Recherche 16. Januar 2020, von Felix Reich, Sabine Schüpbach Ziegler

Meinungsdiktat oder Schutz vor Hetze?

Politik

Der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller debattiert mit Marc Jost von der Evangelischen Allianz über die Ausweitung der Anti-Rassismus-Strafnorm.

Was wird besser, wenn das Volk am 9. Februar Ja stimmt?

Michel Müller: Im Einzelfall verändert sich nicht viel, bereits die Kantonsverfassung verbietet Diskriminierung. Überschreiten öffentliche Äusserungen gegen Homo- und Bisexuelle die Grenze zum Hass, werden sie neu nicht mehr toleriert. Leute, die angefeindet werden, sind so besser geschützt, was die gesellschaftliche Atmosphäre verbessert.

Welche negativen Folgen hat die Erweiterung der Strafnorm?

Marc Jost: Es entsteht eine Rechtsunsicherheit. Nicht nur Hassaufrufe werden unter Strafe gestellt, mit dem Diskriminierungsverbot kann ultimative Gleichbehandlung eingefordert werden. Natürlich dürfen Homosexuelle nicht diskriminiert werden. Problematisch ist das Verbot der Ungleichbehandlung von hetero- und homosexuellen Paaren.

Was befürchten Sie konkret?

Jost: Dass homosexuelle Paare uneingeschränkten Zugang zur Fortpflanzungsmedizin und zur Kinderadoption erhalten müssen, weil sie sonst diskriminiert würden.

Das Parlament hat die Fortpflanzungsmedizin in der Vorlage zur Ehe für alle ausgeklammert. Sie warnen nun vor einem Präjudiz?

Jost: Genau. Ebenso kann in der reformierten Kirche ein Pfarrer, der ein homosexuelles Paar nicht trauen will, mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Oder christliche Partnervermittlungsorganisationen dürfen ihre Dienstleistung nicht mehr auf Heterosexuelle beschränken.

Müller: Gerät ein Pfarrer in Gewissensnot, kann er einen Ersatz organisieren. Solche Fragen mögen für Gutachten schreibende Juristen interessant sein, doch sie vernebeln, dass ausgerechnet eine christliche Organisation wie die Evangelische Allianz bedrohten Personengruppen den Schutz verweigern will. Eventuell bestehende Rechtsunsicherheiten werden gegen reale Bedrohungen ausgespielt.

Sind Homosexuelle in der Schweiz wirklich bedroht?

Müller: Noch, oder vielleicht künftig noch vermehrt, ist Schutz nötig. Das Volk kann klarstellen, dass es Hetze gegen Homo- und Bisexuelle ablehnt. Das ist ein wichtiges Zeichen.

Jost: Natürlich gilt es, Hass und Hetze zu bekämpfen. Einzelpersonen sind durch die bestehenden Gesetze aber hinreichend geschützt. ­Eine Lebensweise zu kritisieren, weil auch die Bibel sie ablehnt, ist noch lange keine Hetze.

Sie fürchten, dass mundtot gemacht wird, wer in der reformierten Kirche die Homosexualität kritisiert?

Jost: Den Trend gibt es bereits jetzt.

Müller: Sie projizieren Angstbilder. Kritik ist möglich, aber nicht mit undifferenzierten Hinweisen auf Bibelstellen, die beispielsweise zur Steinigung aufrufen. Das drückt Hass aus und nicht Kritik.

Jost: Ich kenne keine Pfarrperson einer Landeskirche oder einer Freikirche, welche solche Stellen nicht einordnet. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass bestimmte sexualethische Meinungen verbannt werden sollen. Deshalb wäre es falsch, den Schutz nun auf eine Personengruppe mit einem bestimmten Lebensentwurf auszuweiten.

Auch das Anti-Rassismus-Gesetz schützt bestimmte Gruppen.

Jost: In der bisherigen Form befürworte ich das Gesetz ausdrücklich, weil es Menschen schützt, die aufgrund ihrer ethnischen oder reli­giö­sen Zugehörigkeit diskriminiert werden. Vor Gott und dem Gesetz sind alle gleich. Egal welcher Religion, Ethnie oder sexuellen Orientierung. Aber das Ausleben einer sexuellen Orientierung soll kritisiert werden dürfen, ohne dass eine Haftstrafe von bis zu drei Jahren droht.

