homosexuelle Menschen zu, die konkret gegen eine Person gerichtet ist, nicht aber Anfeindungen, die sich gegen die ganze Gruppe richten. Es braucht diese Erweiterung, damit genau diese Generalisierungen ebenfalls bei homosexuellen Menschen geahnt werden können.

Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) ist für die Ausweitung der Strafnorm, die freikirchlich geprägte Evangelische Allianz ist dagegen. Wie sieht das in der jüdischen Gemeinschaft aus?

Der SIG und die Plattform der liberalen Juden sind die Dachverbände. Beide geben ihre Meinung wieder. Wie auch bei anderen Fragen und bei an anderen Gemeinschaften gibt es Befürworter und Kritiker, das ist sicher auch bei dieser Frage so.

Haben Sie schon Rückmeldungen auf Ihre Position bekommen? 

Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass wir bislang nur positive, wenn auch wenige, Rückmeldungen von der Basis erhalten haben. Das soll nicht heissen, dass es keine Kritiker gibt, sie sind vielleicht nur leise. Der Zuspruch stärkt uns aber den Rücken. Man muss allerdings auch sagen: Wir setzen uns gegen Diskriminierung von Menschen ein und wer innerhalb der jüdischen Gemeinschaft kann da wirklich dagegen sein? Da besteht ein Konsens, selbst wenn es Leute geben sollte, die aus religiöser Sicht vielleicht skeptisch sind.

Gegner der Vorlage warnen vor einer Rechtsunsicherheit und fürchten, dass durch die Erweiterung der Strafnorm das Zitieren gewisser Bibelstellen unter Strafe stehen könnte. Gibt es diese Befürchtung auch bei Ihnen?

Nein, diese Befürchtung habe ich persönlich nicht gehört. Die Rassismus-Strafnorm verbietet das Zitieren von religiösen Texten nicht. Wenn aber die Absicht besteht, mit bestimmten Passagen gegen gewisse Personengruppen öffentlich Hass zu schüren, dann wird die Textstelle Mittel zum Zweck. Das ist dann strafbar. 

Sie schreiben in der Medienmitteilung, die Strafnorm habe sich bewährt. Ist das tatsächlich so? Man hört ja tendenziell, dass Antisemitismus wieder zunimmt? 

Die Strafnorm hat sich absolut bewährt. Seit ihrer Einführung haben jüdische Opfer laut Erhebung der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus rund 250 Anzeigen erstattet und in gut 190 Fällen kam es zu einer Verurteilung. Sie ist ein strafrechtliches Instrument, das uns und anderen Betroffenen die Mittel in die Hand gibt, um gegen Hetze vorzugehen. Sie zeigt auch, dass es für die Meinungsfreiheit Grenzen gibt, eben dort, wo bestimmte Gruppen angefeindet werden. Das heisst natürlich nicht, dass das Problem des Antisemitismus durch diese Strafnorm gelöst wird. Hier braucht es weitere Mittel: Sensibilisierung, Aufklärung, Prävention, das ist ein ganzes Massnahmenpaket. Diese Norm ist ein wichtiger Baustein davon. Sie wird in krassen Fällen gebraucht. Die Verurteilungen setzen ein Zeichen und haben damit auch eine präventive Wirkung. 

Seit diesem Jahr sind Sie Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. Wie verändert sich durch die Ausweitung der Strafnorm die Arbeit in der Kommission?

Ich bin noch neu in der Kommission. Wir hatten noch keine Sitzung in neuer Zusammensetzung. Aber ich denke nicht, dass sich an der Arbeit der Kommission unmittelbar etwas ändern wird.

Worüber am 9. Februar abgestimmt wird

Das Strafgesetz schützt Menschen vor Diskriminierung wegen ihrer Rasse, Religion oder Ethnie. Die Anti-Rassismus-Strafnorm soll auf homo- und bisexuelle Personen ausgeweitet werden. Öffentliche Aufrufe zu Hass und Propaganda, die Betroffene herabsetzen und ihre Würde verletzen, könnten bestraft werden. Bundesrat und Parlament befürworten die Vorlage. EDU, Junge SVP und weitere Organisationen ergriffen das Referendum.

Jonathan Kreutner (41)

Jonathan Kreutner ist Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes und zudem seit Anfang dieses Jahres Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR). Die EKR wurde 1995 vom Bundesrat eingesetzt. Sie befasst sich laut Mandat mit Rassendiskriminierung, fördert eine bessere Verständigung zwischen Personen unterschiedlicher Rasse, Hautfarbe, nationaler und ethnischer Herkunft und Religion und bekämpft jegliche Form von direkter und indirekter Rassendiskriminierung. Auch soll sie einer wirksamen Prävention besondere Beachtung schenken.

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