«Sexualität ist grundsätzlich ein Geschenk Gottes»

Sex und Segen

Die Theologin Stefanie Schardien ist Mitautorin eines Buches über Sexualethik – was sie von Treue, Tabus, von sexuellen Übergriffen und Moralvorschriften hält.

Was ist guter Sex?

Stefanie Schardien: Darauf gibt es wohl viele Antworten. Als Theologin interessiert mich, wie man Sexualität aus evangelischer Sicht verantwortungsvoll leben und gestalten kann. Darüber habe ich zusammen mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein Buch geschrieben. Wir unterscheiden sexuelle Praktiken, die lebensdienlich und begrüssenswert sind, von solchen, die man diskutieren kann, und solchen, die man kritisieren muss.

Welche sind begrüssenswert?

Sexualität wird zu einer tragfähigen Dimension des Lebens, wenn sie zwischen zwei Menschen stattfindet, die verlässlich und treu miteinander leben. Das kann zwischen Mann und Frau, aber genauso etwa zwischen Mann und Mann oder Frau und Frau stattfinden. Entscheidend ist, dass die Partner füreinander Verantwortung übernehmen und sich auch in schwierigen Lebenssituationen liebevoll umeinander kümmern.

Sie wenden sich also gegen wechselnde Partner ode roffene Beziehungen?

Ich habe kein Interesse daran, jemandem moralische Vorschriften zu machen. Die Kirche war über viele Jahrhunderte sexualfeindlich und hat damit auch Leid angerichtet. Ich betrachte Sexualität grundsätzlich als Geschenk Gottes. In unserem Buch versuchen wir, die verschiedenen Formen von Sexualität differenziert zu besprechen und nicht alles in einen Topf zu werfen, wie es die Kirche bisher oft tat.

Und die offenen Beziehungen?

Auch wenn ich grundsätzlich Treue und Verantwortung unterstütze, muss man die Lebensphase berücksichtigen. Klar sollen Teenager und junge Erwachsene manche Sachen ausprobieren und Grenzen austesten. Das ist sexualpsychologisch gesehen sogar sehr wichtig. In Partnerschaften dagegen ist bei einem Seitensprung die Gefahr einfach sehr gross, dass ein Partner oder die Kinder seelische Verletzungen davontragen.

Welche sexuellen Praktiken lehnen Sie nach evangelischem Verständnisab?

Alle Formen von Missbrauch und sexueller Gewalt. Leider hat sich hier auch die Kirche selbst schuldig gemacht, als Pfarrer Abhängigkeitsverhältnisse ausnutzten und Kinder, Jugendliche und Frauen missbrauchten.

Ein Beispiel sexueller Gewalt ereignete sich 2015 in Köln. In der Silvesternacht verübten Gruppen junger Männer zahlreiche Übergriffe auf Frauen.

Was in Köln genau geschah, ist noch nicht aufgeklärt. Auf jeden Fall hat sich dort eine neue Art von Verrohung gezeigt, die niemals hoffähig werden darf. Auch die Neuen Medien spielten eine wichtige Rolle, dank derer sich die Männer regelrecht zusammenrotten konnten.

Offensichtlich sind ein Grossteil der Täter Flüchtlinge aus Nordafrika gewesen.

Auch das ist noch nicht restlos aufgeklärt. Wahrscheinlich waren Menschen aus diesem Kulturkreis dabei, die nicht wissen, wie man in unserer Gesellschaft miteinander umgeht. Hier ist verstärkte Integrationsarbeit nötig. Ich halte es aber für gefährlich zu behaupten, die Täter hätten die Übergriffe verübt, weil sie als Muslime ein schlechtes Frauenbild hätten.

Warum?

Wir wissen nichts über das Verhältnis der Täter zur Religion. Ausserdem leben die nordafrikanischen Flüchtlinge in Deutschland in einer Aus-nahmesituation, in der viel negatives Potenzial aufbrechen kann. Ich möchte nicht wissen, wie sich junge deutsche oder auch junge Schweizer Männer in derselben Situation im Ausland verhalten würden.