Müller: Kirchliche Kreise in Osteuropa oder Afrika hetzen vermehrt gegen Homosexuelle. Dass Worten Gewalt folgen kann, erleben wir auch in der Schweiz. Ich verstehe nicht, warum die Evangelische Allianz das Recht, auf Menschen und ihrer Lebensform herumzutrampeln, höher gewichtet als eine Begrenzung der Meinungsfreiheit.

Jost: Das ist eine Unterstellung. Ich sage einzig, dass der gewünschte Schutzeffekt, der in der Realität gering sein wird, die grossen Rechtsunsicherheiten nicht rechtfertigt.

Kommen Bibelstellen, welche die Homosexualität verurteilen, nach einem Ja auf den Index?

Müller: Die Bibel spricht nie von Homosexualität, sie kritisiert einzelne Handlungen. In der Bibel stehen ja  auch andere problematische Hassbotschaften. Als Kirche haben wir nicht das Recht, sie einfach wiederzugeben. Es liegt vielmehr in unserer Verantwortung, uns davon zu distanzieren, wenn sie dem Geist des Evangeliums widersprechen.

Jost: Ein Rechtsgutachten zeigt, dass bereits das Zitieren unter Strafe stehen könnte. Zudem definieren tendenziell jene Personen, die sich diskriminiert fühlen, was Hass und Diskriminierung ist.

Müller: Manchmal fühlen sich Menschen allzu schnell als Opfer. Aber zuerst jenen zuzuhören, die sich diskriminiert fühlen, ist durchaus christlich. Ich vertraue unseren Gerichten, dass sie danach objektiv feststellen, ob tatsächlich eine Diskriminierung vorliegt. Der bestehende Antirassismus-Artikel wird sehr zurückhaltend angewendet, die Meinungsfreiheit behält grosses Gewicht. Das wird auch nach ­einer Erweiterung so bleiben.

Evangelische Allianz und reformierte Kirche gerieten schon in der Debatte zur Ehe für alle aneinander. Bleiben Verletzungen zurück?

Müller: Verletzungen entstehen da, wo der Gegenseite der Glauben abgesprochen wird. Dass es unterschiedliche Vorstellungen von Ehe gibt, kann ich nachvollziehen. Kein Verständnis habe ich dafür, dass man sich aus christlichen Motiven dagegen wehren kann, dass Menschen vor Hetze geschützt werden.

Jost: Die Zusammenarbeit wurde auf eine Probe gestellt. Ich fordere lediglich die Toleranz ein, Lebensformen aus biblischer Sicht unterschiedlich bewerten zu dürfen.

Michel Müller (55)

Seit 2011 ist Michel Müller Kirchenratspräsident der reformierten Kirche des Kantons Zürich. Nach dem Theo­logiestudium in Basel war er Pfarrer in Thalwil. 1999 wurde er in die Synode der Zürcher Landeskirche gewählt. Im Jahr vor der Wahl ins Vollamt des Kirchenratspräsidenten präsidierte er seine Fraktion, den Synodalverein.

Marc Jost (45)

Seit 2012 ist Marc Jost Generalsekretär der Schweizerischen Evangelischen Allianz, der Freikirchen und einzelne Gemeinden der reformierten Kirche angehören. Er absolvierte das theologische Seminar St. Chrischona und war Pfarrer des Evangelischen Gemeinschaftswerks in Thun. Für die EVP ist er Grossrat im Kanton Bern.

Worüber am 9. Februar abgestimmt wird

Das Strafgesetz schützt Menschen vor Diskriminierung wegen ihrer Rasse, Religion oder Ethnie. Die Anti-Rassismus-Strafnorm soll auf homo- und bisexuelle Personen ausgeweitet werden. Öffentliche Aufrufe zu Hass und Propaganda, die Betroffene herabsetzen und ihre Würde verletzen, könnten bestraft werden. Bundesrat und Parlament befürworten die Vorlage. EDU, Junge SVP und weitere Organisationen ergriffen das Referendum.

Der Rat der Evangelischen Kirche Schweiz (EKS) befürwortet die Gesetzesänderung: Würden Menschen gezielt herabgesetzt und diskriminiert, verletze dies ihre Würde als Geschöpfe Gottes. Die Evangelische Allianz lehnt die Vorlage ab, sie sei problematisch und überflüssig.

