Recherche 08. Januar 2019, von Christa Amstutz Gafner

Röstigraben im Streit um Ehe für alle

Gesellschaft

Das Parlament arbeitet an einem Gesetz, das gleichgeschlechtlichen Paaren die zivile Ehe ermöglichen soll. Die refor­mier­ten Kirchen sind in der Frage uneinig.

Als der reformierte Pfarrer Klaus Bäumlin 1995 in Bern ein schwules Paar traute, war der Medienwirbel gross. Kürzlich erhielt Bäumlin von der Universität Bern die Ehrendoktorwürde. Am selben Tag fand in Bern eine Tagung zum Thema Ehe für alle statt.

Ob die reformierten Kirchen immer noch eine Vorreiterrolle ein­neh­men, ist fraglich. Längst nicht alle Reformierten sagen so deutlich Ja zur zivilen Ehe für gleichgeschlechtliche Paare wie der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller. Für den Vater eines homosexuellen Sohns ist klar: «Ich kann nicht von der uneingeschränkten Liebe Gottes zeugen und zugleich Menschen mit anderer sexueller Orientierung ausschliessen.» Müller tut sich auch nicht schwer mit der kirchlichen Trauung für alle. Man könne in der Kirchenordnung den Ehebegriff problemlos ausweiten.

Familienbilder im Wandel

Auch die Rechtskommission des Parlaments will die Ehe für alle. Der Gesetzesentwurf wird im ersten Halbjahr 2019 in die öffentliche Vernehmlassung kommen. 2006 hat das Stimmvolk schon die eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare angenommen. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) sprach sich ebenfalls dafür aus. Zur Abstimmung kam es, weil die EVP und die EDU das Referendum ergriffen hatten. Schon damals zeigten sich Gräben innerhalb der Reformierten.

Um die Ehe für alle, mit der bestehende Ungerechtigkeiten zum Beispiel im Erbrecht oder bei der Hinterlassenenrente beseitigt werden sollen, möglichst schlank durchzu­bringen, will die Politik etappenweise vorgehen. Mit dem jetzigen Gesetzesentwurf wird nur der Zugang zur Ehe – und damit automatisch zur Adoption gemeinsamer Kinder – eröffnet. Die Angebote der Fortpflanzungsmedizin sind davon ausgeschlossen. Ohne zusätzliche Gesetzesänderung dürfen lesbische Paare auch weiterhin die offiziellen Samenbanken nicht nutzen. Und die Leihmutterschaft ist in der Schweiz sowieso verboten.

Fragen zur Ritualpraxis

Der Kirchenbund wird Gelegenheit haben, an der Vernehmlassung über die Ehe für alle teilzunehmen. Dass es nicht um Fortpflanzungsmedizin geht, dürfte ihm die Positionierung erleichtern. Denn ihr gegenüber sind die Kirchen kritisch eingestellt, das zeigte sich in mehreren Abstimmungen, die bisher nur heterosexuelle Ehepaare betrafen.

Derzeit befasst sich beim SEK die Arbeitsgruppe «Familie, Ehe, Partnerschaft, Sexualität» mit dem Thema Ehe für alle. Die Ergebnisse zuhanden der Abgeordnetenversammlung im Juni würden dem Rat bald vorliegen, sagt Daniel Reuter, Leiter der Arbeitsgruppe und Vizepräsident des SEK. Er geht davon aus, dass der Rat auch unabhängig von der Abgeordnetenversammlung auf die Vernehmlassung antwortet, sollte die Zeit knapp werden. «Was wir im Juni sicher gemeinsam diskutieren müssen, sind die Folgen der gleichgeschlechtlichen Ehe für die kirchliche Ritualpraxis.»

Protest gegen Segnungsfeiern

Die Diskussion dürfte schwierig werden, denn unter den Mitgliedkirchen klafft ein kultureller Graben. Während schwule und lesbische Paare in der Deutschschweiz und im Tessin ihre Beziehung mit einer Segensfeier besiegeln können, ist diese in der Romandie nur im Kanton Freiburg und im Jura möglich. Die Waadtländer Synode hat zwar 2012 Ja gesagt zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare. Der Protest war aber so gross, dass es bisher bei einem Fürbittegebet im normalen Gottesdienst blieb.

Der Synodeentscheid war mit ein Grund, warum sich vor zwei Jahren im Waadtland die innerreformierte Erneuerungsbewegung «R3» bildete. In ihrem Manifest halten die Pfarrpersonen fest, dass für sie «aus Respekt gegenüber den biblischen Texten» die Segnung homosexueller Paare nicht infrage kommt.

Kirche als «Morallabor»

Den Röstigraben nimmt beim SEK auch das Institut für Theologie und Ethik in den Blick. Es befasst sich vor allem mit der Segenstheologie, etwa, inwiefern sich das calvinistische Verständnis vom zwinglianischen unterscheidet.

Obwohl die Politik die Fort­pflan­zungsmedizin vorerst aussen vor lässt, findet es Frank Mathwig wich­tig, dass die Kirchen darüber streiten. In biotechnologischen Debatten gehe es um zentrale Themen des Menschseins: Wie wollen wir zusammenleben, wo liegen die Grenzen der Machbarkeit, was ist gerecht? «Hier können die Kirchen der Gesellschaft als Morallaboratorium dienen.»

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