Vor den Sommerferien gab sich der Kirchenbund SEK in Bezug auf die «Ehe für alle» sehr zurückhaltend. Jetzt plötzlich der Gesinnungswandel. In einem Interview begrüsst Gottfried Locher ausdrücklich die Initiative. Was ist passiert?
Sabine Brändlin: Von einem «Gesinnungswandel» kann nicht die Rede sein. Fakt ist, dass Gottfried Locher in diesem Interview einen sehr persönlichen Diskussionsbeitrag geleistet hat. Damit hat er sicherlich eine Debatte, die seit geraumer Zeit am Laufen ist und Zeit braucht, dynamisiert, ohne aber die Entscheidungsfindung im Rat und im Kirchenparlament vorwegzunehmen. Der Rat wird Ende August seine Position beschliessen und der Abgeordnetenversammlung im November eine Vorlage zur «Ehe für alle» unterbreiten.
Gottfried Locher sagt, die Homosexualität entspreche Gottes Schöpfungswillen. Weicht die persönliche Meinung Lochers von der Grundhaltung der Abgeordnetenversammlung ab?
In der Grundhaltung gibt es keine Diskrepanz: Die Abgeordneten haben bereits an ihrer letzten Versammlung klar festgehalten, dass sie die sexuelle Orientierung als Ausdruck von Gottes Schöpfungswille betrachten. Darin zeigt sich eine Haltung zur Homosexualität, die einbezieht und nicht ausgrenzt. Die Aussagen von Gottfried Locher bekräftigen die Positionierung der Abgeordneten.
Gottfried Locher betont, dass die Frage der Homosexualität keine Glaubensfrage sei.
Richtig. Gottfried Locher hat mit seiner Aussage zudem eine wichtige Klärung vorgenommen: Im Zentrum der Kirche steht das Bekenntnis zu Jesus Christus. Die kirchlichen Bekenntnisse machen keine Aussagen zur Ehe. Es ist unser Glaube an Jesus Christus, der uns verbindet und uns zu Brüdern und Schwestern in Christus macht. Das ist die Basis der Kirche – eine starke Basis, die unterschiedliche Meinungen und Ehebilder zulässt.
Was sagt die christliche Ethik zum Thema Homosexualität?
Heutzutage äussert sich christliche Ethik genauso wenig zu Homosexualität, wie sie sich nicht zur Heterosexualität äussert. Christliche Ethik geht von einer grundlegenden Gleichwertigkeit der verschiedenen sexuellen Orientierungen aus. Deshalb stellen sich für uns alle dieselben Fragen: Wie leben wir in unseren Ehen Respekt, Verbindlichkeit, Treue und gegenseitige Unterstützung? Wie führen wir eine Ehe, die dem Evangelium entspricht?
Warum tut sich der SEK dennoch so schwer, die Ja-Parole zur Nationalratsvorlage zu beschliessen?
Es ist richtig, dass eine Kirche zuerst eine theologische Aussage macht. Aufgrund dieser Aussage kann sich die Kirche zur staatlichen Angelegenheit äussern. In der Nationalratsvorlage geht es um eine rechtliche Regelung der Ehe. Als reformierte Kirchen stellen sich uns aber Fragen darüber hinaus, die das kirchliche Leben direkt betreffen. Es geht um die Frage der «kirchlichen Trauung für alle». Diese Entscheide sollen sorgfältig getroffen werden.
Haben nicht alle Menschen das Recht auf Gleichbehandlung?
Die Menschenrechte halten die Gleichheit aller Menschen ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder sexuellen Orientierung fest. Dem entspricht theologisch die Vorstellung, dass Gottes Segen allen Menschen in gleicher Weise zukommt. Der Kirchenbund setzt sich in seinen Stellungnahmen seit langem für die Rechtsgleichheit ein.
Ist nicht jede kirchliche Trauung nach reformierten Verständnis eine Segnung?
Ja, im Traugottesdienst bittet man um den Segen für das Brautpaar. Bisher ist die reformierte Kirche der staatlichen Unterscheidung von Ehe und eingetragener Partnerschaft gefolgt. Kirchlich getraut wird nur, wer zivilrechtlich verheiratet ist. Bei eingetragenen Partnerschaften bieten die Kirchen eine Segnung an. Für die Kantonalkirchen stellt sich die Frage, ob sie nach einer allfälligen Einführung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare auf zivilrechtlicher Ebene die kirchliche Trauung für alle einführen wollen. Die Zuständigkeit dafür liegt klar bei den Kantonalkirchen.
Ist eine einheitliche Praxis der Kantonalkirchen notwendig?
Die Abgeordneten werden entscheiden, zu wie viel Einheitlichkeit sie sich in dieser Frage verpflichten möchten. Grundsätzlich liegt die Entscheidung für oder gegen «die Trauung für alle» in der Kompetenz der Kantonalkirchen.
Wird die Debatte um die «Ehe für alle» die Kirche durch den Röstigraben spalten?
Nein, die Abgeordnetenversammlung im Juni hat ein anderes Bild gezeigt. Dort haben sich auch Delegierte aus der Romandie positiv zur Ehe für alle geäussert. Wichtiger als die Frage der geographischen Herkunft scheint die kirchliche Beheimatung und die theologische Verwurzelung zu sein.
Werden sich die Konservativen innerhalb der reformierten Kirche mit einem Ja zur «Ehe für alle» abfinden?
Bei der Frage der Ehe für alle treten Differenzen zutage, die nicht durch Beschlüsse überwunden werden können. Für den Rat des Kirchenbundes ist wichtig, auch nach dem demokratischen Entscheid der Abgeordnetenversammlung gemeinsam Kirche zu sein. Wir brauchen die verschiedenen theologischen Strömungen in unserer Kirche, um das Evangelium überzeugend verkündigen zu können.
In der Bibel wird die homosexuelle Liebe an wenigen Stellen angesprochen. Das Thema ist marginal. Warum hat es trotzdem diese Sprengkraft?
Es stellen sich viele theologische Fragen. Es geht um das Bibelverständnis, um den Umgang mit der kirchlichen Tradition, um das, was für uns dem Evangelium und Gottes Schöpfung entspricht. Es geht um die Frage, ob unser heutiger Umgang mit Homosexualität den biblischen Zeugnissen entspricht oder nicht. Das sind alles wichtige und grosse Themen, die stark bewegen.
Und da sagt der SEK-Präsident klar, Homosexualität entspreche Gottes Schöpfungswille?
Gottfried Locher hat damit die Position der Abgeordnetenversammlung bekräftigt, die besagt, dass wir so von Gott gewollt sind, wie wir geschaffen sind, und dass wir uns unsere sexuelle Orientierung nicht aussuchen können.