Mehr zu diesem Thema

Wie eine Aussenseiterin zu sich selbst und zu Gott gefunden hat
03. September 2021, von Klaus Petrus/Kirchenbote

Wie eine Aussenseiterin zu sich selbst und zu Gott gefunden hat

Abstimmung zur Ehe für alle: Streitgespräch um das Wohl der Regenbogenkinder
26. August 2021, von Felix Reich, Marius Schären

Abstimmung zur Ehe für alle: Streitgespräch um das Wohl der Regenbogenkinder

Das Segnungsverbot für Homosexuelle aus Rom trifft auf Widerstand. Besonders in Deutschland.
07. Juni 2021, von Christian Kaiser

Das Segnungsverbot für Homosexuelle aus Rom trifft auf Widerstand. Besonders in Deutschland.

Segnung auf der Regenbogenbank als Zeichen der Liebe und der Auflehnung gegen Rom
10. Mai 2021, von Christian Kaiser

Segnung auf der Regenbogenbank als Zeichen der Liebe und der Auflehnung gegen Rom

«Hier sollte die Gesellschaft ganz klar eine Linie ziehen»
30. Januar 2020, von Cornelia Krause

«Hier sollte die Gesellschaft ganz klar eine Linie ziehen»

EKS für Erweiterung der Rassismus-Strafnorm
14. Januar 2020, von Karin Müller/kirchenbote-online.ch

EKS für Erweiterung der Rassismus-Strafnorm

Reformierte Kirche sagt Ja zur Ehe für Homosexuelle
14. November 2019, von Sabine Schüpbach Ziegler

Reformierte Kirche sagt Ja zur Ehe für Homosexuelle

Zur rechten Zeit der richtige Entscheid
13. November 2019, von Felix Reich

Zur rechten Zeit der richtige Entscheid

Reformierte für Ehe für alle
05. November 2019, von Felix Reich

Reformierte für Ehe für alle

Progressive kontern konservative Erklärung zur Ehe für alle
31. Oktober 2019, von Sabine Schüpbach Ziegler

Progressive kontern konservative Erklärung zur Ehe für alle

Auf Umwegen zum Ja
29. August 2019, von Felix Reich

Auf Umwegen zum Ja

«Locher hat die Debatte dynamisiert»
26. August 2019, von Adriana Schneider

«Locher hat die Debatte dynamisiert»

Eine Antwort, die Fragen offen lässt
17. August 2019, von Thomas Illi

Eine Antwort, die Fragen offen lässt

Gottfried Locher ist klar für Ehe für alle
16. August 2019, von Hans Herrmann

Gottfried Locher ist klar für Ehe für alle

«Die Ehe ist wandelbar»
09. Juli 2019, von Sabine Schüpbach Ziegler

«Die Ehe ist wandelbar»

«So dürfen wir uns nicht aus der Affäre ziehen»
18. Juni 2019, von Felix Reich

«So dürfen wir uns nicht aus der Affäre ziehen»

Evangelische Allianz sorgt sich um Kindeswohl bei Homosexuellen
18. Juni 2019, von Marius Schären

Evangelische Allianz sorgt sich um Kindeswohl bei Homosexuellen

Die Krux der Antirassismusstrafnorm
21. Mai 2019, von Marius Schären

Die Krux der Antirassismusstrafnorm

Jahre voller Scham und Verzweiflung
25. März 2019, von Marius Schären

Jahre voller Scham und Verzweiflung

Röstigraben im Streit um Ehe für alle
08. Januar 2019, von Christa Amstutz Gafner

Röstigraben im Streit um Ehe für alle

Kompromisslos gegen Segen für Homosexuelle
25. Juli 2018, von Sabine Schüpbach Ziegler

Kompromisslos gegen Segen für Homosexuelle

«Sexualität ist grundsätzlich ein Geschenk Gottes»
28. Januar 2016, von Sabine Schüpbach Ziegler

«Sexualität ist grundsätzlich ein Geschenk Gottes»

Was die Heilige Schrift wirklich sagt
04. Januar 2016, von Ralph Kunz

Was die Heilige Schrift wirklich sagt

Homosexualität – Reizthema für Pietisten und Südkirchen
08. Juni 2015, von Delf Bucher

Homosexualität – Reizthema für Pietisten und Südkirchen

«Ehe für alle» fordert Kirche heraus
15. Mai 2015, von Sabine Schüpbach Ziegler

«Ehe für alle» fordert Kirche heraus