Sexuelle Gewalt von Männern an Frauen wird schon in der Bibel beschrieben. Eine brutale Erzählung ist etwa die Vergewaltigung von Tamar, der Tochter des Königs David. Wie sind solche Schilderungen zu lesen?

Bei dieser und anderen Geschichten wird der sexuelle Übergriff verurteilt: Ein solches gewalttätiges Verhalten sei gegen Gottes Willen. Die Bibel ist nicht körperfeindlich. Aber in ihr spiegelt sich gerade in den Erzählungen über Sexualität ein patriarchales Gesellschafts- und Geschlechterverständnis, das uns heute fremd ist.

Istes da überhaupt noch sinnvoll, sich beim Thema Sex auf die Bibel zu beziehen?

Das ist ein Knackpunkt, über den sich konservative und liberale Kräfte in der evangelischen Kirche streiten. Meiner Meinung nach muss man die Bibel ernst nehmen. Man darf jedoch nicht einzelne Stellen herausgreifen und sie gegen Menschen verwenden, wie es zum Beispiel beim Thema Homosexualität fälschlicherweise oft geschah.

Ist Sexualität insgesamt überhaupt wichtig in der Bibel?

Sie ist kein Hauptthema. Natürlich gibt es das berühmte Hohelied, das die Liebe und Lust zwischen Mann und Frau in sexuell aufgeladenen Bildern beschreibt. Aber meistens wird Sexualität im Zusammenhang mit der Sicherung der Nachkommenschaft der Familie, der Stämme, des Volkes oder des Königtums angesprochen. Sie läuft quasi nebenher.

Warum erzählt die Bibel nicht mehr von Lust und Liebe, Küssen und Umarmungen?

Offenbar haben die Autoren der biblischen Schriften Sexualität für die Gottesbeziehung als nicht so wichtig erachtet. Vielleicht reichte es ihnen, dass es Sexualität gibt, und dass uns Gott in allen Höhen und Tiefen darin begleitet. Vielleicht war das Thema aber auch schon damals schambesetzt. Jedenfalls ist die intensive Beschäftigung damit ein Produkt der heutigen Zeit.

Was kann man für ein liebevolles Gestalten der Sexualität, das sich viele Menschen wünschen, aus der Bibel mitnehmen?

Es gibt durchaus Aussagen, die dem heutigen partnerschaftlichen Verständnis von Sexualität entsprechen. Zum Beispiel erzählt der zweite, ältere Schöpfungsbericht davon, dass Gott Adam und Eva füreinander erschaffen hat, damit sie sich gegenseitig unterstützen. Adam jubelt im zweiten Kapitel der Genesis ja sogar, als er Eva zur Seite gestellt bekommt.

Die Kirche dagegen hat über Jahrhunderte den Körper und die Sexualität abgewertet.

Auch das hat biblische Wurzeln. In die Schriften des Apostels Paulus lässt sich eine scharfer Gegensatz von Geist und Fleisch hineinlesen. Lange hat die Kirche darum den Geist oder die Seele als das Gute, den Körper als das Schlechte betrachtet. Erst im Laufe des letzten Jahrhunderts hat die Theologie den «Leib» entdeckt, von dem Paulus ja auch schreibt. Im Leib sind Körper und Geist untrennbar verbunden. So darf dann auch Sexualität zum «guten» Menschsein gehören.

Gibt es heute noch Tabus in der Kirche?

Ja, zum Glück! Ich will nicht mein ganzes Sexualleben im Gottesdienst besprochen haben. Tabus sind auch gut. Sie bedeuten, dass es Bereiche gibt, die mein Privatleben betreffen und nicht angetastet werden. Schlecht sind Tabus, wenn damit sexuelle Gewalt an Menschen verschwiegen wird. Ich glaube, die evangelische Kirche hat in diesem Bereich begonnen, die Geschichte aufzuarbeiten und ihre Schuld anzuerkennen. Heute gibt es viele Anlaufstellen für Betroffene.

