Recherche 25. März 2019, von Marius Schären

Jahre voller Scham und Verzweiflung

Homosexualität

Mit «Ehe für alle» ist das Thema hochaktuell. Doch wie geht es Menschen, die ihre Sexualität in ihrer Gemeinschaft nicht leben können? Ein Betroffener erzählt.

Blickt er zurück, sagt Roland Weber so einfach wie umfassend: «Ich bin nicht verbittert durch all mein Erlebtes. Ich bin angekommen und ein geliebtes Kind Gottes. Wichtig ist, was wir erleben und was wir von Herzen tun und sind.» Dabei hätte der 47-jährige, im Kanton Bern lebende Sachbearbeiter nicht wenige Gründe, verbittert zu sein. So hat er über längere Zeit intensive «Seminare» absolviert, aber sie endeten nicht so, wie es ihm versprochen worden war. Roland Weber ist immer noch schwul.

Bei den Versuchen, die sexuelle Orientierung zu verändern, war er schon 27 Jahre alt. «Bis dahin habe ich viele Jahre voller Scham, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung gelebt», sagt Weber. Denn in seiner Familie war Sexualität kaum Thema. Und wenn, dann erfuhr er «Männer-Lügen», wie er heute sagt: Ein Mann kann alles, zweifelt nie, weint nie. Ein Mann muss kämpfen und ist nie Opfer. Und zu Hause sei über Randgruppen hergezogen worden, am meisten über Schwule.

Kurse frisch aus den USA

Weber war sich ab etwa 13 bewusst, dass ihn Männer mehr interessieren als Frauen. Doch er ging in die Pfingstgemeinde, wo in diesem Thema keine Offenheit herrschte. So war er noch nicht bereit, seine Orientierung zu akzeptieren, sondern versuchte, sie zu verändern.

Zum Angebot von «Living Waters» gelangte er über die Sendung «Fenster zum Sonntag». «Die Kurse kamen frisch aus den USA», sagt Weber. Grundlage waren die Kernsätze der Ex-Gay-Bewegung: Schwul wird, wer einen abwesenden Vater und eine überbehütende Mutter hat. Beten, lesen, Gruppenarbeiten sollten die jungen Männer verändern. Ausserhalb sollten sie möglichst wenig Kontakte pflegen. Er habe zwar einiges über sich gelernt, räumt Weber ein. Aber das Versprechen, he­terosexuell zu werden, wurde nicht Realität. «Ich stürzte in eine riesige Glaubenskrise. Und als ich sagte, ich sei immer noch gleich schwul wie zuvor, liessen mich die Leiter fallen wie eine heisse Kartoffel.»

Endlich ein Anker

Bald darauf erfuhr er vom «Zwischenraum», einer offenen Gruppe homosexueller Christen und Christinnen. Wie für viele andere wurde die Gruppe für Weber nach den schweren Jahren zu einem Anker. Zwischenraum sieht sich nicht als Gemeinde oder Kirche. «Für mich selbst wurde er das trotzdem fast», sagt Roland Weber lächelnd. Leider komme es nicht häufig vor, dass jemand wieder in eine Gemeinde zurückfinde. Das Gefühl, sich wieder wohl zu fühlen in einer Gemeinschaft, vermisst er selbst auch.

Die Berner Regionalgruppe trifft sich unter anderem zu Gesprächsrunden. «Wir reden über Bibelstellen, beten und diskutieren, was uns bewegt», sagt Weber. Nicht Theologie stehe im Zentrum, sondern Beziehungen. Politisch aktiv ist Zwischenraum nicht. Die «Ehe für alle» befürworteten zwar die meisten, vermutet Weber – aber nicht alle. Er selbst ortet keinen Widerspruch zur Bibel. In seiner niedergeschriebenen Lebensgeschichte formuliert er zu verschiedenen oft vorgebrachten Bibelzitaten Fragen. Eine davon lautet: «Bist du einverstanden damit, dass es unfair ist, die Bibel zum Thema Homosexualität wörtlich zu nehmen, aber im Hinblick auf die Wiederverheiratung von Geschiedenen oder Unterordnung der Frau nicht?»

Filmtipp
«Boy Erased – Der verlorene Sohn», mit Nicole Kidman und Russel Crowe, Regie Joel Edgerton, läuft zurzeit noch in einigen Kinos.

Buchhinweis
Jeremy Marks: «Echt schwul – Echt Christ». Bezugsmöglichkeit über Roland Weber: webermail@gmx.ch

 

Ein Raum für Gläubige

Der Verein «Zwischenraum» – es gibt ihn auch in Deutschland – ist gemäss dem Co-Präsidenten Roland Weber in fünf autonomen Regionalgruppen organisiert. Er richtet sich vor allem an homosexuelle Christinnen und Christen, die aus freikirchlichen und evangelikalen Gemeinden stammen. Monatliche Treffen bilden das Rückgrat.

www.zwischenraum-schweiz.ch

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