Dennoch: Viele meinen, Christinnen und Christen seien punkto Sex verknorzt.

Die öffentliche Wahrnehmung der evangelischen Kirche hat auch damit zu tun, dass die katholische Kirche mit ihrer Sexualmoral sehr deutlich wahrnehmbar ist und die evangelische kaum. Die evangelische Kirche Deutschlands hat sich 1971 letztmals offiziell allgemein zur Sexualität geäussert. Noch 1996 gab sie ein von konservativem Geist geprägtes Papier zur Homosexualität heraus.

Wie waren die Reaktion auf Ihr Buch? Sie stellen Homo- und Heterosexualität als gleichberechtigt dar. Und Sie besprechen verschiedene Erscheinungsformen von Prostitution, Pornografie und Cybersex zwar mit kritischer Grundhaltung, aber differenziert.

Zu letzteren Themen gab es kaum Reaktionen. Böse Mails erhielt ich zum Thema Homosexualität, nachdem ich 2013 die Orientierungshilfe der Kirche zur Familie mitverfasst hatte. Die Reaktionen kamen vorwiegend von älteren Menschen, die mit der kirchlichen Verurteilung von Homosexualität gross geworden sind. Für sie ist es eine riesige Herausforderung, diese Massstäbe nun aufzugeben. Ich habe gespürt, dass manche Schreibende tief getroffen waren. Hinter ihrer Wut verbargen sich starke Gefühle, die man nicht so schnell wegreden kann.

Sie sagen, die evangelische Kirche müsse mehr über Sex und Liebe reden. Wie genau?

Anstatt wie bisher vorwiegend über Sexualmoral zu sprechen, könnte sie Antworten suchen auf Fragen, die viele Menschen beschäftigen: Wie kann Sexualität im Alter gelebt werden, wenn jemand verwitwet ist? Wie in Gefängnissen? Wie kann man auch Menschen mit einer Behinderung auf gute Weise sexuelle Erfahrungen ermöglichen?

Wie lautet Ihre Antwort auf die letzte Frage?

Vor allem geistig behinderten Menschen wurde sexuelle Selbstbestimmung lange Zeit nicht zugestanden. Aus sexualethischer Sicht ist dies problematisch. Man darf diesen Menschen die gute Gabe Gottes nicht vorenthalten. Ausserdem müsste ihnen in den Heimen, in denen sie wohnen, eine Privat- und Intimsphäre eingeräumt werden. In unserem Buch befürworten wir auch die Sexualassistenz, falls diese klare ethische Richtlinien erfüllt. Es ist sehr wichtig, dass diese Situation nicht zum sexuellen Übergriff oder Missbrauch führt.

Stefanie Schardien, 39

Die Theologin ist Pfarrerin bei der Evangelisch-lutherischen Kirche Bayerns. Sie war Juniorprofessorin für Systematische Theologie an der Uni Hildesheim und hat ein Buch über evangelische Sexualethik mitverfasst. Ursprünglich sollte das Autorenteam für die Evangelische Kirche Deutschlands ein Positionspapier zur Sexualität schreiben, doch wurde der Arbeitsprozess vom Rat der EKD eingestellt. Schardien ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Fürth (D).

Uverschämt – schön. P. Dabrock, S. Schardien et al., Gütersloher Verlagshaus 2015

Mehr zu diesem Thema

Wie eine Aussenseiterin zu sich selbst und zu Gott gefunden hat
03. September 2021, von Klaus Petrus/Kirchenbote

Wie eine Aussenseiterin zu sich selbst und zu Gott gefunden hat

Abstimmung zur Ehe für alle: Streitgespräch um das Wohl der Regenbogenkinder
26. August 2021, von Felix Reich, Marius Schären

Abstimmung zur Ehe für alle: Streitgespräch um das Wohl der Regenbogenkinder

Das Segnungsverbot für Homosexuelle aus Rom trifft auf Widerstand. Besonders in Deutschland.
07. Juni 2021, von Christian Kaiser

Das Segnungsverbot für Homosexuelle aus Rom trifft auf Widerstand. Besonders in Deutschland.

Segnung auf der Regenbogenbank als Zeichen der Liebe und der Auflehnung gegen Rom
10. Mai 2021, von Christian Kaiser

Segnung auf der Regenbogenbank als Zeichen der Liebe und der Auflehnung gegen Rom

«Hier sollte die Gesellschaft ganz klar eine Linie ziehen»
30. Januar 2020, von Cornelia Krause

«Hier sollte die Gesellschaft ganz klar eine Linie ziehen»

Meinungsdiktat oder Schutz vor Hetze?
16. Januar 2020, von Felix Reich, Sabine Schüpbach Ziegler

Meinungsdiktat oder Schutz vor Hetze?

EKS für Erweiterung der Rassismus-Strafnorm
14. Januar 2020, von Karin Müller/kirchenbote-online.ch

EKS für Erweiterung der Rassismus-Strafnorm

Reformierte Kirche sagt Ja zur Ehe für Homosexuelle
14. November 2019, von Sabine Schüpbach Ziegler

Reformierte Kirche sagt Ja zur Ehe für Homosexuelle

Zur rechten Zeit der richtige Entscheid
13. November 2019, von Felix Reich

Zur rechten Zeit der richtige Entscheid

Reformierte für Ehe für alle
05. November 2019, von Felix Reich

Reformierte für Ehe für alle

Progressive kontern konservative Erklärung zur Ehe für alle
31. Oktober 2019, von Sabine Schüpbach Ziegler

Progressive kontern konservative Erklärung zur Ehe für alle

Auf Umwegen zum Ja
29. August 2019, von Felix Reich

Auf Umwegen zum Ja

«Locher hat die Debatte dynamisiert»
26. August 2019, von Adriana Schneider

«Locher hat die Debatte dynamisiert»

Eine Antwort, die Fragen offen lässt
17. August 2019, von Thomas Illi

Eine Antwort, die Fragen offen lässt

Gottfried Locher ist klar für Ehe für alle
16. August 2019, von Hans Herrmann

Gottfried Locher ist klar für Ehe für alle

«Die Ehe ist wandelbar»
09. Juli 2019, von Sabine Schüpbach Ziegler

«Die Ehe ist wandelbar»

«So dürfen wir uns nicht aus der Affäre ziehen»
18. Juni 2019, von Felix Reich

«So dürfen wir uns nicht aus der Affäre ziehen»

Evangelische Allianz sorgt sich um Kindeswohl bei Homosexuellen
18. Juni 2019, von Marius Schären

Evangelische Allianz sorgt sich um Kindeswohl bei Homosexuellen

Die Krux der Antirassismusstrafnorm
21. Mai 2019, von Marius Schären

Die Krux der Antirassismusstrafnorm

Jahre voller Scham und Verzweiflung
25. März 2019, von Marius Schären

Jahre voller Scham und Verzweiflung

Röstigraben im Streit um Ehe für alle
08. Januar 2019, von Christa Amstutz Gafner

Röstigraben im Streit um Ehe für alle

Kompromisslos gegen Segen für Homosexuelle
25. Juli 2018, von Sabine Schüpbach Ziegler

Kompromisslos gegen Segen für Homosexuelle

Was die Heilige Schrift wirklich sagt
04. Januar 2016, von Ralph Kunz

Was die Heilige Schrift wirklich sagt

Homosexualität – Reizthema für Pietisten und Südkirchen
08. Juni 2015, von Delf Bucher

Homosexualität – Reizthema für Pietisten und Südkirchen

«Ehe für alle» fordert Kirche heraus
15. Mai 2015, von Sabine Schüpbach Ziegler

«Ehe für alle» fordert Kirche heraus